Von der Helvetischen Gesellschaft zur Neuen Helvetischen Gesellschaft

François de Capitani

Als 1764 ein französischer Diplomat die Schweiz bereiste, fasste er die politische Lage folgendermassen zusammen: „ Zürich hasst Bern und Bern gibt es mit Zinsen zurück. Beide verabscheuen die Katholiken. Diese fürchten die beiden Städte und trauen ihnen nicht. Zürich und Bern umschmeicheln einige Urkantone, fürchten sich aber vor ihnen und sind von der Zuverlässigkeit ihrer eigenen Untertanen nicht völlig überzeugt. Die katholischen Städte und die Waldstätten verachten sich gegenseitig. Schaffhausen und St. Gallen verwünschen Zürich, Basel verabscheut Bern. Die protestantischen Appenzeller und Glarner unterstützen eher die Landsgemeindeorte als ihre Glaubensgenossen.“[i]

Er nahm die Eidgenossenschaft als ein System sich gegenseitig blockierender Konflikte wahr, das nicht mehr fähig war, sich veränderten Herausforderungen zu stellen. Und diese Herausforderungen waren mannigfaltig. Industrie und Handel hatten die Gesellschaft verändert: neben den alten Familien der Aristokratien war eine Schicht von selbstbewussten Unternehmern und Intellektuellen herangewachsen, deren Erwartungen an einen modernen Staat erfüllt werden mussten, sollten nicht dessen wirtschaftliche Grundlagen gefährdet werden. Längst lebten die Stände nicht mehr allein von den alten Feudalabgaben, sondern profitierten vom im Entstehen begriffenen Welthandel und von ihrem Engagement in den internationalen Kapitalmärkten. Die Kluft zwischen den Orten, die den Anschluss an die Moderne suchten und suchen mussten und jenen, für die die Modernisierung eine Infragestellung ihrer bisherigen Privilegien bedeuten konnte, öffnete sich immer weiter. Doch wie liessen sich diese Gräben überwinden? Schon sie zu erkennen brauchte Mut in einer Gesellschaft, wo Politik im Selbstverständnis der Regierungen nichts ausserhalb der Ratsstube zu suchen hatte.

Auch hatte sich langsam, fast unmerklich die Gesellschaft verändert. Eine neue Geselligkeit war entstanden, ausserhalb der traditionellen Institutionen des Staates und der Kirche. Vom zwanglosen Zirkel über die Salons bis hin zu den Logen der Freimaurer waren Orte der Diskussion, der Debatten, der Utopien entstanden. Nicht mehr nur unter Männern in der Zunftstube wurde beim Wein diskutiert, sondern immer häufiger im Salon, bei Kaffee und Tee und in Gesellschaft der Frauen. In diesen „salons d’esprit“ wurden literarische und politische Werke diskutiert und auch über die Zukunft des Vaterlandes debattiert. Hier trafen sich Männer und Frauen über Standesgrenzen hinweg. Nicht allein Geburt und Stand zählten, auch Reichtum und Bildung konnten Distinktion und Zutritt zu den besten Kreisen verleihen. Nicht allen war diese neue Geselligkeit geheuer; immer wieder versuchten die Obrigkeiten einzuschreiten und die Orte der Geselligkeit zu kontrollieren und wenn möglich zu beschränken. Allerdings, gerade in den regierenden Eliten waren auch die Vordenker eines neuen Gesellschaftsbildes zu finden und so ging der Riss in der Gesellschaft nicht zwischen den alten und den neuen Eliten, sondern quer durch beide hindurch.

Als 1760 der Basler Ratsschreiber Isaak Iselin einige Zürcher Freunde zur Feier des 300-jährigen Jubiläums der Basler Universität einlud, konnte es nicht ausbleiben, dass der Zustand und die Zukunft der Eidgenossenschaft unter ihnen ausgiebig diskutiert wurde. Daraus entstand der Gedanke, sich wieder zu treffen und auch Freunde aus anderen Orten, möglichst aus allen Orten der Eidgenossenschaft in die Debatte einzubeziehen. Schon im nächsten Jahr traf man sich in Schinznach zu einer „Lustpartie“ und aus dieser „Lustpartie“ kristallisierte sich die Idee heraus, regelmässig solche Treffen zu veranstalten: die Helvetische Gesellschaft war geboren.[ii]

Ihr Ziel war in den Grundzügen klar: die Eidgenossenschaft sollte auf neue Grundlagen gestellt werden; dabei ging es weniger um eine konkrete Staatsreform, denn eine solche hätte niemals Chancen auf eine Realisierung gehabt, als um ein Umdenken. Die Eidgenossenschaft sollte mehr sein als ein ausgeklügeltes System von Sonderinteressen, ein austariertes Zusammenspiel von sich blockierenden Konflikten; sie sollte eine Wertegemeinschaft sein, geprägt von Toleranz und Freundschaft.

Dieses Programm barg Sprengstoff: es bedeutete, dass die Eidgenossenschaft nicht allein auf Bündnissen, Privilegien und Verträgen beruhte, sondern auf einem alle Schweizerinnen und Schweizer einbeziehenden Konsens über die Zukunft. Im Zentrum stand die Überwindung der konfessionellen Spaltung, die damals – 50 Jahre nach dem Bürgerkrieg von 1712 – noch allgegenwärtig war. Reformierte und Katholiken sollten sich treffen können, ohne dass die Konfession im Vordergrund stand. „Reformierte Schweizertreu ist mit Römscher einerley“, sangen die Teilnehmer der Versammlungen in einem ihrer Lieder. Die Erneuerung eines gemeineidgenössischen Bewusstseins sollte aber auch über die Reform der Erziehung geschehen. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass nur über die Erziehung der neuen Generationen das Projekt eines wieder erstarkten Gemeinsinns realisiert werden könnte.

Konkrete Erfolge konnten nicht erzielt werden; das waren sich die Gründer der Gesellschaft auch bewusst. Doch sie konnten einer neuen Zivilgesellschaft den Boden bereiten. Schon die Tatsache, dass sich Männer aus verschiedenen Orten zum Gespräch trafen, erregte Aufsehen. Drei Tage lang – immer in der Woche vor Pfingsten – traf man sich in Schinznach, später in Olten oder Aarau. Auf dem Programm standen die Rede des Präsidenten und weitere Vorträge; dazwischen blieb viel Zeit für die Pflege der Freundschaft in wechselnden Gruppen. Höhepunkte waren die gemeinsamen Mähler, bei denen man immer wieder das Vaterland hochleben liess. Unter dem Absingen patriotischer Lieder kreiste schliesslich der Becher gefüllt mit „Schweizerblut“, dem Wein eines Rebberges bei St. Jakob an der Birs, und das gegenseitige Zutrinken besiegelte die Freundschaft.

Der Patriotismus der Helvetischen Gesellschaft sollte keine Nabelschau und keine Selbstverklärung sein, Für Isaak Iselin war der wahre Patriotismus der „Ausfluss der reinsten Menschen-Liebe. Sie schränktet sich nicht in die engen Grenzen eines Landes oder einer Nation ein.“ Die Vaterlandsliebe ist hier untrennbar mit der Achtung aller Völker verbunden: „Wie grösser die Macht, wie grösser die Glückseligkeit, wie grösser der Wohlstand aller Völker ist, desto grösser muss auch der eurige werden.“ Das waren neue Töne: wahrer Patriotismus wurde verstanden als Öffnung auf die Welt und nicht als Abschottung.

Doch diese scheinbar harmlose Abfolge von patriotischen Zeremonien erlaubte es, en passant, ganz neue Vorstellungen des schweizerischen Gemeinwesens vorzuleben. Regelmässig wechselte das Präsidium zwischen den Orten ab, und – wenn Bern an der Reihe war – so konnte durchaus auch ein Bürger aus Aarau als Berner Vertreter Präsident werden. Mitglieder aus der französischen Schweiz waren hochwillkommen, niemand frage nach der genauen staatsrechtlichen Stellung von Neuenburg oder Genf im Corpus Helveticum. Ja, der letzte Präsident vor der Revolution war ein Neuenburger, der keinen Zweifel an der Zugehörigkeit seiner Heimat zur Schweiz aufkommen liess. Auch Ausländer, die der Schweiz besonders verbunden waren, konnten Mitglieder werden und für viele Reisende durch die Schweiz waren die Versammlungen der Helvetischen Gesellschaft eine Sehenswürdigkeit, die man nicht verpassen durfte. Schliesslich nahmen Mitglieder auch ihre Gattinnen und heranwachsenden Söhne und Töchter zu den Versammlungen mit, so dass eine sehr bunte Gesellschaft sich zusammenfand: Mitglieder, Gäste aus dem In- und Ausland und Familienangehörige.

In den jährlichen Versammlungen der Gesellschaft wurde eine politische Öffentlichkeit vorgelebt, die einen Bruch mit dem Ancien Régime bedeutete. Drei Tage lang lebten die Mitglieder und Gäste in einer kleinen, erneuerten Eidgenossenschaft. Das war aber nur möglich, indem peinlichst darauf geachtet wurde, die brisanten Fragen der Tagespolitik nicht anzusprechen. Hier stiess die Gesellschaft an ihre Grenzen: sie konnte auf einer abstrakten Ebene an die Einheit appellieren, die Freundschaft innerhalb des Kreises ihrer Mitglieder vorleben, doch Stellungsnahmen zu Tagesgeschäften hätten sie unweigerlich gespalten. Sprach man in den ersten Jahren noch von einer „philosophischen Tagsatzung“ eines kleinen Kreises von gleichgesinnten Freunden, so wurde im Verlauf der Jahre daraus ein Grossanlass mit bisweilen über 200 Teilnehmenden, eben – wie es ein begeistertes Mitglied der Gesellschaft ironisch bemerkte – eine „Patriotenchilbi“. Das Fest wurde zum Abbild der Republik, zum Symbol der Erneuerung des Gemeinwesens.

Dieser äusseren Form er Anlässe ist es auch zu verdanken, dass die Gesellschaft nicht mit ihrer Gründergeneration ausstarb. In diesen Strukturen gelang es, die jüngeren Generationen nachzuziehen und für die Gesellschaft zu begeistern. So trafen sich in Olten und Aarau in den letzten Jahren vor der Revolution sowohl überzeugte Vertreter der alten Ordnung wie auch die Anhänger der Revolution und künftigen Magistraten der Helvetischen Republik zum gemeinsamen Gespräch. Die Revolution in Frankreich polarisierte die Meinungen, doch auch hier suchte die Gesellschaft den Dialog zwischen den Parteien. Die flammende Rede des jungen Brugger Arztes Albrecht Rengger im Jahre 1793 trug den programmatischen Titel „Über die Verketzerungssucht in unseren Tagen“. Er verlangte von beiden Seiten Toleranz und Offenheit. Rengger, der künftige Innenminister der Helvetischen Republik, geisselte sowohl den Fanatismus der Revolutionäre wie die Sturheit der Regierungen.

Die Helvetische Gesellschaft des Ancien Régime war eine gelebte Utopie im Rahmen eines Freundeskreises, der allen offen stand, die sich zur ökonomischen und intellektuellen Elite des Landes zählen durften. Eingebettet in ein grosses Netz von lokalen Gesellschaften stellte sie das einzige Forum für eine gesamtschweizerische Debatte dar und hier liegt ihre entscheidende Bedeutung weit über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus.

Als die Gesellschaft nach einem zehnjährigen Unterbruch 1808 ihre Tätigkeit wieder aufnahm, hatte sich das politische Umfeld grundlegend verändert. Ehemalige Untertanengebiete waren zu eigenständigen Kantonen geworden, doch die Spannungen innerhalb der Eidgenossenschaft hatten sich nochmals verschärft und brachten die Schweiz bis 1847 immer wieder an den Rand eines Bürgerkriegs. Noch immer versuchten die Mitglieder der Helvetischen Gesellschaft zu vermitteln, doch war sie nur noch eine Stimme im Konzert der politischen Öffentlichkeit, an deren Entstehung sie massgeblich beteiligt gewesen ist. In die Zeit der Mediation und der Restauration fällt die Gründung der grossen gesamtschweizerischen Vereine. Neben den wissenschaftlich orientierten Vereinen wie die Schweizerische Naturforschende oder die geschichtforschende Gesellschaft waren es die Schützen-, Sänger- und Turnvereine, in denen sich die Bürger in grosser Zahl engagierten. Ihre eidgenössischen Feste nahmen Elemente der Rituale der Helvetischen Gesellschaft auf und wurden zu machtvollen Demonstrationen breiter Bevölkerungskreise für eine Erneuerung der Eidgenossenschaft.

Die Helvetische Gesellschaft versuchte im frühen 19. Jahrhundert an die Tradition des Dialogs zwischen verschiedenen politischen Positionen anzuknüpfen, doch gelang es ihr immer weniger, die Exponenten der verhärteten politischen Fronten zum gemeinsamen Gespräch und Fest zusammen zu bringen. Mit dem Ancien Régime war auch das „gesellige Jahrhundert“, wie Ulrich Im Hof das 18. Jahrhundert genannt hat[iii], untergegangen. Der gesellschaftliche Hintergrund war ein anderer geworden. Die Salons und Sozietäten, Orte der Musse, der Belehrung und Unterhaltung einer kleinen Oberschicht, hatten Massenveranstaltungen Platz gemacht, die immer mehr Bürger ansprechen konnten. Die Langenthaler Versammlung von 1826 war wohl eine der letzten, in der etwas vom Geist der „Lustpartien“ und „philosophischen Tagsatzungen“ des Ancien Régime wiederbeschworen wurde.

Nach 1830 wurde die Helvetische Gesellschaft immer einseitiger zur Tribüne der liberalen und später der radikalen Ideen. Folgerichtig löste sie sich bald nach der Gründung des Bundesstaates von 1848 auf: das Ziel der letzten Generation ihrer Mitglieder schien erreicht.

Doch mehr als 50 Jahre später, kurz vor dem Ersten Weltkrieg erinnerten sich einige junge Männer aus der Westschweiz an den Geist der Helvetischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Wiederum war die Schweiz tief gespalten. Spannungen zwischen den Sprachregionen und soziale Konflikte liessen Zweifel aufkommen, ob die Eidgenossenschaft noch eine Zukunft haben konnte. Die Gründung der Neuen Helvetischen Gesellschaft im Jahre 1914 setzte sich zum Ziel, diese Gräben nicht als schicksalsgewollt zu verstehen, sondern als Herausforderung zum Handeln. Hier traten nun Männer aus den verschiedenen Sprachregionen zusammen, um die Entfremdung zwischen den Sprachregionen zu überwinden. Nicht mehr an den konfessionellen Grenzen, sondern an den Sprachgrenzen drohte die Schweiz zu zerbrechen. Wie den Gründern der Helvetischen Gesellschaft, ging es ihnen weniger um das Tagesgeschäft, sondern um eine neue Grundhaltung und eine neue politische Kultur: die Schweiz sollte mehr sein als eine Summe von Sonderinteressen, sondern eine solidarische, tolerante und verantwortungsbewusste Gemeinschaft. Dies sind bis heute ihre Ziele geblieben und leider weist nichts darauf hin, dass der Appell an diese grundlegenden politischen Tugenden überflüssig geworden wäre.

Erich Gruner hat den hat einmal die Schweiz folgendermassen charakterisiert: „Die eigentliche kulturelle Leistung der Schweiz liegt in der Leidenschaft vieler ihrer Bürger für die Politik.“[iv] In der Helvetischen Gesellschaft wurden erstmals Ansätze zu dieser politischen Kultur entwickelt, die seither die Schweiz prägt und hoffentlich noch lange prägen wird.

[i] Barthès de Marmorières, Itinéraire du voyage faite à la diète Juillet 1764. Zit, nach Rudolf Witschi, Friedrich der Grossse und Bern. Bern 1926, S, 167

[ii] Zur Helvetischen Gesellschaft: Ulrich Im Hof/François de Capitani Die Helvetische Gesellschaft – Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz. 2 Bde, Frauenfeld 1983

[iii] Ulrich Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982

[iv] Erich Gruner, Politische Führungsgruppen im Bundesstaat, Bern 1973. S. 65