Rede von Bundesrat Pascal Couchepin

Langenthal, 10. April 2008 

Sehr geehrte Damen und Herren

Warum gedenkt man Reden? Reden, die notabene vor 182 Jahren geschrieben wurden? Und was geht in uns vor, wenn wir im heutigen Kontext die Rede Pestalozzis wieder lesen?

Reden gehören zum jeweiligen Zeitkontext. Nur so kann eine Rede richtig verstanden werden. Doch Reden können auch viel später noch sinngebend sein.

Offensichtlich haben sich die Organisatoren im Diskurs von Pestalozzi wiedergefunden. Ansonsten würde der heutige Anlass nicht stattfinden. Die Rede wäre auch nicht in Buchform neu veröffentlicht worden.

Warum dieses neue Interesse?

Es muss seine Lebenseinstellung gewesen sein. Pestalozzi hatte Ideen, die auch heute noch als richtig angesehen werden. Ja, mit seiner Einstellung hätte er vielleicht die Wahlen verloren, wäre er Politiker.

Aber wer sät, kann nicht kurzfristig die Ernte einfahren. Entscheidend ist, dass man den Acker trotzdem nicht verlässt.

In welcher Zeit lebte Pestalozzi?

Es war die Zeit nach der französischen Invasion. Die Zeit, nachdem die helvetische Republik an der heftigen Reaktion gewisser Kreise gescheitert war.

Das französische Reich war nach schmerzhaften Kriegen zusammengebrochen. Die Schweiz wusste nicht mehr, wohin sie steuern wollte.

In diesem politischen Umfeld hielt Pestalozzi seine Rede. Darum hatte die Rede, wie ich vorhin schon angedeutet habe, einen pessimistischen Grundton.

Und trotzdem! Pestalozzis Lösungsvorschläge waren optimistisch. Er war überzeugt, dass sich Erziehung, Bildung und Integration als wichtige Aufgaben durchsetzen werden und müssen. Er war überzeugt, dass der Aufstieg durch Leistung ermöglicht werden muss.

Metternich, der führende Staatsmann der Restaurationszeit, stand für die gegenteiligen Bestrebungen. Er wollte eine Rückkehr zur „Ordnung“, gemeint war natürlich die Rückkehr zur alten Standesordnung. Er bekämpfte die liberalen Bewegungen.

Nüchterne Beobachter hätten zu dieser Zeit vielleicht das Ende des Liberalismus vorausgesagt. Sie hätten gedacht, dass Metternich langfristig Erfolg haben wird.

Heute wissen wir: Es ist der Geist Pestalozzis, der sich durchgesetzt hat, und nicht der Geist Metternichs!

Was tun gegen die Verwahrlosung der Kinder?

Kommen wir zurück zu Pestalozzis „Langenthaler Rede“. Darin kritisiert Pestalozzi heftig, dass die Kinder der Unterschicht während den ersten 6 bis 7 Jahre vernachlässigt werden und sich so einen Nachteil einhandeln, der später kaum mehr aufzuholen ist. Er befürchtet eine Verwahrlosung insbesondere der Kinder der Fabrikarbeiter.

Daher propagiert er eine frühe Bildung für alle Kinder- auch eine kleine Revolution, aber ohne Gewalt! Er ruft das Land auf, die Kinder der armen Schichten, (ich zitiere), „von der Wiege auf zu ununterbrochenem Gebrauch ihrer Kräfte und Anlagen zu bilden und ihre überlegte und erfinderische Tätigkeit zu beleben…“.

 


Liebe Freunde,
man sagt immer, die moderne Gesellschaft verhindere die ewige Rückkehr der Geschichte. Wer für den Fortschritt ist, glaubt nicht, dass die Gesellschaft das Rad zurückdrehen kann. Doch wenn ich die Kritiken gewisser intellektueller Kreise zum „harmos“- Projekt beobachte, ist mir, als wären die Gegner Pestalozzis wieder neu geboren!

Die Kantone haben sich bekanntlich darauf geeinigt, dass alle Kinder ab Ende 4 in den Kindergarten gehen sollen und dass Tagesstrukturen angeboten werden müssen.

Ziel dieser Massnahmen ist insbesondere, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten früh gefördert und nicht benachteiligt werden. Die Kantone antworten, auch nach 182 Jahren, im gleichen Geist wie Pestalozzi!

Der grosse Unterschied ist, dass heute die einheimischen Kinder ziemlich gut integriert sind. Es geht in der heutigen Zeit vor allem um die Integration von Kindern aus Immigrationsfamilien. Aber wie im 19. Jahrhundert können wir gemeinsam Lösungen finden.

 

 

Warum Bildungspolitik?

Die Emotionen und Streitigkeiten um die Erziehung sind Ausdruck der Ängste gewisser Kreise in der Gesellschaft. Vor 150 Jahren war das so, heute ist es so.

Ja, in diesem Bereich ist „sich bewegen“ ein Risiko. Das Gegenteil aber von Bewegung wäre Stillstand, Ruhe, Tod. Nur der Tod bringt keine neuen Risiken.

Bildung soll befähigen. Sie soll aktive und kritische Bürger hervorbringen und helfen, andere Kulturen zu verstehen. Das ist das Ziel der Pädagogik. Das „Dressieren“ der Kinder ist keine Option. Man geht damit zwar Risiken ein, eröffnet aber vor allem grosse Chancen.

Bildung vermindert Arbeitslosigkeit. Die Erwerbsarbeit ermöglicht nachweislich die individuelle Integration in die Gesellschaft. Nichts ist somit so sozial, wie die Ausweitung der Bildungschancen für alle.

Als Nebenprodukt dieser Bildungspolitik ergibt sich eine „präventive“ Sozialpolitik. So wird verhindert, dass später mit Transferzahlungen gegen den sozialen „Schadensfall“ angekämpft werden muss.

Als früherer Gemeindepolitiker, als Nationalrat, als früherer Volkswirtschaftsminister und heutiger Bildungsminister möchte ich die grosse Wertschätzung und den Respekt ausdrücken, der den Lehrern und all denjenigen gebührt, die Erziehungsberufe ausüben. Diese Berufe gehören zu den schwierigsten, aber auch wichtigsten in unserer Gesellschaft. Ich möchte für die tägliche erbrachte Qualität dieser Arbeit danken.

Ausschlusspolitik oder Integrationspolitik?

Liebe Freunde,
ich war vor Kurzem in einer Klasse im Kanton Freiburg zu Besuch. In der Philosophiestunde ging es um die Grundwerte der Gesellschaft und der Demokratie. Und um Fragen der Legitimität: Was gibt den Behörden das Recht, Autorität auszuüben oder das Gesetz zu erzwingen?

Ein Schüler war besonders interessiert und aktiv. Er hat mich tief beeindruckt. Als ich nach dem Namen gefragt habe, sagte man mir, dass er aus dem Kosovo stammt und als einer der besten Schüler auf seiner Stufe gilt. Ich muss ihnen gestehen: Das war für mich der glücklichste Moment der ganzen Woche.

Integration kann gelingen, wenn wir diese jungen Leute als Chance empfinden. Ohne Naivität, aber auch ohne übertriebene Angst.

Bildungspolitik hat viel mit Integrationspolitik zu tun.
Die Schweiz steht vor der zentralen Frage: Wie wollen wir mit den 20% Ausländern in unserer Bevölkerung umgehen? Insbesondere stellt sich diese Frage auch bei der Einbürgerungspolitik. Wir stimmen in nächster Zukunft, am 1. Juni, über die Einbürgerungsinitiative ab.

Diese Initiative möchte, dass dieser Übergang potentiell in diskriminierender Weise geschehen soll. Einbürgerungswillige sollen willkürlich zurückgewiesen werden können. Willkür ist aber mit einem Rechtsstaat nicht vereinbar.

Der Kanton Bern hat vor kurzem mit gutem Menschenverstand und humanem Geist einer kantonalen Regelung zugestimmt, die dieser Initiative klar entgegenläuft. Ich hoffe, dass das ganze Schweizer Volk am 1. Juni diesem Beispiel folgt.

 

 


Die Rolle gemeinsam getragener Institutionen

Liebe Freunde,
wir haben 1848 neue Institutionen geschaffen. Sie existieren nun seit mehr als einem Jahrhundert. Wir sind mit der Beständigkeit unserer Institutionen eine grosse Ausnahme in Europa!

Unsere Verfassungsväter haben nicht ideologisch entschieden. Sie haben für politische Gleichheit, Freiheit und Verantwortung gesorgt. Vor allem aber haben sie die Spielregeln festgelegt. Wir nennen sie Institutionen. Sie erlauben Entwicklungen, Neuerungen, solange sie akzeptiert werden.

Dies ist eine wichtige Bedingung, damit wir im Sinne Pestalozzis stetig vorwärts schauen können und täglich positive Schritte unternehmen können. Dazu gehört der Respekt vor den Mitmenschen, die Dialogbereitschaft und die Kompromissfähigkeit.

Es gab und gibt immer wieder Bewegungen und Gruppen, welche diese gemeinsamen Grundlagen in Gefahr bringen.

Ein einziges Beispiel: Das Parlament wählt die Bundesräte und nicht die Parteien. Der Wert der Institutionen liegt in ihrer Beständigkeit. Diese Regeln dürfen nicht aufgrund von kurzfristiger politischer Opportunität geändert werden.

Es sollen Ideen und nicht primär Personen bekämpft werden. Unsere Institutionen leben von der Vielfalt unserer Ideen und Menschen. Darum brauchen wir auch keine autoritären Führungsstrukturen.

Mit unserem Willen zur Stärkung der Bildung und der Integration stehen wir auf der Linie von Heinrich Pestalozzi von anno dazumal. Im selben Geist sollten wir in heutiger Zeit konstruktive Antworten auf unsere Probleme finden.

Ein kleiner Ausblick: Die Globalisierung hat dazu geführt, dass heute auch Bildung und Forschung ohne Grenzen weltweit geschehen. Gerade die Globalisierung gibt uns die Chance, die Klima-, Energie und Umweltpolitik global anzugehen und global zu lösen. Dazu muss insbesondere auch die weltweite Forschung beitragen.

Die Erde gibt es nur einmal. Darum brauchen wir ein kollektives Bewusstsein und kollektive Bestrebungen für den Kampf um den Erhalt unseres Planeten.

Darum bin ich dankbar, dass wir heute, ohne in die Niederungen der täglichen Politik abzusteigen, optimistisch die künftigen Herausforderungen angehen konnten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Es gilt das gesprochene Wort.)