Lebensdienlich Wirtschaften auf dem Hintergrund des sozialen Gedankens Pestalozzis 1746-1827

Überlegungen aus der Sicht der Wirtschaftsethik

Vortrag von Helmut Kaiser
Symposium zur Langenthaler Rede, Donnerstag 10. April 2008, Neue Helvetische Gesellschaft / Schweiz

1. Unbefangen meinem Herzen freien Spielraum und meiner Zunge freien Lauf lassen

Es gibt für mich als Wirtschaftsethiker nur eine Möglichkeit, der Rede von Pestalozzi gerecht zu werden. Das meint, den Satz aufzunehmen, den er am Schluss seiner Rede gesagt hat:

„Edle, liebe Eidgenossen und Brüder!...
Ich habe unbefangen meinem Herzen freien Spielraum und meiner Zunge freien Lauf gelassen. Ich weiß, es sind sehr viele Männer in unserem Vaterland und selbst im Kreis unserer Versammlung, die in Rücksicht auf vieles, sehr vieles, wovon ich geredet, richtigere Einsichten und vielseitigere und bedeutendere Erfahrungen als ich haben. Das aber konnte mich nicht hindern, meine, wenn auch einseitigen und beschränkten Ansichten mit der Lebhaftigkeit, Wärme und Zuversicht auszusprechen, die mir die Überzeugung eingeflößt...“

„Edle, liebe Eidgenossen und Brüder! Ich bin in meinen Achtzigerjahren mit dem Gefühl in Eure Mitte getreten, es sei wahrscheinlich das letzte Mal, daß ich diese Versammlung besuche. Ich wollte deshalb von allem, was ich nach meinen Ansichten für das Vaterland zu wünschen notwendig und würdig fand, in dieser Stunde kein Wort verschweigen. Ich habe unbefangen meinem Herzen freien Spielraum und meiner Zunge freien Lauf gelassen. Ich weiß, es sind sehr viele Männer in unserem Vaterland und selbst im Kreis unserer Versammlung, die in Rücksicht auf vieles, sehr vieles, wovon ich geredet, richtigere Einsichten und vielseitigere und bedeutendere Erfahrungen als ich haben. Das aber konnte mich nicht hindern, meine, wenn auch einseitigen und beschränkten Ansichten mit der Lebhaftigkeit, Wärme und Zuversicht auszusprechen, die mir die Überzeugung eingeflößt, daß ich mit edeln vaterländischen Männern rede, die, wenn sie auch meine Ansichten nicht mit mir teilen, sondern entgegengesetzte als dem Vaterland für dienlich achten, mir dennoch die Gerechtigkeit widerfahren lassen werden, daß meine Rede aus reinem, vaterländischem Herzen geflossen und mit den Lebensbestrebungen, die ich den Erforschungen der naturgemäßen Begründung des Erziehungs- und Unterrichtswesens des Vaterlandes gewidmet, in Übereinstimmung stehe.“ (Rede S. 77f.)

Zur Langenthaler Rede von Pestalozzi gehört vorab, dass er den Mut hatte, Missstände radikal zu benennen. Pestalozzi weiss um die Radikalität seiner Kritik, einer Kritik also, die nicht mit extrem verwechselt werden darf, vielmehr die Probleme an ihren Wurzeln zu erfassen trachtet. In dieser Kritik ist Pestalozzi zugleich ein Visionär, auch gerade dann, wenn er sich auf den vaterländischen Gemeingeist von früher bezieht. Ich denke, dass ich dem Geist der Rede von Pestalozzi am ehesten entspreche, wenn ich in der gegenwärtigen Situation, heute am 10.4.2008, Vorstellungen einer wünschenswerten Zukunft entwickle und mich dabei von zentralen Punkten der Gesellschafts-Philosophie von Pestalozzi leiten lasse. Es sind fünf Punkte, die bei Pestalozzi grundlegend für die lebensdienliche Gestaltung der Gesellschaft wichtig sind (Rede S. 56):

  • Das Geld:
    Das Übermass des Geldzuflusses und leichtes Geldverdienen zerstört den Gemeingeist.
  • Die Wertschätzung der Arbeit und des Mittelstandes:
    Das Problem der eigentumslosen Armen, und die Gefahr, dass sich der Mittelstand verringert.
  • Die Ressourcen, die wir zur Befriedigung unser Bedürfnisse brauchen:
    Die Tatsache, dass wir die Ressourcen verlieren.
  • Der alte Schweizerische Gemeingeist:
    Geht durch Selbstsucht und Gierigkeit verloren, ist aber die Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft zusammen gehalten wird.
  • Globalisierung:
    Indirekt thematisiert durch den Geldzufluss.

2. Geld, eigentumslose Arme und Mittelstand, Ressourcen, Gemeingeist, Globalisierung – visionär lebensdienlich betrachtet

Pestalozzi hat mit diesen fünf Themen wichtige Bereiche und Faktoren der Gesellschaft und Wirtschaft aufgenommen und einer kritischen Analyse unterzogen. Meine folgenden Überlegungen sind wie die von Pestalozzi „einseitig“ und „beschränkt“ und sollen gerade dadurch einen Blick in die Zukunft eröffnen, der eine blosse Fortschreibung der Gegenwart überwindet und stattdessen Neues zu denken wagt und fordert. Meine Überzeugung im Anschluss an Pestalozzi ist, dass wir aufmerksam mit Herz fühlen, kreativ mit unserem Kopf denken und mutig mit Händen und Füssen handeln müssen, um eine lebensdienliche Zukunft gestalten zu können.

2.1 Was der ethische Hofnarr zum Geld sagt: Es braucht einen Wandel in der Mentalität!

Das Geld ist in seinen ökonomischen Funktionen als Zahlungs- und Tauschmittel, als Wertmassstab und als Wertaufbewahrungsmittel unbestritten. Das Geld ist ein zeitlich wie räumlich generalisiertes Steuerungsmedium (N. Luhmann) und damit das „mediale Blut“ der Volkswirtschaft. Diese sachliche Funktionsbestimmung des Geldes einmal vorausgesetzt und anerkannt, werde ich sofort die gegenwärtige ethische Problematik des Geldes aufnehmen.

Im Schweizerischen Wirtschaftsmagazin Bilanz 5/2008 (7.-19. März 2008) wird die Bankenkrise thematisiert und unter der Überschrift „Die Rekordzocker. Gambling aus Gier und Gewissenlosigkeit – mit Milliardenverlusten“ ausgeführt:

„Um das Phänomen [der Bankenkrise mit den Milliardenverlusten] zu erklären, müssen wir uns 30 Jahre zurückbegeben, in die Zeit, als sich im Banking der Mitarbeitertypus grundsätzlich veränderte. Ausgelöst wurde der Wandel durch die Einführung des Leistungslohns. Es fing sanft an mit dem Vorhaben, die Lohnmodelle von der simplen Koppelung an den Teuerungsausgleich zu lösen, und endete mit der Bezahlung fixer Erfolgsprozente auf hochriskante Deals. Die Erhöhung des variablen Teils des Lohns dank massiv steigenden Boni bewirkte einen Transformationsprozess, der die Grundfesten des Erfolgs – das persönliche Verantwortungsgefühl für das Wohlergehen des Arbeitgebers – erodieren liess. Fortan sollte ein Anreiz alle anderen überstrahlen: die Gier nach dem schnellen Geld.“ (Erik Nolmans, Bilanz 5/2008, S. 31f.)

Wenn die Milliardenverluste aus Gier und Gewissenlosigkeit erfolgen und wenn es also möglich ist, diese Gier und Gewissenlosigkeit in einer Organisation zu leben, dann braucht es zur Verhinderung eines solchen Verhaltens eine dreifache Strategie:

  • Es braucht ein wirksames Risikomanagement.
  • Es braucht interne und externe Kontrollmechanismen, welche verhindern, dass in einem Unternehmen Nischen der Gier und der Gewissenlosigkeit entstehen.
  • Es braucht unbedingt einen Wandel in der Mentalität, es braucht ein ethisches Bewusstsein, welches Gier und Masslosigkeit radikal überwindet: Integrität, Sinn für das Mass, Bescheidenheit, Fairness, Zivilcourage und gesunder Menschenverstand. „Also alles das, was man mit Charakter’ zusammenfassen kann.“ (Kaspar Villiger, NZZ 1.4.08, S. 29) Genau dies sollte der ethische Hofnarr sagen!!! (s. unten)

Konkrete Massnahmen zur Überwindung der Krise: Erstens muss einmal die ökonomische Nachhaltigkeit realisiert werden in dem Sinne, dass Gewinne langfristig Bestand haben sollen. Es wird deutlich, dass ich persönlich gar nichts gegen Gewinne haben, nur deren Nachhaltigkeit einfordere. Zweitens sollten nicht nur Boni ausgezahlt werden, sondern es sollte ebenfalls für Verluste die Verantwortung übernommen werden. Und drittens sollte der Anteil des variablen Lohnes generell radikal zurückgestutzt werden und dafür ein angemessener Fixlohn – durchaus ein hoher – bezahlt werden (Margrit Osterloh, Professorin für Betriebswirtschaftslehre, Universität Zürich; Bilanz 5/2008, S. 39.).

Diese Vorschläge sind alles keine Visionen, vielmehr Notwendigkeiten. Eine Vision habe ich am 19.2.2001 für die Beilage alpha Kadermarkt der Sonntagszeitung geschrieben:

„UBS sucht dringend einen ethischen Hofnarren!
Es hat mich ziemlich überrascht, als ich in der NZZ vom 29. Februar [bewusst so] dieses Jahres das obige Stellengesuch der UBS las. Sofort habe ich mich bei der angegebenen email Adresse informiert:

Es ist für die UBS von zentraler Bedeutung, dass wir eine Beobachterinstanz in unserem Unternehmen haben, die unsere Strategien und Handlungen unter ethischen Gesichtspunkten befragt und uns den Spiegel ethischer Grundwerte vor unsere Augen hält. Der ethische Hofnarr darf sich auch als ein »Idiot« in der griechischen Ursprungsbedeutung von »eigen« verstehen, wobei für uns der klassische Hofnarr von grosser Bedeutung ist: Der Hofnarr war der Einzige in der Umgebung des Königs, der die Wahrheit sagen konnte, ohne dafür geköpft zu werden. Dabei verkündete der Hofnarr seine Botschaft in humorvoller Form.

Nach dieser Homepage-Information habe ich sofort angerufen. Ich wurde mit der verantwortlichen Person verbunden, ein klarer Beweis für das grosse Interesse der UBS an einem ethischen Hofnarren / Närrin. Ich wollte wissen, wie die UBS die Rolle des ethischen Hofnarrens wirklich verstehe. Die frühen Hofnarren waren ja meist geistig und körperlich abnorm, sie wurden als Spassmacher zur Zerstreuung und Erheiterung des Herrschers an den Hof geholt. »Nein«, wurde mir beschieden: Wir wollen einen ethischen Hofnarren, der sich nicht nur auszeichnet durch Schlagfertigkeit, Witz und Einfaltsreichtum, sondern zugleich auch durch ethische Kompetenz.’ Als ich mein Gegenüber darauf hinwies, dass ein solcher ethischer Hofnarr bzw. eine so gewünschte Hofnärrin ein höchst kritischer und hartnäckiger Geist sei, der immer wieder eine ethische Grundlagendiskussion anzettele, bekam ich zur Antwort: Er soll völlige Narrenfreiheit geniessen, er soll seine ganze wirtschaftsethische Akrobatik ausspielen, das einzige, was wir von ihm oder ihr verlangen, ist: Das Sachgerechte mit dem Menschengerechten im Gleichgewicht zu halten, immer wieder nach der Lebensdienlichkeit unseres Handels zu fragen. Dafür bezahlen wir diesen Hofnarren ja, dass er präzise diese Rolle wahrnimmt.’

Mit dieser Auskunft war ich mehr als zufrieden, ich war sogar begeistert. Ich machte einen letzten Versuch, um den Verantwortlichen der UBS herauszufordern. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass auch die Insignien der Macht der UBS wie Globalisierung oder Shareholdervalue durch den ethischen Hofnarren befragt werden, dass er die klassisch-typischen Narrenmerkmale wie Marotte, die Glaskugel oder die Schweinsblase ersetzen werde durch Forderungen nach Veränderung und eventuell durch Unterstützung von Gegenmächten, die mit ihren gewaltlosen Aktionen das Unternehmen dem öffentlichen Druck aussetzen.

Genau das beabsichtigen wir’, wurde mir geantwortet: Wir wollen den ethischen Hofnarren bewusst als Gegenposition mit dem längerfristigen Ziel einer immer stärkeren Integration von Ethik und Wirtschaft etablieren. Mag Ethik und Wirtschaft oftmals noch immer als hölzernes Eisen gesehen werden, der ethische Hofnarr soll dieses Zwei-Welten-Verständnis von Ethik und Wirtschaft bei uns überwinden helfen. Wir sind gespannt auf die eingehenden Bewerbungen...’“

Nach den aktuellen Ereignissen bin ich noch mehr davon überzeugt, dass der ethische Hofnarr Milliarden eingespart hätte...!!! Die Vision eines ethischen Hofnarren wird damit nochmals neu formuliert!

2.2 Die eigentumslosen Armen und der Mittelstand: Wenn die KMUs die Vision des Grundeinkommens unterstützen

Wohl fehlt der Rede von Pestalozzi das Pathos der Revolution, doch hat Pestalozzi das gesellschaftliche Problem der ins „Unermessliche steigende Vermehrung der eigentumslosen Menschen“ (Rede S. 75) erkannt und mit der Begrifflichkeit „eigentumslose Arme“ (Rede S. 73, 69) eine entlarvende Gesellschaftsanalyse durchgeführt.

Die gegenwärtige Gesellschaft ist gespalten in zwei Klassen: Auf der einen Seiten gibt es die Reichen, welche von grossen Geldzuflüssen profitieren, auf der andere Seite gibt es die eigentumslosen Armen. Diese „Disharmonie“ (Rede S. 76) stellt eine gefährliche Gefährdung des Gemeinwesens dar, wozu gehört, dass sich die Kräfte des Mittelstandes immer mehr zu vermindern drohen (Rede S. 56).
Zwei wichtige gesellschaftspolitische Probleme werden genannt: Das der Armut und das des Mittelstandes. Wenn man selbst schon in Ländern und Gegenden gewesen ist, in welchen Armut extreme Formen hat – indianische Reservate, Grosstädte in Brasilien –, dann weiss man, dass Armut bei uns eine besondere Wahrnehmung verlangt und wir an der Oberfläche kratzen müssen, um die Armut bei uns in der Schweiz zu erkennen.

Wir sehen wohl kaum zerlumpte Kinder, die betteln, keine Obdachlosen, die sich ihr Nachtlager in Hauseingängen einrichten, keine Menschen, die Abfalleimer nach etwas Essbarem durchsuchen.

„Doch der Schein trügt: Jede siebte Person in der Schweiz kann die Existenz nicht aus eigener Kraft sichern. Armut ist verbreitet, auch wenn sie kaum sichtbar ist.

Wer die Armut in der Schweiz wahrnehmen und bekämpfen will, muss genauer hinschauen, muss an der Oberfläche kratzen. Armut in der Schweiz kann bedeuten, eine Einladung zum Kindergeburtstag mit einer Ausrede auszuschlagen, weil ein Geschenk das Budget sprengen würde. Oder Zahnschmerzen aus Angst vor der Zahnarztrechnung zu ignorieren. Oder gar mit 16 einen Hilfsjob anzunehmen, weil keine Aussicht auf eine Lehrstelle besteht oder es in der Familie an allen Ecken und Enden an Geld fehlt. Armut hat viele Facetten: Sie bedeutet soziale Isolation, sie führt zu gesundheitlichen Problemen, sie beeinträchtigt die Bildungschancen und wird von Eltern an ihre Kinder weitergegeben.“ (Christin Kehrli / Carlo Knöpfel, Handbuch Armut in der Schweiz, Caritas Luzern 2006, S. 15)

Doch Armut beschränkt sich nicht auf Flüchtlinge, Obdachlose, Stellenlose oder Drogenabhängige. Auch Arbeit schützt vor Armut nicht. Die Gruppe der working poor – Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit an der Armutsgrenze leben – nimmt zu, also Menschen, Familien, die vom prekären Wohlstand in die Armut kippen (Sibylle Fritsch, Arbeit schützt vor Armut nicht, in: Psychologie heute August 2003, S. 38, S. 38-41, Handbuch Armut a.a.O., S. 79).

Für die Überwindung der Armut in den hoch entwickelten Industrieländern wird immer wieder neu die Idee, die Vision des bedingungslosen Grundeinkommens diskutiert. Dazu wird in einer Zeitschrift geschrieben:

„Bislang ist das eine Utopie, jedoch eine, über die heftig debattiert wird: Ob Arm oder Reich, ob Studentin oder Rentner – der Staat würde jedem Bürger[in] jeden Monat eine Summe zahlen, welche die grundlegenden Bedürfnisse deckt. Von 600 bis 1000 Euro sprechen die meisten Befürworter.“ (Josefine Janert, Warum noch arbeiten? in: Psychologie heute März 2008, S. 63, S. 62-66)

Diese Idee des Grundeinkommens ist keinesfalls utopischer oder visionärer als die Idee der Nationalbildung bei Pestalozzi (Rede S. 70). Ich wünsche mir im Anschluss an Pestalozzi, dass die Vision des Grundeinkommens aufgenommen wird und dass sich eine Initiativgruppe bildet, die eine politische Initiative dazu startet. Der 10. April 2008 in Langenthal könnte dieser Vision Füsse verleihen!

Mit dem Grundeinkommen ist selbstverständlich vorausgesetzt, dass jede Gesellschaft eine ausreichende Erwerbsarbeit braucht. Denn Erwerbsarbeit garantiert nicht bloss Einkommen, vielmehr auch Identität und Zufriedenheit und vor allem soziale Zusammengehörigkeit.

Unter diesem Gesichtspunkt der Erwerbsarbeit wie auch der Herstellung von qualitativ hoch stehenden Produkten und Dienstleistungen kommt dem Mittelstand eine besondere Bedeutung zu. Und wie Pestalozzi wird auch heute gefragt: Wo ist die Mitte oder was passiert mit dem Mittelstand? Zu dieser Fragestellung gehört die grundlegende Bedeutung der KMUs für ein lebensdienliches Wirtschaften.

Damit Sie nicht denken, dass ich dies sage, um relativ billig Ihre Anerkennung zu erhalten, zitiere ich aus meinem Buch, das bereits im Oktober 2007 veröffentlicht wurde, wo ich in Bezug auf die ethische Verantwortlichkeit – durch das Ethik-Rating z.B. – der KMUs Folgendes ausgeführt habe:

„Die Forderung nach ethischer Reflexivität ist jedoch keinesfalls eine Utopie. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade auf der Ebene der Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMU: bis 250 Beschäftigte, zu dieser Kategorie gehören mindestens 95% der Betriebe) wird immer stärker ein ethisches Nachdenken gefordert.“ (Helmut Kaiser, Ökologische Wirtschaftsdemokratie. Wege zu einem lebensdienlichen Wirtschaften im Kontext der Globalisierung, Aachen 2007, S. 191). Und:

„Man darf gespannt sein, wie sich das Ethik-Rating bewährt. Wichtig ist, dass dieses insbesondere für mittelständische Betriebe ausgearbeitet wurde. Ein Ausgangspunkt dafür sind sicher die Negativschlagzeilen über das rücksichtslose Management der Transnationalen Konzerne TNK, welche den Ruf der ganzen Wirtschaft ruinieren. Dass dies aus der Sicht der Kleinen und Mittleren Unternehmen KMU Unrecht ist, darüber muss nicht diskutiert werden. Das Ethik Rating – im Kern ein Wertemanagement’ – ist ein Weg, das Wirtschaftliche, Soziale und Ökologische in Einklang zu bringen (> Lokale Agenda 21). (Helmut Kaiser, Ökologische Wirtschaftsdemokratie, a.a.O., S. 197f.)

Meine Vision besteht nach diesen beiden Problemthemen Armut und Mittelstand im Anschluss an Pestalozzi darin, dass wir die Leitidee des Grundeinkommens in der Schweiz realisieren könnten und dass dies mit Hilfe der KMUs geschehen kann.

2.3 Die ökologische Weltgesellschaft oder die Vision einer solaren Gesellschaft

Selbstverständlich kannte Pestalozzi noch keine ökologischen Probleme wie wir heute im Jahr 2008. Doch nennt er die Gefahr, die Ressourcen, die wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse und Angewöhnungen bedürfen, schnell und vielseitig zu verlieren (so Rede S. 56). Klimawandel, Feinstaubproblem, CO2-Ausstoss, Treibhauseffekt sind zur Zeit in allen Ländern Europas, den USA oder in China zentrale Themen der politischen Auseinandersetzung.

Und diese Gefahr der Ressourcenzerstörung wird von Pestalozzi in Beziehung gesetzt zum leichten Geldverdienen:

„Ich komme indes auch hierin immer wieder auf die berührten Hauptursachen unseres tiefern, häuslichen und bürgerlichen Versinkens zurück. Die verderblichen Folgen des Übermaßes unseres prekären Geldzuflusses, die seit so langem dem alten schweizerischen Gemeingeist und der lieblichen Näherung aller Stände gegeneinander einen tödlichen Herzstoß gaben, sind durch die großen Vorfälle unserer Tage nichts weniger als gemildert worden; sie haben sich im Gegenteil noch verstärkt. Und wir haben jetzt die doppelte Sorge, einerseits der Fortdauer der Verschwendung und des Leichtsinnes Einhalt zu tun, den wir uns durch den Mißbrauch des prekären leichten Geldverdienstes zugezogen, anderseits der Gefahr, die Ressourcen, die wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse und Angewöhnungen bedürfen, schnell und vielseitig zu verlieren, vorzubeugen...“ (Rede S. 56)

Solange unsere Ressourcen unter dem Imperativ des leichten Geldverdienens stehen und der Gewinnmaximierung untergeordnet werden, solange wird die Zerstörung der Natur und des Klimas weitergehen. Erst wenn unsere „Ökologie“ als Grundlage des Wirtschaftens bestimmt wird und die Ressourcen den ihnen zukommenden Wert erhalten und die Preise diesen Wert zum Ausdruck bringen, werden nachhaltige Veränderungen in Angriff genommen. Mit Pestalozzi kann aktuell und sinngemäss ausgeführt werden:

„Das Dauerlamento zum Treibhauseffekt hilft keinem weiter. Auch ohnmächtige Zerknirschung ist nicht das Gebot der Stunde, sondern nur die Tat. Wie nur selten in der Geschichte der Menschheit sind wir kollektiv in einer Position, wo einerseits die Bedrohungen durch den zunehmenden Klimawandel immer deutlicher werden und wir uns andererseits Massnahmen zur Prävention oder Korrektur ausdenken können – mit der begründeten Aussicht, katastrophale Konsequenzen abzuwehren oder zu mildern.“ (Spektrum Spezial der Wissenschaft 1/07, S. 3).

Eine Vision für eine ökologische Weltgesellschaft zeigt die folgende Weltkarte (Spektrum Spezial der Wissenschaft 1/07, S. 3). Für jeden Ort der Welt zeigt sie die lokal eingestrahlte Sonnenenergie, gemittelt für die Jahre 1991 bis 1993. Besonders wichtig sind die sechs eingezeichneten dunklen Punkte. Jeder dieser „Punkte“ bedeckt jeweils 140 000 bis 170 000 Quadratkilometer Solarkraftanlagen. Diese sechs Photovoltaikanlagen, verteilt über die Kontinente, könnten den gesamten primären Energiebedarf der Menschheit von 18 Terawatt – eine Million Megawatt – decken. Diese Vision ist wahrlich keine Utopie, vielmehr technisch realisierbar! Wenn diese Vision trotz der technischen Realisierbarkeit wohl eher noch utopisch bleibt, so gibt es niederschwellig genügend Möglichkeiten, die fossile Gesellschaft durch die solare Gesellschaft Schritt für Schritt zu transformieren!
Ökologisch visionär zu sein in der Gegenwart bedeutet, die bereits vorhandenen innovativen Technologien kreativ anzuwenden.

2.4. Gemeingeist und Kommunitarismus oder auf dem Weg zu autonomen Regionen

Durch die Wiederherstellung des Gemeingeistes lassen sich die gesellschaftlichen Probleme sehen, beurteilen und lösen. Dies aber bedarf grosser Anstrengungen, weil der gegenwärtige Zeitgeist der Selbstsucht und Gier den Gemeingeist schwächt und gefährdet. (Rede S. 57).

Die Betonung des Gemeingeistes lässt es zu, das Gesellschaftsmodell von Pestalozzi als republikanisch-liberal (s. Simon Kuert, Johann Heinrich Pestalozzi 1746-1827, Band Rede 2008, S. 81-87, 87) zu bezeichnen, womit der Freiheitsbegriff zur Debatte steht. Freiheit, das kommt in seiner Langenthaler Rede ganz deutlich zum Ausdruck, ist eine Freiheit mit Bindungen. Gerade an der Stelle, an der er die Allmacht der französischen Revolution als Schreckensgewalt radikal kritisiert, einer Allmacht also, welche die Eintracht und damit den Gemeingeist zerstört (Rede S. 53). Mit dieser Einschätzung kritisiert Pestalozzi ein rein libertäres Freiheitsverständnis und weist wie die moderne philosophische Theorie des Kommunitarismus darauf hin, dass die Freiheit gemeinsame Wert-Bindungen – Solidarität, Gerechtigkeit, Fürsorge – braucht, will sie erhalten oder ausgebaut werden. Damit hat Pestalozzi die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Gemeinschaft aufgeworfen, das jede Ordnungspolitik beantworten muss, eine Frage, welche zum Unterscheidungskriterium von ordnungspolitischen Konzeptionen wird (Helmut Kaiser, Ökologische Wirtschaftsdemokratie. Wege zu einem lebensdienlichen Wirtschaften im Kontext der Globalisierung, Aachen 2007, S. 106ff.).
Dabei gilt: Bei der lebensdienlichen Gestaltung unserer Gesellschaft darf es nicht um die Frage Freiheit oder Gerechtigkeit, Freiheit oder Solidarität, Freiheit oder Gemeinschaft gehen, vielmehr sind Gerechtigkeit, Solidarität und Gemeinschaft die Ermöglichungsbedingungen von Freiheit. Das philosophische Grundproblem des modernen ökonomischen Liberalismus ist – so Ralf Dahrendorf, John Rawls –, dass er nicht erkennt, dass Freiheit und Lebenschancen gerade auch eine Funktion von Bindungen und Zugehörigkeiten sind (Helmut Kaiser, Ökologische Wirtschaftsdemokratie. Wege zu einem lebensdienlichen Wirtschaften im Kontext der Globalisierung, Aachen 2007, S. 106ff.).
Im Folgenden werde ich eine Vorstellung entwickeln, die aufzeigt, unter welchen Bedingungen ein lebensdienliches Wirtschaftens möglich ist, welches den „Gemeingeist“ von Pestalozzi aufnimmt (Helmut Kaiser, Ökologische Wirtschaftsdemokratie. Wege zu einem lebensdienlichen Wirtschaften im Kontext der Globalisierung, Aachen 2007, S. 216ff.).):

„(1) Ich werde auf Überlegungen zurückgreifen, die in einer Zeit gemacht wurden, als nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 in der Schweiz eine Energiepolitik für den Ausstieg aus der Kernenergie konzipiert wurde. Im Rahmen der Expertengruppe Energieszenarien (EGES) wurde 1988 die Studie „Neue gesellschaftliche Prioritäten und Energiepolitik“ im Auftrag des schweizerischen Bundesamtes für Energiewirtschaft ausgearbeitet, bei der in einem speziellen Teil das Szenario „Neuer Lebensstil“ (NLS) von einer Arbeitsgemeinschaft entworfen wurde, bei der ich als Vertreter des Instituts für Sozialethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes mitarbeitete. Es war also eine Zeit, in welcher sich die Einsicht durchsetzte: So kann es nicht mehr weitergehen! Weil diese Einsicht für mich heute auf eine spezifische Weise gilt (I. 3.1.), ist es höchst spannend, die 1988 gemachten Zukunftsperspektiven jetzt im Jahre 2007 aufzunehmen. Dabei werde ich die Überlegungen herausgreifen, die in Bezug zum Wirtschaftsraum stehen und die „Regionalität“ als Leitbild fordern.

(2) Die folgenden Vorstellungen wurden 1988 zukunftsorientiert – Szenario – geschrieben und können heute gerade im Kontext der Globalisierung immer noch so gelesen werden:

„Nach der Jahrtausendwende erhalten die unterschiedlichsten Formen der regionalen Zusammenarbeit starken Auftrieb. Weiterhin sind es kleinere, neugegründete, aber auch schon länger bestehende Unternehmen, die sich beteiligen. Diese Entwicklung fördert überall das regionale Selbstbewusstsein in beträchtlichem Umfang, gerade auch in peripheren Regionen. Deren politische Forderungen nach mehr Autonomie und einer eigenständigen Entwicklung wird besonders von diesen Unternehmen aktiv unterstützt. Sie verstehen ihr Handeln als eine notwendige Reaktion auf die früher zu starke Abhängigkeit von krisenanfälligen, fremdbestimmten Industriebetrieben. Gemeinsam will man erreichen, dass der Einfluss der grossen wirtschaftlichen und politischen Machtzentren in den Ballungsgebieten zurückgeht. Auch sieht man die Fähigkeiten der Menschen in solchen aufstrebenden Regionen immer mehr als ein grosses Kapital an. Man setzt sich mit der Forderung nach mehr Autonomie gegen deren Geringschätzung und Zerstörung zur Wehr. Man weiss vielmehr, dass eine eigenständige Entwicklung dieses Kapital vermehrt, wie sie in den folgenden Grundsätzen zum Tragen kommt:

  • Gemeinschaftliche Selbsthilfe gegenüber Lösungen von aussen
  • Schonende Nutzung der regionalen Rohstoffe und Reichtümer
  • Erzeugung von Qualitätsprodukten bis zur Vermarktung
  • Aufbau von kleineren Betrieben durch selbstbestimmte betriebliche und überbetriebliche Zusammenarbeit
  • Verwendung von angepassten Technologien und Organisationsformen
  • Verknüpfung und Stärkung des innerregionalen Wirtschaftsgeschehens
  • Stärkung des regionalen Bewusstseins und Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten

Eine entscheidende Voraussetzung für das nachhaltige Gelingen solcher autonomer Entwicklungsbestrebungen in den Regionen liegt darin, dass alte’ Tugenden wie Zuverlässigkeit, grosse Belastungstoleranz, Sachorientierung, Aufschub von Bedürfnisbefriedigung etc. noch leben oder wieder an Gewicht gewinnen. Darauf bauen die verschiedensten Formen der unmittelbaren Solidarität und der sozialen Integration auf.

Bedeutung kleiner Unternehmen: Der beobachtbare Aufschwung kleinerer Unternehmen hat verschiedene Ursachen. Dabei ist es nicht ausschlaggebend, ob sie eher weltmarktorientiert sind oder sich mehr auf regionale Absatzmärkte konzentrieren. Diese Unternehmen spielen bei den produktorientierten und technologischen Innovationen eine entscheidende Rolle. Dies wird besonders durch die Technologien möglich, die die Flexibilität für kleine Serien perfektionieren. Daneben ist aber ein weiterer Grund besonders wichtig: Kleinere Betriebe ermöglichen am ehesten eine Form des sozialen Miteinanderarbeitens. Gerade jüngere Leute sind daran sehr interessiert. Unabhängig davon, ob sie Arbeitnehmer, selbständiger Unternehmer oder ob sie Mitarbeiter-Unternehmer in einer der zahlreich entstehenden gemeinschaftlichen Organisationsform sind, suchen sie mit Vorliebe solche Formen der Arbeit.

Dieser wachsende Stellenwert kleinerer Unternehmen – besonders in Regionen ausserhalb der Ballungsgebiete – hat seine Ursache ganz wesentlich in der wachsenden Bedeutung, die der Qualität des Lebens, der Umwelt und der Berufsethik beigemessen wird. Durch sie verändert sich auch der Stellenwert von Arbeit und Einkommen. Dem Wunsch nach mehr persönlicher Flexibilität und Autonomie können kleinere Betriebe besser nachkommen. Diese Entwicklung erleichtert die informelle Ökonomie. Eigenarbeit, Do-it-yourself, Nachbarschaftshilfe etc. gewinnen zusammen mit einer neuen Hochschätzung der praktischen und sozialen Intelligenz an Bedeutung. In dieser von persönlicher Autonomie geprägten Art zu leben bedeutet auch, auf einen hohen Qualitätsstandard zu achten, selbst wenn die effektiven Löhne nach wie vor niedriger sind als in grösseren Unternehmen, besonders verglichen mit den Ballungsgebieten.

Das Aufstreben und Erstarken autonomer Regionen ist nicht nur in der Schweiz zu beobachten. Nicht minder trifft dies auf die anderen Länder Westeuropas zu. Eine Tendenz gegen das Ziel, einen einheitlichen, universalen Wirtschaftsraum in der europäischen Gemeinschaft zu schaffen, hat sich breitgemacht. Die EG hat die alte Politik im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts bewusst vorangetrieben. Man wollte einen grossen einheitlichen Binnenmarkt schaffen, um im Konkurrenzkampf gegenüber den USA und dem pazifischen Wirtschaftsraum besser bestehen zu können. Gleichzeitig glaubte man, damit die Voraussetzungen für eine Durchsetzung von High-Technology’ auf breiter Front zu verbessern. Inoffiziell hat die Schweiz sich dieser Politik der EG angeschlossen, auch wenn sie bis zum Jahr 2025 nicht Mitglied wird.“ (Expertengruppe Energieszenarien Schriftenreihe Nr. 15, Neue gesellschaftliche Prioritäten und Energiepolitik, ausgearbeitet durch Christian Lutz u.a., Bern 1988, S. D-30–D-32 /S. D-1–D-159. Siehe auch Ulrich Duchrow u.a., Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu ihrer Überwindung, Hamburg 2006, S. 280ff., S. 284ff.)

„(3) Diese Zukunftsperspektive autonomer Regionen ist keinesfalls ein Rückzug in die Lebensform der Höhle, vielmehr ist das radikale Gegenteil der Fall: In kooperativen und partizipativen Einheiten (clusters), die unabhängig sind zum Beispiel von der Energie aus dem mega-kapitalistischen System, werden die regionalen Zentren und Räume mit nachhaltigen und lebensdienlichen High-Tech-Produkten und -Diensten versorgt, womit zugleich eine ökologische Kreislaufwirtschaft möglich wird. Ausserdem kann durch eine solche Gesellschaft’ das Familien- und Gemeinschaftsleben durch gerechte und solidarische Arbeitsformen – Teilen von Hausarbeit- und Erwerbsarbeit z.B. – kreativ ausgestaltet werden. Diese Zukunftsperspektive, das wird damit deutlich, weist die folgenden Merkmale auf:

  • Gegenüber einem egoistischen Individualismus werden soziale Kommunikation, Mitmenschlichkeit, Solidarität, Hilfsbereitschaft, soziale Geborgenheit, Einbettung in überschaubare Kleingruppen, Gemeinschaften und Kommunen, Nachbarschaft und informelle Netzwerke der Selbsthilfe aufgewertet.
  • Gegenüber der Überbetonung der calvinistischen Arbeitsethik, der ökonomischen Leistungs- und Erfolgsorientierung und dem rastlosen Aufstiegsstreben werden vor allem sinnvolle Arbeit, Freizeit, Musse, zwischenmenschliche Beziehungen, künstlerisch-intellektuelle Tätigkeiten, selbstbestimmte Persönlichkeitsentfaltung und Gesundheitspflege aufgewertet.
  • Der status-, prestige- und modeorientierte Verschwendungskonsum unterliegt der Einsicht in die negativen Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft, der Missbilligung und Kritik; er gerät somit in den Bannkreis des schlechten Gewissens’. Demgegenüber breiten sich umweltschonende, gesellschaftlich verantwortbare und der Persönlichkeitsentfaltung dienende Konsumformen aus.
  • Gegenüber der Existenzweise des Habens’ gewinnt jene des Seins’ an Bedeutung.“ (Expertengruppe Energieszenarien Schriftenreihe Nr. 15, Neue gesellschaftliche Prioritäten und Energiepolitik, ausgearbeitet durch Christian Lutz u.a., Bern 1988, D-84f. / S. D-1– D-159).

(4) Autonome Regionen sind eine wichtige Voraussetzug für ein gerechtes, nachhaltiges und solidarisches Wirtschaften. Wichtig dabei ist: Regionen sind nicht quasiautomatisch gerecht oder nachhaltig usw.!!! Aber Regionen verfügen wegen ihrer Überschaubarkeit kooperative, partizipative, subsidiäre, solidarische und nachhaltige Strukturmerkmale.“

2.5 Lebensdienlichkeit im Kontext der Globalisierung oder Menschenrechte durch ein liberales Wirtschaften mit dem Ziel der republikanisch-liberalen Gesellschaft!

Pestalozzi war in seiner Rede konzentriert auf die teuren, lieben Eidgenossen, auf die edlen vaterländischen Brüder und Freunde (Rede S. 29). Wohl ging es ihm um das Wirtschaften im Vaterland, doch durch die Problematik des Geldzuflusses (Rede S. 57) kam der Kontext des Globalen ins Blickfeld. Soll Pestalozzi visionär aufgenommen werden, so muss die Lebensdienlichkeit im Kontext der Globalisierung thematisiert werden.

Ich denke, dass diese Thematik gerade auch für die Langenthaler Unternehmen gilt, habe ich doch gelesen, dass die Ammann Group im Jahre 2006 einen Umsatz von 15 Millionen Franken in China erzielt hat. Auch wenn diese Zahl an sich noch nicht hoch ist, so stellen diese 15 Millionen eine Verdoppelung des Umsatzes dar, womit China zu einem langfristigen Produktionsstandort wie zu einem Absatzmarkt mit einem grossen Potential geworden ist. Die Problematik ist damit genannt: Wenn eine Person – Hu Jia –, die für die Einhaltung der Menschenrechte in China Unterschriften gesammelt hat, dafür für 3,5 Jahre ins Gefängnis muss, dann ist die Menschenrechtssituation in China in einem unhaltbaren und völlig inakzeptablem Zustand. Auch eine differenzierte Betrachtung der politischen Situation in Tibet wird dieses Urteil nur bestätigen können und müssen.

Wie also sollte oder müsste sich ein Unternehmen in Bezug auf Produktionsstandort und Absatzmarkt in China verhalten? Wie lassen sich in einer solchen Situation ökonomische, ökologische und soziale Aspekte zusammenführen? (Interview mit Johann N. Schneider-Ammann in: Berner Oberländer Samstag 15.3.08, S. 40; Richard Bobst, Die Geschichte der Ammann-Unternehmungen, in: Metall – Textil – Porzellan – Frites und Chips. Ein Beitrag zur Langenthaler Wirtschaftsgeschichte, Langenthaler Heimatblätter, hrsg. von der Stiftung zur Förderung wissenschaftlich-heimatkundlicher Forschung über Stadt und Gemeinde Langenthal, Redaktion Simon Kuert, Langenthal 2004, S. 87-104, S. 102).
Bei dieser lebens-wichtigen Fragestellung – es geht wahrhaftig um Leben und Tod – denke ich im Rückblick auf die Erfahrungen, die früher mit dem Apartheid-Regime in Südafrika gemacht wurden, Folgendes: Jeder Beitrag von Seiten der Ökonomie zur Etablierung eines – lokalen – Marktes auf der Grundlage der ökonomischen Liberalität kann persönliche Freiheitsrechte über die ökonomischen Prinzipien des freien Marktes realisieren. Dies wird dann gelingen, wenn in den entsprechenden Betrieben die Menschenrechte realisiert werden. Zudem müssen natürlich die Unternehmen in der Schweiz, welche in China z. B. produzieren, verkaufen und einkaufen, insgesamt die ökonomische, ökologische und soziale Dimension des Wirtschaftens zusammenführen. Also: Effiziente Betriebe auf der Grundlage der liberalen Wirtschaft, wobei das republikanisch-liberale Gesellschaftsmodell von Pestalozzi als Ziel der Entwicklung unabdingbar bleiben muss, sind eine wichtige Voraussetzung für die schrittweise Durchsetzung von Menschenrechten.

Andere Akteure wie z.B. NGOs, welche durch Petitionen – so geschehen in der aktuellen Tibetsituation – gerade im Vorfeld der Olympischen Spiez moralischen Druck auf Peking ausüben, leisten ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Veränderung. Langfristig werden konzertierte „Aktionen“ wie (1) Etablierung eines liberalen Marktes mit dem Ziel einer republikanisch-liberalen Gesellschaft, (2) öffentlich-internationaler moralischer Druck und (3) High-Tech-Transfer (so auf Podien beim WEF in Davos 2008) Grundelemente einer Strategie der Veränderung ausmachen, welche selbst menschengerecht ist und die Realisierung der Menschenrechte zum Ziel hat.

3. Mit Neugierde angefangen – mit einem freien Herzen und einer freien Zunge aufgehört...

Ohne die heutige Tagung am 10. April 2008 als Erinnerungsanlass an die Langenthaler Rede von Pestalozzi am 26. April 1826 hätte ich wohl kaum ein lebensdienliches Wirtschaften auf dem Hintergrund des sozialen Gedankens Pestalozzis zu bearbeiten versucht.

Als ich angefragt wurde, hat mich die Neugierde gepackt und nach dem Durchmarsch durch seine sprachlich dichte Rede hat sich eine besondere visionäre Nachdenklichkeit eingestellt.

Wie hat sich Pestalozzi gefühlt bei seiner Rede? Als einsamer Rufer und Visionär in der Wüste? Ich denke, dass es immer neu wichtig ist, unbefangen dem eigenen Herzen freien Spielraum und der eigenen Zunge freien Lauf zu lassen (Rede S. 77).

  • Damit solche Reden konkret wirksam werden, braucht es, dies in aktueller Weiterführung von Pestalozzi, starke, kreative und kompetente Gruppen und Organisationen, denen die Demokratie ein wirksames Beschwerderecht zuspricht, die sich für ein lebensdienliches Wirtschaften einsetzen.
  • Damit solche Reden wirksam werden, braucht es die kreative und konsequente Anwendung bereits vorhandener innovativer Techniken, welche eine nachhaltige saubere Energie bereitstellen.
  • Damit solche Reden wirksam werden, braucht es ein Wirtschaften, welches auf einem kollektiven Gewissen basiert, alles zu tun, was für die Gesunderhaltung unseres Planeten geboten ist (Spektrum Wissenschaft spezial 1 / 07, S. 21).
  • Damit solche Reden keine Vision bleiben, braucht es ein Wirtschaften, welches auf Vernunft, Verantwortung und Vertrauen basiert. Das meint zusammengefasst: Ethisch verantwortbares Handeln in der Wirtschaft muss sich orientieren (a) an den Grundwerten einer menschen- und umweltgerechten Gesellschaft (= ethische Vernunft) und (b) an einem Nutzenbegriff (= ökonomische Vernunft), der in Beziehung steht zu diesen Grundwerten. Ein (c) Zusammenführen der ethischen wie ökonomischen Vernunft schafft Vertrauen in wirtschaftliches Handeln, das aktuell durch Gier und exorbitante Gewinnerwartungen nachhaltig zerstört worden ist. Hier haben, wie bereits erwähnt, die KMUs eine zentrale Verantwortung!

Damit habe ich unversehens unbefangen meinem Herzen freien Spielraum und meiner Zunge freien Lauf gelassen. Lesen Sie zu meiner Zunge und ihrem freien Lauf in aller Nachdenklichkeit nochmals den letzten Abschnitt der Rede von Pestalozzi (Rede S. 77f.).

Ergänzungen zum Vortrag

Lebensdienlich Wirtschaften auf dem Hintergrund des sozialen Gedankens Pestalozzis 1746-1827
Überlegungen aus der Sicht der Wirtschaftsethik

Vortrag von Helmut Kaiser

Symposium zur Langenthaler Rede, Donnerstag 10. April 2008, Neue Helvetische Gesellschaft / Schweiz Der Vortrag – s. oben – selbst nimmt das Visionäre bei Pestalozzi auf. Dieses Visionäre kann keine systematische Darstellung der „Wirtschaftsethik“ von Pestalozzi sein, setzt aber eine solche voraus. Die folgenden Überlegungen sind als Ergänzung / Voraussetzung zum Vortrag gedacht und stellen eine innere Systematik der „Wirtschaftsethik“ von Pestalozzi dar.

Die Anfrage, ein lebensdienliches Wirtschaften auf dem Hintergrund des sozialen Gedankens von Pestalozzi zu skizzieren, hat mich neugierig gemacht. Dabei habe ich mich im Kontext dieses Symposiums auf die Langenthaler Rede von Johann Heinrich Pestalozzi, die er in der Helvetischen Gesellschaft am 26. April 1826 gehalten hat, beschränkt. Eine sich wahrlich lohnende Fokussierung.

Ob der Schluss meines Referates mit dem Schluss der Rede von Pestalozzi vergleichbar ist – das werden Sie, liebe ZuhörerInnen in 20 Minuten hören können!

Vorab, ohne zuviel an Definitionen zu bringen:

  • Ein lebensdienliches Wirtschaften meint, dass alle Menschen durch die Wirtschaft nicht nur gut leben, sondern sie sollen in ihr auch menschengerecht leben können.
  • Ein lebensdienliches Wirtschaften ist ein Wirtschaften, wenn sie die Bedürfnisse der heutigen Generation zu decken vermag, ohne die Möglichkeiten der künftigen Generationen zu schmälern.
  • Ein lebensdienliches Wirtschaften bedeutet, dass alle Menschen, hier in der Schweiz und weltweit, heute und morgen, die gleichen Lebenslagen und Lebenschancen haben (Helmut Kaiser, Ökologische Wirtschaftsdemokratie. Wege zu einem lebensdienlichen Wirtschaften im Kontext der Globalisierung, Aachen 2007, S. 55f.).

1. Ethische Aufmerksamkeit statt Gedankenlosigkeit und Blindheit oder ein Aufruf wider das „affirmative Denken“

Wenn ich als Ethiker im Allgemeinen und als Sozial- und Wirtschaftsethiker im Besonderen die Rede von Pestalozzi vom 26. April 1926 lesen, so fällt mir dessen Achtsamkeit auf, mit der er seine Zeit und deren Zeitgeist beschreibt und ethisch entschlüsselt. Damit bin ich bereits bei einem ersten zentralen Punkt für ein lebensdienliches Wirtschaften: Ethische Achtsamkeit statt Gedankenlosigkeit und Blindheit.
Pestalozzi führt nämlich nach seiner Analyse der Situation aus:

„Freunde und Brüder! Das Traurigste dabei ist noch dieses, dass der Leichtsinn unseres Zeitgeistes uns gleichsam aus einer ernsten und folgenreichen Aufmerksamkeit auf diese Umstände herausgeworfen hat. Wir dürfen uns nicht verhehlen, wir fühlen die gemeinsamen Schwächen, die uns an kraftvollen Mitteln, den Umständen nach dem Grad ihrer wahren Bedürfnisse entgegenzuarbeiten, notwendig sind, nicht genug in uns selbst. Die Mehrheit unseres Volkes ist gedankenlos und zum Teil blind über die Wahrheit unserer Lage...“ (Rede S. 56)

Die subtile Analyse besteht bei Pestalozzi darin, dass der Zeitgeist – das leichte Geldverdienen z.B. (S. 56) – dazu führt, dass die ethische Reflexivität verloren gegangen ist und durch Gedankenlosigkeit und Blindheit ersetzt wurde. Die erste Voraussetzung für ein lebensdienliches Wirtschaften besteht demnach darin, die ethische Reflexivität wiederzuerlangen.

Es geht nicht an, so Pestalozzi interpretierend, dass das Bestehende und Faktische zum ethisch Richtigen wird. Pestalozzi hat erahnt, dass das Bestehende eine normative Kraft entfaltet, eine Kraft, welche leichtsinnig, blind und gedankenlos macht. Scharfsinnig hat Pestalozzi erkannt, dass sich in der Sprache der Wissenschaft Ethik eine normative Kraft des Faktischen entwickelt hat. Das bedeutet konkret für Pestalozzi:

  • Der „Missbrauch des prekären leichten Geldverdienens“ (Rede S. 56) wird zu einem allgemein anerkannten Handlungsprinzip.
  • Die „unnatürlich gereizte und gesteigerte Selbstsucht aller Stände“ (Rede S. 56) wird zur privaten wie politischen Tugend.
  • Die „Irrtümer und Eitelkeiten des spielenden Reichtums sind zum Zeitgeist der Welt und ihrer Führung geworden“. (Rede S. 58) Eine „Art Glückritter wurden zu Tongeber des Schicklichen und Anständigen im Lande“ (Rede S. 45). Mit dieser kritischen Einsicht in die normative Kraft des Faktischen hat sich Pestalozzi als Begründer einer kritischen Theorie der Gesellschaft ausgewiesen. Aktuell bedeutet dies:
  • Wir sprechen in der Technikethik von einem technologischen Imperativ, der heisst: Can implies ought. Das meint: Das technisch Machbare wird zum ethisch Richtigen. Ausgehend von Pestalozzi kann dieser technologische Imperativ als gedankenlos und blind bezeichnet werden.
  • Wir sprechen in der Wirtschaftsethik nach der Wende von 1989 von einem Marktfundamentalismus. Das meint: Der Neoliberalismus 1989 wird zu einem absoluten Erfolgsmodell ohne Alternative. Was hätte wohl Pestalozzi zum „Tina“-Wort von Margret Thatcher gesagt, welches heisst: „There is no alternative“. Das ist in den Worten von Pestalozzi ein exemplarische Blindheit und Gedankenlosigkeit!

Gut 100 Jahre später, nämlich im Jahre 1937, hat der bekannte Philosoph der Frankfurter Schule Herbert Marcuse (1898-1979 in der Zeitschrift für Sozialforschung in seinem Essay „Über den affirmativen Charakter der Kultur“ diese Thematik von Pestalozzi für seine Zeit aufgenommen. Affirmativ heisst: Das Bestehende wird als Bestehendes legitimiert, das Bestehende wird als das Beste angepriesen und verteidigt (Spuren der Befreiung – Herbert Marcuse. Ein Materialbuch zur Einführung in sein politisches Denken, hrsg. von Detlev Claussen, Darmstadt / Neuwied 1981, S. 179, 181).

„Marcuse untersucht in seinem 1964 in den USA erschienenen Werk Der eindimensionale Mensch „die Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“, wie es im Untertitel heißt. Er konstatiert sowohl in der Wissenschaft als auch im öffentlichen Diskurs ein „eindimensionales“ und „positivistisches Denken“. Insbesondere die Wissenschaft flüchte sich aus Furcht vor Werturteilen Werturteilen oder politischer Einmischung in die Empirie und in quantitatives Denken. Grundsätzliche, qualitative Reflexion der gesellschaftlichen Probleme und Aufgabenstellungen fänden in dieser technokratischen Herrschaftswissenschaft nicht statt. Statt die Ungleichheit im Kapitalismus und die nukleare Bedrohung anzugreifen und zu kritisieren, würden diese Probleme nur verwaltet und somit immer neu reproduziert. Marcuse hebt in diesem Zusammenhang einen vom klassischen Marxismus noch nicht beachteten Kapitalismus-Aspekt besonders hervor: Die Manipulation des Individuums, seine Instrumentalisierung durch die suggestive Kraft der Konsumwerbung.

Herbert Marcuse setzt dem die Negation entgegen: einerseits die Verneinung durch Kritik, andererseits die Weigerung, das Spiel mitzuspielen und die Suche nach dem qualitativ Anderen. Marcuse ist bezüglich der Änderung dieser Verhältnisse sehr pessimistisch und betont die stabilisierende, affirmative Kraft des eindimensionalen Denkens.

Das oft aufgegriffene Schlagwort der Großen Verweigerung als Ausweg taucht auf den letzten Seiten auf. Viele Gruppen der ´68er-Bewegung und der alternativen Szenen bezogen sich auf dieses Motiv aber auch auf seine anderen Werke und propagierten ein Aussteigen aus dem kapitalistischem System. Marcuses Utopie liegt darin, eine befreite Gesellschaft vernunfttheoretisch und triebtheoretisch zu begründen, mindestens jedoch die Möglichkeit einer anderen freieren Gesellschaft wach zu halten. In seinem Essay Versuch über die Befreiung (1969), unter dem Arbeitstitel Jenseits des eindimensionalen Menschen geplant, entwickelte Marcuse im Anschluss an Der eindimensionale Mensch eine optimistischere Position.

In seinem 1967 vor Studenten der Freien Universität Berlin gehaltenen Vortrag: "Am Ende der Utopie" wird dieser Ansatz ausgeführt. In Gesellschaften mit hochentwickelten Produktivkräften besteht demnach die Möglichkeit zu einer Umwälzung, durch die Armut und Elend und entfremdete Arbeit abgeschafft werden können. Anders als Marx beschrieben hatte, kann "das Reich der Freiheit im Reich der Notwendigkeit" erscheinen. Marcuse bezeichnet die Negation der bestehenden Gesellschaft als Voraussetzung zur Transformation menschlicher Bedürfnisse. Es bedarf einer jenseits der judäochristlichen Moral stehenden neuen Moral, die die vitalen Bedürfnisse nach Freude und nach dem Glück erfüllt und die ästhetisch-erotischen Dimensionen umfasst. Er befürwortet ein Experiment der Konvergenz von Technik und Kunst sowie von Arbeit und Spiel.
(http://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Marcuse)

Pestalozzi wie Herbert Marcuse befanden sich in historisch wichtigen Zeiten. Beide haben das affirmative Denken radikal in Frage gestellt und damit den Weg vorgespurt für eine humane und lebensdienliche Gesellschaft. Insofern war Pestalozzi nicht einfach nur sozial – obwohl dies ja an sich auch nicht schlecht ist! –, mit seinem Unbehagen an der affirmativen Denkweise hat er zugleich die Grundlage für eine kritische Theorie der Gesellschaft entworfen. Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, die Voraussetzungen für das Neue entfalten zu können. Doch bevor das Neue entfaltet werden kann, werde ich die Position der Gesellschafts-Kritik von Pestalozzi kennzeichnen.

2. Sehen – Urteilen – Handeln: Historischer Humanismus als Position der Gesellschafts-Kritik von Pestalozzi

Pestalozzi hat die ethische Reflexion eingefordert. Er hat zur Überwindung eines affirmativen Denkens aufgefordert, welches die Wahrheit über die Lage der Gesellschaft nicht erkennt. Wer so denkt und aufruft, will nicht bloss zur ethischen Achtsamkeit aufrufen, er hat selbst eine spezifische Position der Kritik.

Aus der Sicht der Ethik und Wirtschaftsethik ist deshalb die Frage von Interesse, mit welcher Grundhaltung der Kritik Pestalozzi seine Rede ausgearbeitet und gehalten hat bzw. vorlesen liess.
Als Pestalozzi am 26. April 1826, im Alter von 80 Jahren seine Langenthaler Rede hielt, befand sich die Schweiz in einer gesellschaftlichen Situation des Umbruchs. Die Industrialisierung seiner Zeit hatte weit reichende Folgen für die Gesellschaft, deren Kultur und Menschen.

So ist seine Rede bestimmt durch ein aufmerksames und kritisches Sehen, bei seinem Urteilen hat er seiner Zunge freien Lauf gelassen und bei seinen Handlungsvorschlägen erkennt er selbst, dass diese mit einer Einseitigkeit vorgetragen wurden.

Wer heute ähnlich kritisch feststellt, urteilt und zum Handeln auffordert, der muss damit rechnen, dass ihm die Vaterlandstreue abgesprochen wird. Hatte Pestalozzi bei seiner Rede auch diese Befürchtung? Auffallend auf jeden Fall ist, wie oft er das Wort Vaterland gebraucht und am Schluss seiner Rede dann ausführt:

„Edle, liebe Eidgenossen und Brüder! Ich bin in meinen Achtzigerjahren mit dem Gefühl in Eure Mitte getreten, es sei wahrscheinlich das letzte Mal, daß ich diese Versammlung besuche. Ich wollte deshalb von allem, was ich nach meinen Ansichten für das Vaterland zu wünschen notwendig und würdig fand, in dieser Stunde kein Wort verschweigen. Ich habe unbefangen meinem Herzen freien Spielraum und meiner Zunge freien Lauf gelassen. Ich weiß, es sind sehr viele Männer in unserem Vaterland und selbst im Kreis unserer Versammlung, die in Rücksicht auf vieles, sehr vieles, wovon ich geredet, richtigere Einsichten und vielseitigere und bedeutendere Erfahrungen als ich haben. Das aber konnte mich nicht hindern, meine, wenn auch einseitigen und beschränkten Ansichten mit der Lebhaftigkeit, Wärme und Zuversicht auszusprechen, die mir die Überzeugung eingeflößt, daß ich mit edeln vaterländischen Männern rede, die, wenn sie auch meine Ansichten nicht mit mir teilen, sondern entgegengesetzte als dem Vaterland für dienlich achten, mir dennoch die Gerechtigkeit widerfahren lassen werden, daß meine Rede aus reinem, vaterländischem Herzen geflossen und mit den Lebensbestrebungen, die ich den Erforschungen der naturgemäßen Begründung des Erziehungs- und Unterrichtswesens des Vaterlandes gewidmet, in Übereinstimmung stehe.“ (Rede S. 77f.) Zur Langenthaler Rede von Pestalozzi gehört vorab, dass er den Mut hatte, Missstände radikal zu benennen. Pestalozzi weiss um die Radikalität seiner Kritik, einer Kritik also, die nicht mit extrem verwechselt werden darf, vielmehr die Probleme an ihren Wurzeln zu erfassen trachtet.

Und nun: welchen Standpunkt der Kritik nimmt Pestalozzi ein? Es ist nicht der historische Materialismus, sondern der historische Humanismus. Es ist wichtig, den Standpunkt der Kritik von Pestalozzi über diese Unterscheidung zu kennzeichnen. Dazu will ich die Vorrede der Rede von Pestalozzi in Vergleich zu zentralen Aussagen im Kommunistischen Manifest von Marx/Engels 1848 aufnehmen:

(1) Vorrede von Pestalozzi 1826
„Die Rede, die ich als diesjähriger Präsident der helvetischen Gesellschaft am 26. April in Langenthal gehalten und in diesen Band aufzunehmen für notwendig erachte, bitte ich vom Standpunkt aus ins Auge zu fassen, was besonders in einem Land, das durch die Folgen einer nicht solid begründeten Industrie in dasselbe in sittlicher, geistiger, physischer und ökonomischer Hinsicht gefährdende Lagen versetzt worden, durch die Erziehung getan werden kann und getan werden muß, wenn den Übeln, an denen Europa diesfalls mehr oder weniger allgemein leidet und an denen es nach und nach zu unterliegen gefahret, vorgebeugt und dieselben da, wo sie Fuß gegriffen, gemildert werden sollen. Eine tiefe und allgemeine Begründung des Volksunterrichts von der Wiege an ist eines der ersten und dringendsten Bedürfnisse der Zeit und ein Mittel, das geeignet ist, diesem Ziel auf eine sichere Weise entgegenzuschreiten.“

Die Industrie, so Pestalozzi, ist nicht „solide begründet“ und dies führt zu einer sittlichen, geistigen, physischen und ökonomischen Gefährdung des Gemeinwesens. Die Volksbildung ist dann ein geeignetes Mittel, um dieser Gefährdung entgegenzutreten.

Historischer Humanismus bedeutet, dass der Standpunkt der Kritik wie der des moral point of view ein moralischer ist. Es geht um Werte, um Sittlichkeit, die neu in Anschlag gebracht werden müssen.

(2) Das Kommunistische Manifest 1848
Im Gegensatz zu Pestalozzi das Kommunistische Manifest:
„Die Geschichte der bisherigen Gesellschaft ist eine Geschichte der Klassenkämpfe...
„Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung’. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohl erworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“ (I)

Im Kommunistischen Manifest werden dann u.a. die folgenden Lösungsvorschläge gemacht:
„Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgoisie nach und nach alles Kapital zu entreissen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates...zu zentralisieren...
Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie. Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds...von Stadt und Land.

...Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form...“ (II Schluss).

Marx und Engels bestimmten die Entwicklung der Gesellschaft als Geschichte der Klassenkämpfe. Die feudalen Beziehungen haben sich in Tausch- und Geldbeziehungen aufgelöst haben und eine offene und unverschämte Ausbeutung bestimmt nun die gesellschaftlichen Beziehungen. Als Lösung wird die Verstaatlichung des Kapitals wie auch die Erziehung aller Kinder vorgeschlagen.

Historischer Materialismus heisst, dass nicht die Werte wie Freiheit oder Gerechtigkeit im Sinne von ewigen Wahrheiten (II / Kommunistisches Manifest S. 66) die Grundlage für eine lebensdienliche Gestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft abgeben, sondern allein „despotische Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse“ (II / Kommunistisches Manifest S. 67). In dieser Begrifflichkeit – „despotische Eingriffe“ – erkennen wir bereits die humanen Abgründe des historischen Materialismus.

Spannend ist bei dieser Darstellung im Standpunkt der Kritik:

  • Pestalozzi und Marx haben wichtige Punkte der Übereinstimmung in Bezug auf Analyse wie Lösung: Das Geld nimmt einen dominanten Stellenwert ein und die Erziehung wird zu einer wichtigen Strategie der Veränderung.
  • Grundsätzliche Unterschiede bestehen in der gesellschaftlichen ökonomischen Analyse wie dann in der Strategie. Marx analysiert die Gesellschaft im Unterschied von Pestalozzi in Kategorien der politischen Ökonomie – Macht, Ausbeutung, Klassen – und kommt aufgrund dieser ökonomischen Analyse zur Einsicht, dass das Kapital in die Hand des Proletariats muss. Pestalozzi dagegen denkt in Kategorien der Ethik. Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Gemeingeist werden grundlegend und führen zur Strategie der Volkserziehung.

Diese Gegenüberstellung des Kommunistischen Manifests mit der Langenthaler Rede lässt in Bezug auf das lebensdienliche Wirtschaften die folgenden Fragen zu:

  • Wie hätte Pestalozzi 20 Jahre später gedacht und geredet. Wenn er dies erlebt hätte und nochmals eine Langenthaler Rede hätte halten können? Hätte er so gedacht wie Marx und Engels?
  • Was braucht es für ein lebensdienliches Wirtschaften: Den Humanismus oder den Materialismus oder beides?
  • Ist es nicht so, der historische Materialismus zu einem unmenschlichen Kathersozialismus führte, weil er den historischen Humanismus ablehnte und abzuschaffen versuchte.
  • Ist es nicht so, dass der Humanismus eines Pestalozzis keine wirklich lebensdienliche Wirtschaft begründen mag, weil dieser sich allein in den ewigen Wahrheiten bewegt und die Veränderung der Produktionsverhältnisse ausser Acht lässt?

Pestalozzi hat den Standpunkt seiner Kritik klar bestimmt. Wir fragen heute, inwiefern dieser Standpunkt der Kritik ausreicht? Eine Frage, die grundlegend ist und die uns Pestalozzi als Aufgabe stellt! Das Gesellschaftsmodell von Pestalozzi gibt gerade auf die letzte Frage eine Antwort:

3. Das Neue ethisch fundieren – Der „Gemeingeist“ als Voraussetzung für ein lebensdienliches Wirtschaften

Das Bestehende wird aus der Position des historischen Humanismus radikal kritisiert. Auf ein kritisches Sehen und ein kritisches Urteilen folgt die Frage, wie denn das Neue ausgestaltet werden soll. Vorab gilt, dass Pestalozzi das Neue, die Industrialisierung nicht ablehnte, sondern forderte, das Neue ethisch zu fundieren.

Diese ethische Fundierung ist die Voraussetzung, dass das neue Wirtschaften lebensdienlich wird:
„Auch ist alles Neue immer noch unreif. Seine erste Erscheinung ist zwar fast immer blühend, aber ein leichter Wind tötet, wie wir alle wissen, die jungen, keimenden Blüten; und wo das nicht ist, da geht es doch immer lange, heiße Sommertage hindurch, ehe auch die gesundesten Blüten zu reifen Früchten gedeihen. Seien wir doch im Segensgenusse unserer neuen Verfassungen edelmütig und sorgfältig genug, die Betrachtung ernsthaft zu würdigen, daß jede neue bürgerliche Laufbahn sehr leicht und oft mit verführerischen Reizen auf Abwege von den ersten Fundamenten des in sich selbst erneuerten vaterländischen Geistes und der in ihrem Innern neu belebten Vorsorge fürs Volk hinzuführen geneigt ist!“ (Rede S. 57) In seiner bildhaften Sprache weist Pestalozzi darauf hin, dass das Neue, welches als Neues immer unreif ist, der Pflege bedarf. Und gepflegt werden kann das Neue durch die „Wiederherstellung des alten schweizerischen Vaterlands- und Gemeingeist“ (Rede S. 57) Es ist der Gedanke des Gemeingeistes, der immer wieder von Pestalozzi aufgenommen wird, der die folgenden drei Probleme sehen und einer Lösung zuführen kann:

  • Die verderblichen Folgen des Übermasses unseres prekären Geldzuflusses. (so Rede S. 56) und der Missbrauch des prekären leichten Geldverdienens. (so Rede S. 56)
  • Die Gefahr, die Ressourcen, die wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse und Angewöhnungen bedürfen, schnell und vielseitig zu verlieren. (so Rede S. 56)
  • Die Kräfte unseres Mittelstandes haben sich gegenwärtig auf eine sehr beunruhigende Weise vermindert. (so Rede S. 56)

Drei Grundprobleme nennt Pestalozzi. Das erste bezieht auf die Dominanz des Geldes, beim zweiten darf und muss die Nachhaltigkeit gedacht werden und das dritte bezieht sich auf die Schwächung des Mittelstandes.

Durch die Wiederherstellung des Gemeingeistes lassen sich diese drei Probleme bearbeiten. Dies aber bedarf grosser Anstrengungen, weil der gegenwärtige Zeitgeist der Selbstsucht und Gier den Gemeingeist schwächt und gefährdet. (Rede S. 57).

Abb.:
Das republikanisch-liberale Modell von Gesellschaft bei Pestalozzi

Zur Erläuterung des Gesellschaftsmodells von Pestalozzi die folgenden Hinweise:

(1) Freiheit und Gemeingeist

Das Gesellschaftsmodell von Pestalozzi habe ich als republikanisch-liberal (s. Simon Kuert, Johann Heinrich Pestalozzi 1746-1827, Band Rede 2008, S. 81-87, 87) bezeichnet, womit der Freiheitsbegriff zu Debatte steht. Freiheit, das kommt in seiner Langenthaler Rede ganz deutlich zum Ausdruck, ist eine Freiheit mit Bindungen. Gerade an der Stelle, an der er die Allmacht der französischen Revolution als Schreckensgewalt radikal kritisiert, einer Allmacht, welche die Eintracht und damit den Gemeingeist zerstört (Rede S. 53). Mit dieser Einschätzung kritisiert Pestalozzi ein rein libertäres Freiheitsverständnis und weist wie die moderne philosophische Theorie des Kommunitarismus darauf hin, dass die Freiheit gemeinsame Bindungen – Solidarität, Gerechtigkeit, Fürsorge – braucht, will sie erhalten oder ausgebaut werden. Damit hat Pestalozzi die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Gemeinschaft aufgeworfen, das jede Ordnungspolitik beantworten muss, eine Frage, welche zum Unterscheidungskriterium von ordnungspolitischen Konzeptionen wird (Helmut Kaiser, Ökologische Wirtschaftsdemokratie. Wege zu einem lebensdienlichen Wirtschaften im Kontext der Globalisierung, Aachen 2007, S. 106ff.).

(2)Wertschätzung der Arbeit und das Zusammenwirken der Produktionsfaktoren

Indem Pestalozzi das leichte Geldverdienen einer harschen Kritik unterzieht und die Bedeutung des Mittelstandes herausstreicht, erhält die Arbeit als Produktionsfaktor eine grundlegende Bedeutung. In seiner Parabel über das „Feuer und das Eisen“ kommt seine Wertschätzung der Arbeit und zugleich das Zusammenwirken der Produktionsfaktoren schön zum Ausdruck:

„Das Feuer sagte zum Eisen: ich bin dein rechtmäßiger Herr. Das Eisen antwortete: ich kenne deine Gewalt über mich; aber ich achte sie nie weniger für rechtmäßig, als wenn du mich schmelzest. Diese Antwort missfiel der hochfahrenden Flamme; sie kneisterte, rauchte und sprach: der mich schuf, gab mir meine Gewalt über dich. Das Eisen erwiderte: es sind indessen doch nur Menschenhände, die mich in die Esse und in den Tiegel legen. Ein Prachtgeländer von Eisen, das dieses Gespräch hörte, erwiderte: ich lobe mir das Feuer, das mich schmelzt, ich lobe mir die Zange, die mich in die Esse legt und die Menschenhand, die mich schmiedet, sonst wäre ich noch elendes Erz, deren es Berge voll hat, und auf das niemand achtet. So verschieden sind die Ansichten über den nämlichen Gegenstand, wenn sie von verschiedenen Standpunkten ins Aug' gefasst werden.“

In der Geschichte der Ökonomie haben sich ausgehend von der Frage nach dem Stellenwert der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital klar unterscheidbare Schulen herausgebildet. Die Fabel vom Feuer und verweist auf den Grundkonflikt von Arbeit und Kapital, einen Konflikt der wider Erwarten in Bellinzona im Rahmen des Arbeitsplatzabbaues von SBB-Cargo Mitte März eruptiv aufgebrochen ist. Und die Lösung dieses Grundkonfliktes in der Parabel: Alle Faktoren sind aufeinander angewiesen, das eine kann ohne das andere nicht wirksam sein. Nur durch das gegenseitige, gemeinsame Zusammenwirken werden Ziele erreicht. Mit diesem Gedanken des gegenseitigen Zusammenwirkens und aufeinander Angewiesensein kann das Modell einer partizipativen Kooperation von Arbeit und Kapital begründet werden! (Helmut Kaiser, Ökologische Wirtschaftsdemokratie. Wege zu einem lebensdienlichen Wirtschaften im Kontext der Globalisierung, Aachen 2007, S. 1135ff.).

(3) Nationalbildung und Erziehung der Armen und die eigentumslosen Armen

Pestalozzi blieb nicht bei der Analyse stehen, vielmehr vertrat er die Meinung, dass das Vaterland der „Nationalbildung“ bedarf:

„Vaterland! Die Nationalbildung, deren du bedarfst, muß mit der Kraft ihrer tieferen Einwirkung auf die Menschennatur alle Stände des Volkes in einer Art von Ebenmaß ergreifen und in dieser Rücksicht gegenwärtig in der Bildung eines jeden Standes höher streben, weil ohne dieses das allgemeine Höherstreben, dessen wir bedürfen, durch das Zurückstehen jedes einzelnen in seinem Wesen gehemmt und die Erzielung des Ebenmaßes in demselben unerreichbar gemacht wird. (Rede S. 70)

Diese Bildung gilt gerade auch für die Armen und das Vaterland soll den Armen die Bildung im „altschweizerischen Geist mit Weisheit, Liebe und Selbstsuchtlosigkeit“ (Rede S. 73) zukommen lassen. Die Forderung nach Erziehung der Armen erscheint im Wissen um die Analysen eines Karl Marx auf den ersten Blick unkritisch-naiv, doch weist Pestalozzi in diesem Zusammenhang sofort auch darauf hin, dass es die gegenwärtige Gesellschaft versäumt hat, die Lebensverhältnisse der Armen so zu gestalten, dass sie ihre Kräfte und Fähigkeiten segensvoll nutzen können. In dieser Aussage scheint eine Philosophie auf, welche über die Differenz von Existenz – das reale Leben – und Essens – wesentlich zum Menschsein gehörend, lebenswichtig – solche Lebensverhältnisse einfordert, die es allen Menschen möglich machen, ihre Kräfte und Fähigkeiten segensvoll nutzen zu können:

„Das Vaterland muß lernen, seine Armen als Arme zu erziehen. Unsere Armen sind in dieser Beziehung eigentlich an sich nichts weniger als arm; sie sind im Gegenteil in vielen unserer Gegenden diesfalls vorzüglich reich. Ihr Reichtum liegt in ihnen selbst; er liegt in ihren geistigen und physischen, einer hohen Bildung fähigen und würdigen Kräften. Die Erziehung des Armen ist deshalb dem Vaterland nicht darum schwer, weil er arm ist, sondern weil wir allgemein keine genugsamen Mittel in unserer Mitte organisiert haben, die geeignet sind, ihn zur segensvollen Benutzung der Kräfte und Fertigkeiten, deren er in seiner Lage und in seinen Umständen dringend bedarf, zu bilden und zu erziehen.“ (Rede S. 72).

Wohl fehlt der Rede von Pestalozzi das Pathos der Revolution, doch hat Pestalozzi das gesellschaftliche Problem der ins „Unermessliche steigende Vermehrung der eigentumslosen Menschen“ (Rede S. 75) erkannt und mit der Begrifflichkeit „eigentumslose Arme“ (Rede S. 73, 69) so nebenbei eine entlarvende Gesellschaftsanalyse durchgeführt. Die gegenwärtige Gesellschaft ist gespalten in zwei Klassen: Auf der einen Seiten gibt es die Reichen, welche von grossen Geldzuflüssen profitieren, auf der andere Seite gibt es die eigentumslose Armen. Diese „Disharmonie“ (Rede S. 76) stellt eine gefährliche Gefährdung des Gemeinwesens dar.

Der „Gemeingeist“ wird als Voraussetzung für die ethische Fundierung des Neuen von Pestalozzi gefordert, wobei das republikanisch-liberale Gesellschaftsmodell bei Pestalozzi drei spezielle Fragestellungen enthält, die gerade auch heute aktuell sind und beantwortet werden müssen:

  • In welcher Beziehung stehen Freiheit und Gemeinsinn, Freiheit und Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit?
  • Wie ist eine lebensdienliche Kooperation der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital möglich und welchen Stellenwert hat der Produktionsfaktor Boden, mit welchem die ökologische Nachhaltigkeit als Ordnungsrahmen allen Wirtschaftens mitgedacht wird?
  • Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Einsicht, dass Eigentum Freiheit schafft?

In alle diesen Fragen gilt unmissverständlich. Pestalozzi sagt dem klassischen ökonomischen Liberalismus – Eigennutz, Eigeninteresse, Gewinnerzielung –, dass er ohne den philosophischen Freisinn (= Kant, Freiheit mit Bindungen) zu einem einfältigen ökonomistischen Liberalismus pervertiert, der nur das schnelle und leichte Geldverdienen zum Ziel hat und damit den Gemeingeist zerstört. Mit Pestalozzi kann die aktuelle Bankenkrise auf diesen „Geist“ – Geist des Kapitalismus Max Weber –des pervertierten ökonomischen Liberalismus zurückgeführt. So wird gegen diesen Geist zur Zeit mit Recht Anklage erhoben, was zeigt, dass unsere demokratischen Institutionen die ernsthafte Gefahr sehen, welche von diesem „Geist“ für Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft ausgehen. Dazu konkretisierend und ohne weiteren Kommentar zwei aktuelle Beispiele aus dem schweizerischen wie internationalen wirtschaftpolitischen Alltag:

„Countrywide Financial im Visier des FBI
Cis. Die amerikanische Bundespolizei FBI hat beim grössten US-Hypothekarinstitut, Countrywide Financial Corporation, Ermittlungen wegen möglicher betrügerischer Aktivitäten sowohl im Zusammenhang mit der Vergabe von Hypotheken als auch bezüglich der Darstellung der Finanzlage nach aussen eingeleitet. Die Buchführungs-Praktiken der Hypothekenbank werden bereits von der Börsenaufsichtsbehörde SEC durchleuchtet. Bei den Untersuchungen beider Behörden geht es schliesslich auch um die Frage, ob Countrywide bei der Verpackung von Hypotheken in verbriefte Produkte Falschangaben über die Qualität der Hypothekardarlehen gemacht hat. Eine Sammelklage von mehreren öffentlichen Pensionskassen erhebt genau diese Anschuldigungen und nennt etliche Mittäter.“ (NZZ Montag 10.3.2008 / Nr. 58, S. 1).

„Etappensieg von Implenia im Kampf gegen Laxey
Gy. Der grösste Baukonzern der Schweiz. die Implenia-Gruppe, hat im Kampf gegen den unwillkommenen Grossaktionär Laxev Partners vor der Eidgenössischen Bankenkommission (EBK) zwar einen Etappensieg errungen, die Auseinandersetzung zwischen den beiden Parteien könnte aber noch lange anhalten. In der jüngst ergangenen Verfügung der EBK wird Laxey angelastet, der Fonds habe beim Aufbau der Implenia-Beteiligung Meldepflichten verletzt, was den Gegnern ein ganzes Sortiment von Sanktionen verfügbar machen dürfte. Das Laxey-Lager hält allerdings dagegen und macht geltend, dass im vergangenen Frühling, als die Position aufgebaut worden sei, noch die alten Gesetze gegolten hätten, welche die nun angeprangerten Methoden durchaus erlaubt hätten. Die Lage ist insofern verfahren, als Laxey als Hauptaktionär mitten in einem Pflicht-Übernahmeangebot für Implenia steckt, vom Verwaltungsrat aber abgewiesen wird.“ (NZZ Mittwoch 12.3.2008 / Nr. 60, S. 1)

Bobst, Richard:
Die Geschichte der Ammann-Unternehmungen, in: Metall – Textil – Porzellan – Frites und Chips. Ein Beitrag zur Langenthaler Wirtschaftsgeschichte, Langenthaler Heimatblätter, hrsg. von der Stiftung zur Förderung wissenschaftlich-heimatkundlicher Forschung über Stadt und Gemeinde Langenthal, Redaktion Simon Kuert, Langenthal 2004, S. 87-104.

Duchrow, Ulrich u.a.:
Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu ihrer Überwindung, Hamburg 2006.
Expertengruppe Energieszenarien Schriftenreihe Nr. 15, Neue gesellschaftliche Prioritäten und Energiepolitik, ausgearbeitet durch Christian Lutz u.a., Bern 1988, S. D-30–D-32 / S. D-1–D-159.

Fritsch, Sibylle:
Arbeit schützt vor Armut nicht, in: Psychologie heute August 2003, S. 38-41.

Janert, Josefine:
Warum noch arbeiten? in: Psychologie heute März 2008, S. 62-66.

Kaiser, Helmut:
Ökologische Wirtschaftsdemokratie. Wege zu einem lebensdienlichen Wirtschaften im
Kontext der Globalisierung, Aachen 2007.

Kehrli, Christin: / Knöpfel, Carlo:
Handbuch Armut in der Schweiz, Caritas Luzern 2006.

Kuert, Simon:
Johann Heinrich Pestalozzi 1746-1827, in: Johann Heinrich Pestalozzis Langenthaler Rede
in der Helvetischen Gesellschaft am 26. April 1826, hrsg. von Johann N. Schneider-Ammann, Langenthal 2008, S. 81-87.

Marcuse, Herbert:
Spuren der Befreiung – Herbert Marcuse. Ein Materialbuch zur Einführung in sein politisches Denken, hrsg. von Detlev Claussen, Darmstadt / Neuwied 1981.

Marx, Karl / Engels, Friedrich:
Manifest der Kommunistischen Partei von 1848.

Erik Nolmans:
Die Rekordzocker. Gambling aus Gier und Gewissenlosigkeit – mit Milliardenverlusten Bilanz 5/2008 (7.-19. März 2008), S. 30-39.

Osterloh, Margrit:
Professorin für Betriebswirtschaftslehre, Universität Zürich; Bilanz 5/2008, S. 39.
Pestalozzi, Johann Heinrich: Johann Heinrich Pestalozzis Langenthaler Rede in der Helvetischen Gesellschaft am 26. April 1826, hrsg. von Johann N. Schneider-Ammann, Langenthal 2008.

Schneider-Ammann, Johann N.:
Interview, in: Berner Oberländer Samstag 15.3.08, S. 40.
Spektrum Spezial der Wissenschaft 1/07.

Ulrich, Peter:
Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung, Freiburg i.Br. 2005

Villiger, Kaspar:
Mit regulatorischer Hektik ist der Subprime-Krise nicht beizukommen. Voreiliger Ruf von Schönwetter-Liberalen nach der helfenden Hand des Staates, in: NZZ 1.4.08, S. 29.