Ein Schweizer-Blatt, 1782

Der Autor stellt sich dem Leser vor

PSW 8, S. 3-10

Redaktion und Kommentar: Arthur Brühlmeier
Rechtschreibung und Interpunktion entsprechen nicht der Kritischen Ausgabe von Pestalozzis Schriften, sondern der regularisierten Fassung auf der CD-ROM.

Hier wird das Eröffnungsgespräch - leicht gekürzt und heutigen Sprachnormen angepasst - wiedergegeben, in welchem sich Pestalozzi, der anonym bleiben wollte, mit einem erdachten Leser über seine Absichten, aber auch über seine grundlegenden Ansichten und seinen eigenen Charakter unterhält. Es findet sich manche Perle in diesem kleinen Dialog. Besonders pikant ist, daß Pestalozzi ausgerechnet jene attackiert, die er mit seiner Zeitschrift eigentlich ansprechen will: die Belesenen. Pestalozzi spricht dabei etwas abschätzig von der "Leserzunft" und meint damit jene Stubengelehrten, jene Vielwisser und Allesleser, welche alle ihre Weisheit aus den Büchern haben und tatsächlich glauben, ihre Belesenheit erhebe sie über das gewöhnliche Volk.

Leser: Was hat er? Was will er? Wo ist seine Brieftasche?

Autor: Gnädiger Herr! Sie sehen mich für den Unrechten an, mein Haus ist mir nicht verbrannt, ich bin kein Witwer von vielen Kindern, ich bin aus keinem Dienst entlaufen, suche auch keinen neuen und keinen Zehrpfenning.

Leser: Nun, was ist dann dein Begehren? Was trägst du an?

Autor: Ich möchte Ihnen jeden Donnerstag, abends zwischen drei und vier Uhr, das, was mir eben zu Sinn kommen wird, kurz und gut und gerade ins Angesicht sagen.

Leser: Ich muss dich vom Kopf bis zu den Füssen ins Auge fassen, ehe ich dir diese Erlaubnis geben kann.

Autor: Sie haben ganz Recht!

Leser: Darfst du die Wahrheit sagen?

Autor: So weit ich sie recht weiss.

Leser: Freut es dich, wenn du jemand damit kränkst?

Autor: Nein!

Leser: Kränkst du niemand damit?

Autor: Wohl freilich.

Leser: Warum?

Autor: Was machen! Die Wahrheit ist eine Arznei, die angreift.

Leser: Ha! Einfalt! Die Wahrheit ist eine Komödie!

Autor: Mir nicht!

Leser: So bist du entweder ein Narr oder ein Weiser, denn allen anderen Leuten ist die Wahrheit eine Komödie!

Autor: Ich glaube das nicht!

Leser: Aber ich!

Autor: Aber sie irren.

Leser: Wie das?

Autor: Weil sie nur auf das Leservolk achten, aber die machen nicht alles aus.

Leser: Achtest du auf die Leute, die nicht lesen?

Autor: Natürlich.

Leser: Haben diese auch Verstand?

Autor: Was das auch für eine Frage ist!

Leser: Du Narr! Eine aus meinem Kopf.

Autor: Ich seh"s wohl!

Leser: Aber wie kommen dann die Leute, die nicht lesen, zum Verstand?

Autor: Ich denke, durch Hören und Sehen und durch den Gebrauch der Hände und Füsse.

Leser: Das soll mir ein Verstand sein, der durch Hände und Füsse ins Gehirn kommt!

Autor: Wahrlich ein recht guter Verstand! Er gibt den Leuten Brot ins Maul und Ruhe ins Herz.

Leser: Aber hat denn das Volk viel dergleichen Verstand?

Autor: Ja wahrlich! Und es würde noch viel mehr haben, wenn man danach mit ihm umginge.

Leser: Ich sehe einmal diesen Verstand nicht bei ihm und kann ihn nicht finden.

Autor: Ich glaub"s wohl.

Leser: Warum das?

Autor: Es ist, mit Ihrer Erlaubnis, Gnädiger Herr, fast ein allgemeiner Handwerksfehler der Leserzunft, daß sie den gemeinen Menschenverstand nicht finden.

Leser: Aber wie kommt das?

Autor: Wer nur isst und trinkt, wenn ihn hungert und dürstet, dem schmeckt Brot und Wasser gut. Wer aber vor Meisterlosigkeit (= Unbeherrschtheit) nicht weiss, was er essen und trinken will, der wird Wasser und Brot bald nicht mehr gut finden.

Leser: Aber was geht denn das den Leser und den Menschenverstand an?

Autor: Gar viel. Das gemeine Volk lernt die Wahrheit und bildet seinen Verstand sozusagen aus Not, bei seiner Arbeit, bei seinen Pflichten; die zünftigen Leser aber vertreiben sich mehrenteils bloss die Zeit mit ihr, und dann macht die Wahrheit, mit der man nur vor Langeweile tändelt, etwas ganz anderes aus dem Menschen, als wenn er ihr aus Not, berufshalber, nachhängt, um sie zu brauchen und etwas aus ihr zu ziehen.

Leser: So?

Autor: Ja, eben so kommt"s dann, daß die zünftigen Leser bei dem gemeinen Mann und der gemeine Mann beim zünftigen Leser gegenseitig so wenig Verstand findet, indem keiner bei dem anderen den seinigen antrifft.

Leser: Aber welcher Verstand unter diesen beiden sollte wohl der bessere sein?

Autor: Ich glaube, des gemeinen Mannes seiner.

Leser: Aber meinst du nicht, wer nur durch seine eigene Erfahrung und sozusagen aus Not lernt, der komme zu wenigen Kentnissen und Einsichten; da hingegen die Leser ein weit ausgebreitetes Feld haben, Kenntnisse und Einsichten allenthalben her einzusammeln?

Autor: Das wohl, aber eigene Erfahrung führt so selten irr und die Bücher so oft!

Leser: Aber wenig haben, ist immer Armut!

Autor: Nein doch, wenn das Wenige viel wert ist.

Leser: Wie kann wenig wissen viel wert sein?

Autor: Gar natürlich, was mir viel nützt, ist mir viel wert.

Leser: Mir auch, aber ich denke, wer vieles weiss, kann vieles nützen.

Autor: Das ist nicht allemal wahr, es gibt ein Wissen von unnützen Dingen, für die Einbildung und für das Erzählen, mit dem man, weiss treulich, im menschlichen Leben fast gar nichts anfangen kann.

Leser: Du hältst also unsere Leserzunft gar nicht höher als andere Leute?

Autor: Nein wahrlich! Ihr Gnaden!

Leser: Ich kann"s nicht begreifen, du solltest doch unsere ausgebildeten Leute ...

Autor: Eure ausgebildeten Leute! ... ich kann nicht begreifen, was ihr damit sagen wollt, wann ich die ausgebildeten Jungens der Schmiede, der Schreiner, der Rebleute und des Bauern ansehe, was das für ausgebildete Leute sind.

Leser: Das ist unverschämt, ich meine ihre Einsichten, ihren Verstand.

Autor: Ich meine ihn just auch und muss geradezu sagen, wenn eure Zunftleute mit Bauern, mit Handwerkern, mit gemeinen Leuten zu tun haben, so sind sie immer die einfältigsten; und wahrlich, wenn eure Zunft nicht in der mächtigen Ratsstube und in der heiligen Synode nicht so viel Stühle besetzte, die anderen Zünfte würden über euch Lieder machen wie über die Schneider.

Leser: Ich denke selber, wir müssten Spott und Unrecht genug leiden, wenn wir nicht zuoberst am Brett wären.

Autor: Vom Unrecht ist keine Rede, es sind euere Zunftleute, die immer mit Helm und Panzer und Spiess und Schilden einherziehen und wie der Philister Goliath alle Israeliten ins Feld rufen.

Leser: Aber was willst du mit diesem?

Autor: Beweisen, daß Grosshansen nicht Unrecht geschieht, wenn man sie auslacht, und daß unter den Schild und Spiessbürgern eurer Zunft viel solcher Grosshansen und Maulhelden sind.

Leser: Achtest du das Lesen für gar nichts?

Autor: Wohl freilich!

Leser: Wofür dann?

Autor: Für einen Wagen, den Kinder zum Spass und Narren zur Pracht umherführen, auf dem aber gescheite Leute das Nötige aufladen und heimführen.

Leser: Möchtest du, daß die zünftigen Leser dich gar unter die Bank würfen?

Autor: Das eben nicht.

Leser: Wenn du das nicht willst, so musst du nicht so reden, du musst dich vielmehr aufputzen, eine Perücke aufsetzen, deine Doktortitel vorweisen, und wenn du jemand etwas abstiehlst, ihn als einen, der weit unter dir ist, behandeln.

Autor: Dies alles kann und mag ich nicht.

Leser: So werden dich von unseren Leuten wenige lesen.

Autor: Hä! Gottes Namen!

Leser: Du bist gewiss noch kein Autor?

Autor: Nein, ich bin"s nicht.

Leser: Was bist du dann?

Autor: Was weiss ich! nichts anderes.

Leser: Es scheint mir ein Kind!

Autor: Ei jawohl; ich war in meinem Leben immer ein Kind, darum aber bin ich auch tausendfach von jedermann gespielt worden.

Leser: Aber so einer sollte in einem Winkel sitzen, sich schämen und schweigen.

Autor: Sie haben ganz recht, Gnädiger Herr!

Leser: Warum tust es denn nicht?

Autor: Hab"s auch getan eine lange Zeit, aber es dauern mich hier und da viele Leute, mit denen man auch so spielt wie mit mir, und denen möchte ich gern dann und wann einen guten Rat geben.

Leser: Deine Sprache ist nicht hoffärtig.

Autor: Und mein Herz auch nicht.

Leser: Aber du nähmest doch nicht Dienste?

Autor: Nein, ich diene nicht gern.

Leser: Du bist also stolz?

Autor: Ein wenig.

Leser: Und sagst es noch selber?

Autor: Warum das nicht?

Leser: Ich fürchte, du seiest noch immer ein wenig Kind!

Autor: Will"s bleiben bis ins Grab; es ist einem so wohl, ein wenig Kind zu sein, zu glauben, zu trauen, zu lieben, zurückzukommen von Fehlern, Irrtum und Torheit, besser und einfältiger zu sein als alle Schelmen und durch ihre Bosheit zuletzt denn auch weiser werden als sie. Gnädiger Herr! es ist eine Lust, trotz allem was man sieht und hört, immer das beste glauben vom Menschen, und ob man sich täglich irrt, doch täglich wieder ans Menschenherz glauben, und Weisen und Toren, die einen beiderseits irrführen, verzeihen.

Leser: Du bist ein sonderbarer Kerl! Dein Alter?

Autor: Fünfunddreissig.

Leser: Wovon willst du reden?

Autor: Von allem, Kleinem und Grossem, was zum Hausbrauch gut ist.

Leser: Willst du immer nur eigene Ware bringen?

Autor: Ich habe etwas eigene Ware, aber wenn Fremdes mir besser gefällt, so bring ich nicht meine.

Leser: Willst du auch von der Erziehung reden?

Autor: Wenn"s der Anlass gibt, will ich von ihr reden, aber auf ihr herumreiten will ich nie.

Leser: Bist du verheiratet?

Autor: Schon zwölf Jahre.

Leser: Hast du Kinder?

Autor: Einen Knaben.

Leser: Ist er gesund?

Autor: Ja, Gottlob.

Leser: Ist er munter?

Autor: Das denk ich.

Leser: Bist du ihm lieb?

Autor: Ja.

Leser: Lässt du ihn lustig machen?

Autor: Ja, freilich.

Leser: Worauf kommt"s dir an in der Erziehung?

Autor: Auf sein ganzes Herz; wenn ich das habe, so hoffe ich alles andere.

Leser: Das ist herzhaft.

Autor: Aber die Hauptsache

Leser: Was, diese?

Autor: ob Sie mir erlauben wollen, daß ich alle Wochen Ihnen so auf einem Bogen sage, was ich will.

Leser: Nur noch ein paar Worte: Bist du einer der Leute, denen nie nichts recht liegt?

Autor: Nein.

Leser: Liegt dir alles recht?

Autor: Auch das nicht.

Leser: Brauchst du über alles dein Maul?

Autor: Nein, wahrlich ich gehe nicht gern aus meinem Acker heraus.

Leser: Schweigst du zu allem?

Autor: Wenn mir etwas ans Herz geht, so kann ich nicht schweigen.

Leser: Bist du nicht hartnäckig?

Autor: Danach es ist: Der eine kann mich wie einen Faden um den Finger winden; ein anderer findet mich wie Stahl und Eisen.

Leser: Also hast du wohl auch Feinde?

Autor: Ja, freilich.

Leser: Hast du aber auch Freunde?

Autor: Ja, wahrlich.

Leser: Bist du einer von denen, welche den armen Leuten ihren Rosenkranz und ihre Betbücher verspotten?

Autor: Nein.

Leser: Liebst du Voltaire?

Autor: Nein.

Leser: Aber Rousseau?

Autor: Diesen mehr.

Leser: Und Ganganelli?

Autor: So gut als Luther.

Leser: Und die Physiognomik?

Autor: Ich bin hässlich.

Leser: Machst du auch Lieder?

Autor: Ich kann"s nicht.

Leser: Aber liebst du sie?

Autor: Wenn sie kurz und gut sind.

Leser: Liegt dir das Wunderliche und Nagelneue sehr am Herzen?

Autor: Nein, ich bin von altem Schrot.

Leser: Liebst du nichts Neues?

Autor: Wohl freilich.

Leser: Bist du ein Belletrist?

Autor: Oje, Ludwig der XVI. stellte ja diese an den Pranger.

Leser: Was bist du dann?

Autor: Ohne Anmassung für irgend etwas.

Leser: Nun ich will sehen, was du anbringst.

Autor: Wie lange?

Leser: Auf drei Monate.

Autor: Mehr will ich nicht.

Leser: Also auf Wiedersehen.

Autor: Auf künftigen Donnerstag, will"s Gott!

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