Ein Schweizer-Blatt, 1782

Szenen aus dem Innern Frankreichs

PSW 8, S. 23-30

Redaktion und Kommentar: Arthur Brühlmeier
Rechtschreibung und Interpunktion entsprechen nicht der Kritischen Ausgabe von Pestalozzis Schriften, sondern der regularisierten Fassung auf der CD-ROM.

Im hier wiedergegebenen kleinen Theaterstück 'Szenen aus dem Innern Frankreichs' geisselt Pestalozzi die Unmenschlichkeit und Verlogenheit des Adels und der Höflinge und deren Unfähigkeit, die wirklichen Probleme zu sehen und an deren Lösung mitzuwirken. Derweil die hohen Herren über grosse Weltpolitik schwatzen und Worte wie 'Freiheit', 'Recht' und 'Menschlichkeit' in den Mund nehmen, treten sie diese Ideale im konkreten Umgang mit den ihnen anvertrauten armen Mitmenschen mit Füssen. Man bedenke, dass Pestalozzi dieses kleine Werk 7 Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution geschrieben hat. Die Situation des Volks im absolutistischen Frankreich hat damals ganz offensichtlich alle klarsichtigen und verantwortungsbewussten Menschen in ihrem Denken und Fühlen bewegt. Dass Pestalozzi den Schauplatz seiner Geschichte nach Frankreich verlegte, hatte natürlich noch einen andern Grund: In seiner Heimatstadt Zürich war nämlich vieles nicht wesentlich besser, und der damalige Leser verstand sehr wohl, dass Pestalozzi mit diesem Hieb auf die französischen Verhältnisse die Zustände in der eigenen Heimat meinte. Damals war es noch nötig und ratsam, sich hinter solchen Finten zu verbergen, da sonst die Zensurbehörde den Druck des Textes verhindert hätte.

Dem Gespräch der Adeligen liegt der Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten gegen England und das Eintreten Frankreichs für Amerika zu Grunde. Dabei zeigt sich, daß diese hohen Herren, wenn sie von Freiheit reden, eigentlich bloss die Handels- und Gewerbefreiheit im Auge haben und sich für sie einzig darum stark machen, weil sie sich davon höhere Gewinne versprechen. Pestalozzi sieht indessen im Ruf nach Freiheit in erster Linie Rechtssicherheit des Volks gegenüber der Willkür der Macht. Der Marquis bietet hier ein Beispiel solcher Willkür, indem er in einer Sache, die seinen eigenen Reichtum betrifft, Gesetzgeber, Ankläger, Richter und Urteilsvollstrecker in einem ist.

Bedeutsam ist, daß Pestalozzi das Böse nicht einfach einem bestimmten Stand zuschreibt. In jedem Stand gibt es gute und böse Menschen. In unserem Beispiel ist einer der Priester ein Unmensch, der andere - von den Herren abschätzig als 'Pfaff' bezeichnet - handelt edel und menschlich. Auch bei den Dienern gibt es Gutherzige und Hartherzige, und am Beispiel des Fräuleins zeigt Pestalozzi, daß das Gute auch im Stand des Adels nicht ausgestorben ist.

Szenen im Inneren Frankreichs nach der Natur gezeichnet.

Das Äussere eines magnific herrschaftlichen Land-Palais. Im Hof ein Landweib mit neun Kindern, vor einem Bedienten auf den Steinen.

Die Mutter: Jesus Maria, um Gottes willen, melde uns noch einmal bei ihm!

Der Bediente: Es ist vergebens, er kann euch nicht helfen, er hat seine Order. Geht doch, geht, sonst wird euer Unglück noch grösser!

Die Mutter: Wie grösser? Ob wir hier sterben oder dort! Lässt er ihn nicht los, so sind wir des Todes.

Der Bediente: Er lässt ihn nicht los.

Die Mutter: O! O! O! (ein Geheul von neun Kindern)

Eine Untermagd, einen Zuber voll gekochten Rauchmehl in den Händen tragend, steht bei diesen Elenden still.

Die Kinder (sehen das Essen und sagen zur Mutter): Gibt sie uns auch davon?

Die Mutter (schauernd): Was weiss ich?

Die Magd: Es ist für die Jagdhunde.

Die Mutter: Ist's für die Jagdhunde? Die Kinder: O bitte sie, bitte sie um etwas davon!

Die Mutter: Wolltest du sie doch essen lassen?

Die Magd: Ach mein Gott! Gar gern, und doch darf ich fast nicht. Mache, daß sie eilen!

Die Mutter: Du bist gut! Ihr dürft Kinder!

Diese greifen rasch und gierig in den Züber und verschlingen das rauche Mehl, indessen schlägt die Mutter forthin die Hände zusammen und weint lautes Entsetzen.

Der Knecht: Mässige dich, Frau, um Gottes willen, bis sie satt sind, sonst jagt man euch schnell fort!

Die Frau erstickt die Seufzer, aber ihre Glieder zittern, ihr Mund bebt, ihre Knie schwanken, ihre Zunge stottert und ihr Auge rollt in grosser wilder Verzweiflung.

Das Innere des Schlosses

Ein langer Saal, Tische, Sofa, Herren, Damen, eine Partie, die zunächst an der Türe stehen und schwatzen.

Le Marquis: Nun wird es England wohl gut sein lassen, das freie Amerika weiter zu bekriegen.

Le Comte: Die Gerechtigkeit ihrer Sache ist nun erstritten!

L'Abbé: Unser Sieg macht der Menschheit Ehre. Wir erretten die halbe Welt aus der Sklaverei.

Le Marquis: Die Grundsätze des Jahrzehnts sind allzumal für Freiheit und Menschlichkeit, und man darf für die Welt alles hoffen bei unserer Erleuchtung.

Le Comte: Man glaubt jetzt, die Herrschaften gewinnen dabei, wenn die Menschen frei sind, und das macht, daß fast jedermann für die Freiheit ist. La Marquise: Wenn der Adel bei dieser Neuerung nur sorgfältig auf seinen Vorrang sieht und die Geldquellen nicht gar zu sehr in die Bürgerhände fallen lässt, bei dieser Freiheit.

Le Comte: Wenn man dem Bürger nur bei einigen Bällen den Zutritt gibt und ihm für sein Geld Antichambre, Komödienhäuser und Prater öffnet, so verdebouchiert er sich, wie gewiss. Indessen versichert der erhöhte Nationalreichtum den Herrschaften ewige Gefälle.

Le Marquis: So ist die Freiheit offenbar für uns gut!

L'Abbé: Sie erhöht und verfeinert die Annehmlichkeiten in den höheren Ständen ohne Mass, indessen die niederen Stände in ihrer Freiheit mit einer unglaublichen Mühseligkeit uns die Fonds zu diesem erhöhten Lebensgenuss herbeischaffen und sich noch selig preisen, daß sie es dürfen.

Le Marquis: Das ist sicher. Ich will einmal auch ein halbes Dutzend Fabriken in meinen Ländern anlegen, wenn Amerikas Handlung frei ist; die Leute krepieren ja beinahe auf meinen Domänen und vermögen kaum zu zahlen, was meine Ahnen schon vor vierhundert Jahren von ihnen bezogen, indessen daß Bürgersleute in meiner Nachbarschaft, bei Fabrikarbeit, wohl zwanzigmal mehr aus ihren Leuten ziehen als ich.

L'Abbé: Es ist natürlich: Die Fabrik-Leute versteuern nicht bloss ihren Grund und Boden, sie versteuern auch ihre Hände und ihren Verstand, und das alles mit barem Geld.

Le Comte: Das ist wohl viel.

L'Abbé: Und dann ist für uns noch keine Gefahr dabei; der Bürger trägt die Gefahren, die das Spiel hat, gar gern mit sich selber, wenn man sich darnach mit ihm einrichtet und er z.B. nur Handbietung gegen unsere Leibeigenen zu seinem Vorteil bei uns findet ...

Le Marquis: Es ist auch billig, daß wir hierin günstig für ihn handeln, so lange er uns viel einträgt.

L'Abbé: Wenn nur der Krieg bald zu Ende wäre, das Geld wird doch rar bei allen Siegen.

Le Marquis: Die Holländer müssen, wie es scheint, jetzt ein paar Löcher ausfüllen.

Le Comte: Wenn sie's nur nie wieder zurück wollen.

Le Marquis: Sie werden uns auch schuldig werden.

Le Comte: Ich hasse die Myne Heeren; sie sind zu reich für Bürger, es ist schade, daß sie keinem Fürsten sind.

L'Abbé: Einmal in Boston ist die Freiheit was anderes.

Le Marquis: Sie ist allenthalben schön, wenn sie dem König und dem Adel nicht schadet.

L'Abbé: Auf der See ist sie am allernotwendigsten.

Le Marquis: Ohne das könnten wir nicht reich werden.

Le Comte: Das ist so viel als erstritten.

Le Marquis: Die Welt wird um die Hälfte glücklicher dadurch.

L'Abbé: Ohne Freiheit ist der Menschen Leben nicht der Rede wert.

Le Marquis: Und England hat sich nicht zu beklagen, es handelte gegen alle Bitten dieses Volkes stiefmütterlich hart.

L'Abbé: Es ist ein stolzes gewalttätiges Volk; alle Grundsätze der Gerechtigkeit und Billigkeit sind wider sein Betragen und reden für Amerika.

Le Marquis: Die Rechte der Menschheit forderten einmal ein mutvolles Beispiel. Die Fürsten gehen zu weit gegen die geheiligten Rechte der Nationen.

L'Abbé: Wenn sie sich nur daran spiegeln.

Das Fräulein von ... (am Fenster): Herr Jesus! Was geht im Hof vor?

Die Gesellschaft drängt sich gegen das Fenster;

Le Marquis (ruft unwillig einem Bedienten) : Der Haushofmeister!

Der Bediente geschwind ab.

Ein neuer Auftritt Wieder der Schlosshof. Die Kinder des Gefangenen hatten heisshungrig das rauche Mehl verschlungen; in wenigen Minuten sanken zwei davon ohnmächtig auf den Boden, und die anderen klagen über brennende Schmerzen im Magen. Die Mutter wälzt sich wie unsinnig über die ohnmächtigen Kinder zu Boden. Die Dienste und die Arbeiter im Hof laufen zusammen, der Haushofmeister vernimmt das Geläufe, und kommt auf den Platz.

Der Haushofmeister (noch entfernt, zu einem Bedienten): Was ist das?

Bedienter: Es ist des Wilddiebs Haushaltung mit der Bittschrift.

Haushofmeister: Wer gab ihnen Aufenthalt, seitdem sie die Antwort hatten? Bedienter: Sie haben der Untermagd ihren Züber mit rauchem Mehl ausgegessen.

Haushofmeister: Hat's die Magd erlaubt? Bedienter: Ich glaub' ja?

Haushofmeister: Aber was ist's für ein Lärm? Bedienter: Es sind ein paar davon ohnmächtig worden. Aber es ist nichts anderes, es wird schon wieder besser.

Der Haushofmeister (nähert sich, die Frau erblickt ihn, springt von ihren ohnmächtigen Kindern auf und ruft): Mein Mann um Gottes willen, Gnädiger Herr! mein Mann wir sterben alle.

Haushofmeister: Unsinnige, willst du mit ihm ins Loch, daß du nicht gehorchest? Die Mutter und etliche Kinder: Ja, Herr! Wir wollen, wir wollen zu ihm und sterben, wo er ist!

Haushofmeister: Ihr seid rasend. Noch drei Tage ist meines Gnädigen Herrn Befehl, und das ändert der König nicht!

Die Mutter: Wir sterben vor morgen, lasst uns zu ihm!

Haushofmeister: Geht doch, geht doch, ihr richtet nichts aus!

Ein zweiter Bedienter (daher springend, zum Haushofmeister): Der Marquis ruft Sie in Saal.

Haushofmeister: Gleich im Augenblick, was will er? Weisst du's?

Bedienter: Es ist der Lärm im Hof, das Fräulein von ... hat's gesehen.

Haushofmeister: Nur dies -

Sie gehen ab.

Wiederum der Saal im Inneren des Schlosses

Le Marquis: Haben Sie sich vom Schrecken erholt, Fräulein?

Fräulein von ...: Fast zittre ich noch, mein Onkel!

Le Marquis: Sie können mich dauern.

L'Abbé: Sie wären nicht für das Landleben, Fräulein, wenn Sie alles so schnell erschüttert.

Le Marquis: Es ist ein Unglück, daß man solchen Vorfällen auf den Landschlössern nicht vollends vorbeugen kann.

La Marquise: Es ist glatterdings nicht möglich, wie in den Städten gänzlich zu verhüten, daß nicht etwa hier und da was Ekels und Unangenehmes auffalle.

L'Abbé: Es ist darum für ein junges Frauenzimmer gar viel gewagt, viel auf dem Land zu sein.

Le Marquis: Und dann hat der Saal besonders den Fehler, daß seine Lichter gegen den Hof gehen, sie sollten auf die Seite gegen den Garten gehen.

L'Abbé: Das ist wahr; auf dieser Seite wäre der Saal vortrefflich gelegen.

Le Comte: Man könnte den Hof mit Linden besetzen, man würde dann von den Fenstern herunter auch nichts erkennen.

Le Marquis: Der Hof muss heiter sein, sonst arbeitet niemand.

Le Comte: Ha so?

L'Abbé: Und wir haben ob diesem Geschmeiss unsere Siege und Amerikas Freiheit vergessen. La Marquise: Ist's möglich, ob diesem?

L'Abbé: Es war eine unnatürliche Unmenschlichkeit, daß das Parlament ihre Bittschriften nicht hörte.

Ein Bedienter (leise zum Marquis): Der Haushofmeister steht vor der Tür.

Le Marquis (zum Bedienten): Er soll hereinkommen.

Der Haushofmeister kommt herein, steht bei der Türe und bückt sich tief.

Le Marquis: Was ist für Lumpenpack im Hof?

Haushofmeister: Es ist des Wilddiebs Haushaltung mit der Bittschrift vom Pfarrer.

Le Marquis: Sind's diese? Sie sollten schon längst fort sein! Wäre nur der Pfaffe selbst mitgekommen, ich wollte ihn zum Kerl ins Loch werfen. Es ist ein enormes Verbrechen, für einen Wilddieb eine Bittschrift zu machen.

Haushofmeister: Und nachdem das herrschaftliche Urteil schon gefällt ist, noch zu behaupten, der Mann sei unschuldig.

La Marquise: Und wenn's wahr wäre, was ging's den Pfaffen an?

L'Abbé: Er ist ein Schwärmer; wenn ein Bettler ein nasses Auge hat, so glaubt er ihm.

Le Marquis: Er weiss nichts von Subordination und Ordnung, das hat mir schon lange an ihm missfallen.

Haushofmeister: Er ist vom Bauernstamme und meint, ein Mensch sei was der andere.

Le Comte: So teile er denn seinen Decem auch mit dem Kühehirten.

Le Marquis: Er will mich auf meinem Schloss zwingen; es ist etwas Unerhörtes, nachdem mein Urteil schon gesprochen. Der Hirsch lag keine hundert Schritt vom Kerl weg; der Bündel Holz, den er zum Schein sammelte, soll mir Grund sein, ihn zu schonen?

La Marquise: Ja schone nur jedermann, deine Forste werden bald leer sein.

Le Marquis (zum Hofmeister): Aber warum schafft man das Volk nicht fort?

Haushofmeister: Ich hatte Geschäfte und glaubte, sie wären fort.

Das Fräulein von ... : Aber daß einige Kinder wie tot da liegen und andere so heulen?

Haushofmeister: Es ist in meiner Abwesenheit eine Unvorsichtigkeit vorgefallen: die Untermagd hat sie aus einem Zuber Rauchmehl essen lassen, davon sind ein paar ohnmächtig worden, und die anderen haben Magenschmerzen; es ist aber nichts anders, es bessert schon wieder.

Fräulein von ... : Es ist doch gut, daß es wieder bessert.

La Marquise: Aber was das für eine Schleckerei war, nicht wahr, vom Hundemehl?

Haushofmeister: Zu dienen, Ihr Gnaden.

Le Marquis: Aber wusste die Magd, daß sie das Zeug frassen?

Haushofmeister: Ich glaub' ja.

Le Marquis: Es ist eine unnatürliche Unmenschlichkeit, Kindern so etwas zu essen zu geben; lasst die Magd zweimal vierundzwanzig Stunden ins Loch werfen, zur Strafe. Und das Pack im Augenblick aus dem Hof! Und daß der Pförtner sich hüte, eines davon wieder herein zu lassen, so lange der Mann im Arrest ist!

L'Abbé: Fräulein, Sie geben die Karten.

Fräulein von ... : Pardon! Ich hab versäumt, und sie sind im Verlust.

L'Abbé: O, nicht hierfür Fräulein!

Das Fräulein (nimmt die Karten, setzt sich): Hier bin ich zur Aufwart.

L'Abbé: Messieurs et Mesdames, eine Partie!

Le Marquis: Man ist entsetzlich geplagt auf den Schlössern.

Le Comte: Die Bauern sind ein elendes Sklavenvolk.

La Marquise: Vollends wie das Vieh.

L'Abbé: Und für sie Supplique machen, Arbeit aus dem Tollhaus.

Le Comte: Und sie (= die Bittschrift) noch so herzbrechend schreiben.

La Marquise: Es gibt so viel lange Zeit, wir wollen einmal dem Schulmeister das Harlekinskleid anlegen, und er muss uns die Bittschrift unter der Linde vorlesen.

Le Marquis: Das wollen wir tun, der Pfaff wird dann wohl aufhören, uns für die Bauern von Recht und Freiheit vorzuschwatzen.

L'Abbé: Die Bauern haben keine Begriffe von Recht und Freiheit.

Le Comte: Ja, kein Geld haben sie.

Le Marquis: Nein. Aber Himmel! was auch für ein Unterschied ist zwischen diesen Leuten und den Amerikanern.

L'Abbé: Es ist ungeheuer.

Ein Bedienter (hinter der Fräulein von ... , leise für sich selbst): So ungeheuer nicht als deine Unmenschlichkeit, Pfaffe!

Das Fräulein (verstand das Wort, das dem Bedienten entfahren, lächelt zurück, steht auf, winkt ihm. Er erblasst, folgt ihr in eine Ecke des Saales): Ich hab dich verstanden, gib dieses Goldstück der Frau, und sag ihr, daß ich morgen um 8 Uhr in der Allee sie antreffen werde.

Dann ging das Fräulein an ihren Platz und gab ihre Partie, die der Abbé gewann.