17. Generalversammlung 2019 des Vereins „Pestalozzi im Internet“

Neuhof/Birr (AG), 08. Mai 2019

Liebe Freunde und Mitglieder unseres Vereins „Pestalozzi im Internet“,

zuerst möchte ich mich bei unserem Webmaster, Herrn Rainer Grundel, für die gute Zusammenarbeit und die schnelle und sorgfältige Umsetzung aller Veränderungen bedanken. Leider kann Herr Grundel aus beruflichen und familiären Gründen nicht an unserer Generalversammlung teilnehmen. Entschuldigen möchte ich weiterhin unser chinesisches Vereinsmitglied, Herrn Prof. Dr. Gu, leider ist auch ihm keine Anreise möglich. Herr Gu hat in verdienstvoller Weise unsere chinesischen Webseiten erstellt, die bereits zu einer hohen Nachfrage geführt haben.

I.

Im letzten Jahr konnte ich Ihnen nach dem anfänglichen Rückgang der Nutzung nach der Neukonzeption unserer Website einen deutlichen Aufwuchs unserer Benutzerzahlen vermelden. Dieser erfreuliche Trend hat sich im zurückliegenden Jahr fortgesetzt, wir hatten 102.000 Seitenaufrufe bei 48.500 Besuchern. Fast alle Besucher kamen über die Suchmaschine google, und wie in den vergangenen Jahren kamen die weitaus meisten Besucher aus Deutschland, es waren 25.600 und damit mehr als die Hälfte aller Besucher. Deutlich weniger Besucher kamen aus der Schweiz, im ganzen Jahr 4.800, gefolgt von Italien, USA, Österreich, Spanien und Mexiko. Aus Japan hatten wir im zurückliegenden Jahr 492 Besucher und besonders bemerkenswert, aus China kamen 822 Besucher, womit China an neunter Stelle der Herkunftsländer rangierte. Nach längerer Vorlaufzeit konnten im zurückliegenden Jahr auch alle Seiten in türkischer Sprache vollständig auf unserer Website eingebaut werden, wir hatten bereits 150 Besucher aus der Türkei mit insgesamt 250 Sitzungen, Zahlen die sich in Zukunft wohl deutlich erhöhen werden. Eine Zählung der Dateien ist mit dem neuen Design nicht exakt möglich, so können die zahlreichen Anmerkungen nicht separat erfasst werden. Dagegen kann die Zahl der Bilder über die Datenbank gezählt werden, es sind knapp 600. Die Website umfasst damit ohne Bilder und Anmerkungen 1.800 Dateien, darunter italienische (190), englische (127), chinesische (64), spanische (49), französische (41), russische (21), japanische (10) und türkische (ca. 42). Nachgefragt waren vor allem die biographischen Seiten, die Grundgedanken und die Seite zu Zeit, Leben und Werk Pestalozzis mit ihren zahlreichen Linkangeboten. Die häufigsten Suchbegriffe waren ‚Pestalozzi‘, ‚Johann Heinrich Pestalozzi‘, ‚Heinrich Pestalozzi‘, ‚Pestalozzi Biographie‘ und ‚Pestalozzi Pädagogik‘. Bei der Suchmaschine google stehen wir mit diesen Suchwörtern jeweils auf der ersten Ergebnisseite. Im Vergleich mit den Auflagenzahlen wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die bei ca. 800-1.000 liegen, übertrifft die Ausstrahlung unserer Website bei weitem die von gedruckter Literatur über Pestalozzi.

II.

In der Zeitschrift für Pädagogik werden alljährlich die erziehungswissenschaftlichen Promotionen und Habilitationen an deutschen, österreichischen und schweizerischen Universitäten und Hochschulen veröffentlicht. In Heft 4/2018 (S, 533-580) werden 510 Promotionen und 24 Habilitationen aufgeführt. Eine Arbeit über Pestalozzi ist nicht darunter, allgemein wurden nur wenige historische Themen bearbeitet. Diese hatten in der Regel einen begrenzten regionalen oder zeitlichen Bezug, zum Beispiel: „Ars cantandi. Augsburg als Zentrum musiktheoretischer Traktate am Beispiel ausgewählter Gesangslehren vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert“ oder „Das Rütli – ein Denkmal für eine Nation? Zur Dynamik des kollektiven und individuellen Umgangs mit dem Rütli als Denkmal, Mythos und Ritual seit der Bundesstaatsgründung“.

Unter der Rubrik „Wissen“ und dem Ordner „Fachliteratur ab 2003“ konnte ich zwei Rezensionen neu erstellen, die stark gekürzte Einschätzung dieser Werke verbinde ich mit dem Wunsch, auch die ungekürzte Fassung auf der Website einzusehen:

  • Steinke, Ehrenfried:
    Grundzüge der Kulturkritik des jungen Pestalozzi.
    Frankfurt/Main: Fischer 2006, 72 S.

Der Autor beschreibt im ersten Teil den Abfall von den Gesetzen der Alten, in einem zweiten Teil die Ursachen des allgemeinen Staatsverfalls und im dritten Teil geht er unter den Stichworten ‚Maulbrauchen‘, ‚Heuchelei‘ und ‚Neid‘ näher auf diese Ursachen ein. In der „Schlussbetrachtung“ (S. 69-71) kommt Steinke zum Schluss, dass nur durch sozialpolitische, ökonomische und religiöse Reformen bessere Lebensbedingungen für die Bürger erreicht werden könnten. Diese Veröffentlichung hat aber deutliche Schwächen: Die neuere Pestalozzi-Literatur bleibt völlig ausgeblendet, auf die schweizerische Geschichte wird lediglich mit einem Brockhausartikel von1934 verwiesen und die Darstellung der Kulturkritik des jungen Pestalozzi wird weitgehend durch eine Aneinanderreihung von Zitaten vorgestellt, wobei Aussagen zur Einordnung der Kulturkritik des jungen Pestalozzi in dessen gesamtes Lebenswerk fehlen.

Eine andere Qualität hat die Veröffentlichung von Amini:

  • Amini Bijan:
    Johann Heinrich Pestalozzi. Einführung in Leben und Werk.
    Pinneberg: Heseberg 2018, 224 S.

•	Amini Bijan: Johann Heinrich Pestalozzi. Einführung in Leben und Werk. Mit dieser 2018 erschienenen Einführung in Leben und Werk Pestalozzis will der Autor die für heutige Leser oft unverständliche Sprache Pestalozzis durch seine „Dolmetschertätigkeit“ verständlich machen. Dabei fügt er fiktive Dialoge ein, ein Vorgehen, das er als „Psychobiographie“ bezeichnet (S. 11). Nach einer detaillierten Auflistung der einzelnen Bände der wissenschaftlichen Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken und Briefen beschreibt Amini ausführlich den Einfluss des Vaters, des Grossvaters bei Pestalozzis Besuchen in Höngg und den Einfluss der Mutter, der Magd Babeli und der Geschwister auf Pestalozzis Entwicklung. Sehr anschaulich und lesenswert sind die Kapitel „Vater und Weltbild“ (S. 41-75) und „Grossvater und Armenliebe“ (S. 77-125). Im Kapitel „Mutter und Methode“ (S.127-199) geht Amini auf den für Pestalozzi zentralen Schlüsselbegriff „Natur“ ein, wobei Pestalozzi Rousseaus Naturbegriff wörtlich und einseitig auslege und damit die Erziehungswirklichkeit falsch einschätze. Für Pestalozzi stehe nicht das Kind, sondern allein die Sache im Vordergrund, auch die Unterscheidung von tierischem, gesellschaftlichem und sittlichem Zustand ist für Amini allein ein Konstrukt Pestalozzis. Im Schlussteil seiner Veröffentlichung verengt Amini seine Darstellung auf eine Auseinandersetzung mit den Elementarmitteln Schall/Ton, Form und Zahl und kommt zu dem Schluss, dass Pestalozzis Vorstellungen von Erziehung und Bildung in der heutigen Zeit nicht mehr angemessen seien.

Diese interessante und gut lesbare Veröffentlichung von Amini überzeugt vor allem in den Kapiteln, die sich mit dem Einfluss des Vaters, der Familie und den Aufenthalten des jungen Pestalozzis in Höngg bei seinem dort als Pfarrer tätigen Grossvater beschäftigen. Enttäuschend ist allerdings die Verengung allein auf eine Auseinandersetzung mit den von Pestalozzi beschriebenen Elementarmitteln, was der Lebensleistung Pestalozzis nicht gerecht wird. Zwar beschreibt Amini, dass sich bei Pestalozzis Aufenthalten in Höngg Pestalozzis lebenslanges Bemühen, armen und schwachen Menschen zu helfen, entwickelt habe, aber Amini kommt auf diese Seite Pestalozzis nicht mehr zurück. Obwohl es im Titel dieser Veröffentlichung heisst: „Eine Einführung in Leben und Werk Pestalozzis“, findet eine zusammenhängende Vorstellung einzelner Werke nicht statt.

Ich empfehle, die ausführliche Rezension auf der Webseite zu lesen oder selbst die Auseinandersetzung mit dieser Veröffentlichung zu suchen.

Die fortschreitende Digitalisierung älterer bzw. alter Bibliotheksbestände führt zu erstaunlichen Funden. So ist 2013 zum Beispiel Pestalozzis Schrift „Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsinstitute“ in einer eigenen Ausgabe erschienen:

  • Johann Heinrich Pestalozzi:
    Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsinstitute.
    Berlin: Holzinger 2013, 100 S.

 Diese Schrift Pestalozzis aus dem Jahr 1826 ist nicht in der Cotta Gesamtausgabe von Pestalozzis Schriften enthalten, sondern gesondert in Leipzig im Verlag Gerhard Fleischer erschienen. Der vorliegende Nachdruck folgt unverändert dem Druck in Band 27 der Wissenschaftlichen Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken (PSW 27, S. 223-344) und enthält keinen Kommentar und keine Einordnung dieser Schrift in das Gesamtwerk Pestalozzis oder in die Auseinandersetzungen in Yverdon, besonders mit Johannes Niederer, die letztlich zur Auflösung des Instituts in Yverdon führten. Während andere Werke Pestalozzis, z.B. „Lienhard und Gertrud“ von 1781 oder der „Stanser Brief“ von 1799 in unzähligen Neuauflagen erschienen sind, ist die Schrift „Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsinstitute“ erstmals in einem neueren Nachdruck erschienen. Es bleibt die Frage, ob der kommentarlose Nachdruck einer Schrift, die nicht für das gesamte Lebenswerk Pestalozzis steht, und die in Pestalozzis umfangreicher Rezeption zurecht nur wenig Beachtung findet, wissenschaftlich verantwortet werden kann.

III.

Zum Schluss möchte ich Ihnen über ein Detail berichten, das sich aus dem e-mail Verkehr des letzten Jahres ergab, und die enge Verbindung der Textilbearbeitung in der Ostschweiz, dem französischen Mulhouse und dem Zentrum der deutschen Textilverarbeitung in Plauen zeigt. Diese drei Regionen, das südliche Elsass, die Ostschweiz um St. Gallen und das deutsche Vogtland waren bereits im 18. Jahrhundert Zentren der in Heimarbeit betriebenen Handstickerei.

  • Am Anfang stand die Anfrage, ob Josué Heilmann aus Mulhouse ein Zögling in Yverdon gewesen sei. Josua Heilmann (1796-1848) war zusammen mit seinem Bruder in der Tat Zögling in Yverdon. In seinem späteren Leben konstruierte Heilmann 1828/29 die erste Handstickmaschine, die 15 Handstickerinnen ersetzen konnte. Heilmann heiratete in die Fabrikantenfamilie Köchlin ein und sein 1853 geborener Enkel Jean Jacques Heilmann wurde zu einem bedeutenden französischen Eisenbahningenieur. Lokomotiven der Maschinenfabrik Köchlin sind Teil des nationalen Eisenbahnmuseums in Mulhouse. 1957 übernahmen die Brüder Schlumpf die Textilfabrik Heilmann, Köchlin und Desaulles und legten mit ihrer Autosammlung den Grundstock der Cité de l’Automobile, ein teures Hobby, das allerdings zum Niedergang der elsässischen Textilindustrie beitrug. In Mulhouse sind die bis heute weltweit grösste Automobilsammlung und das Eisenbahnmuseum sicher einen Besuch wert.

  • Die von Heilmann entwickelte Handstickmaschine wurde nach Verbesserungen durch Jacob Bartholome Rittmeyer (1796-1848) zur Grundlage der Stickereiindustrie im Kanton St. Gallen, bis 1910 wurden in der Maschinenfabrik St. Georgen ca. 20.000 Handstickmaschinen hergestellt. Zu dieser Zeit waren Stickereien zusammen mit Uhren das wichtigste Exportgut der Schweiz. Noch heute sind die Stickereien aus der Ostschweiz ein wichtiges Element der Bekleidungsstoffe bei der Haute Couture in Paris. Das Textilmuseum in St. Gallen gibt einen Überblick über Muster und Design und im Saurer Museum in Arbon am Bodensee (Kt. Thurgau) finden sich neben den zahlreichen Oldtimern auch historische Stickmaschinen und Webstühle.

  • Auf abenteuerlichem Weg kamen die ersten Stickmaschinen von St. Gallen nach Plauen ins sächsische Vogtland und beförderten dort das Zentrum der deutschen Textilindustrie. Da die Stickmaschinen auf Druck der regionalen Stickfabrikanten nicht ins Ausland ausgeführt werden konnten, war es Albrecht Voigt (1829-1895), der die ersten zwei Stickmaschinen zerlegt und am Zoll vorbei über den Bodensee nach Plauen schaffte und zugleich einen erfahrenen Sticker zur Übersiedlung nach Plauen gewinnen konnte. Voigt baute in Kändler (Ortsteil von Limbach-Oberfrohna) nahe Chemnitz eine eigene Stickmaschinenfabrik auf, die Stickfabrikanten vor allem in Plauen belieferte. Plauener Spitzen hatten in Deutschland einen einzigartigen Ruf, heute ist die Textilindustrie in Plauen immer noch recht stark, sie hat sich vor allem auf Vorhänge und Vorhangstoffe spezialisiert. In Plauen gibt es eine Schaustickerei und ein Spitzenmuseum und Plauen ist heute Sitz der landesweiten Textilausbildung in Deutschland.

 

Meine Damen und Herren,

im kommenden Jahr werden wir den gesamten Webauftritt weiter entwickeln und die Vorstellung neuerer Pestalozzi-Literatur vorantreiben und dazu weitere Rezensionen erstellen. Über Anregungen von Ihrer Seite würden wir uns sehr freuen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit

Prof. Dr. Gerhard Kuhlemann