Inhalt von "Lienhard und Gertrud"

Das Dorf Bonnal ist wirtschaftlich verarmt und sittlich verwahrlost. Es wird tyrannisiert durch den Dorfvorsteher, den Vogt Hummel, der auch die Dorfschenke besitzt und als Wirt die Bauern, Tagelöhner und Handwerker dazu verleitet, bei ihm Trinkschulden und sich dadurch von ihm abhängig zu machen. Er missbraucht sie zu falschen Schwüren und Verrat und ruiniert jeden wirtschaftlich, der sich von ihm lossagen will. Er kann freilich dieses korrupte Treiben nur aufrecht erhalten, weil er das uneingeschränkte Vertrauen des adeligen Grundherrn, des Dorfjunkers, geniesst, dem das Dorf hörig ist. Die Bevölkerung wagt es nicht mehr, sich beim Junker über den Vogt zu beschweren, da es diesem durch sein ränkevolles Spiel stets gelingt, daß der Ankläger bestraft wird.

Was Pestalozzi hier aufzeigt, ist eine seiner wichtigsten Überzeugungen, die er auch in der "Abendstunde" dargelegt hat: daß nämlich die wirtschaftliche und sittliche Verwahrlosung des Volks eine Folge der Korruption und des Eigennutzes der Herrschenden ist.

Im weiteren Verlauf der Handlung zeigt nun Pestalozzi, auf welche Weise eine solche Dorfgemeinschaft ökonomisch und sittlich aus dem Elend gezogen werden kann. Die guten Kräfte setzen teilweise gleichzeitig von verschiedenen Seiten her an. Der alte Junker stirbt und vererbt das Dorf an seinen Enkel, den jungen Junker Arner. Dieser lässt sich in seiner gesetzgeberischen und richterlichen Tätigkeit in keiner Weise von Eigennutz leiten, sondern ausschliesslich vom Willen, das Dorf zum Vorteil der Einwohner ökonomisch zu entwickeln und es sittlich emporzuheben. Arner ist der Typus des Fürsten, wie ihn Pestalozzi in der ,Abendstunde" sieht: Er fühlt sich als Kind Gottes und erfüllt aus sittlich religiöser Verantwortung heraus seine Vaterpflichten gegenüber dem Volk.

Der erste Anstoss zur Verbesserung der Verhältnisse in Bonnal kommt aber nicht von oben, sondern von Gertrud, einer frommen Mutter von sieben Kindern. Ihr Mann Lienhard ist durch seine Trunksucht dem üblen Vogt ins Netz gegangen und bringt damit seine Familie in Not und Elend. Gertrud wagt nun den Gang aufs Schloss, sie verklagt den Vogt beim Junker und bittet ihn um Hilfe. Dies veranlasst ihn, sich hinfort um das Dorf zu kümmern. Er entlässt den Vogt und bestraft ihn, indem er seine Schwurfinger schwärzen lässt.

Auch der Pfarrer, der bis jetzt das Volk mit frommen Sprüchen von der Erfüllung ihrer irdischen Pflichten abgelenkt und ihr einziges Trachten aufs Jenseits gelenkt und die Einwohner in theologische Streitereien verwickelt hatte, wird ersetzt durch einen neuen Geistlichen, der die Menschen zu einem tätigen Christentum in Wahrheit und Liebe und zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Pflichten anhält.

Dann wird auch die Schule erneuert. Der alte Schulmeister, der die Kinder zu blossem Schwatzen und leeren Wortwesen erzogen hatte, wird abgelöst durch den tatkräftigen invaliden Leutnant Glüphi. Seine Schule muss das Abbild der Wohnstube sein. Er geht deshalb in die Wohnstube der Gertrud und lernt bei ihr, wie sie ihre eigenen Kinder beim Spinnen lesen und rechnen lehrt. Das Lernen soll innig verbunden werden mit dem Arbeiten. Als erste Massnahme lässt daher Glüphi Werkbänke und Spinnräder in die Schulstube tragen.

Der fünfte im Bunde der Reformer ist der Baumwollen-Meyer. Er verkörpert den Typus des tüchtigen, sparsamen und erfolgreichen Unternehmers, der nicht bloss den eigenen Vorteil, sondern ebenso sehr das Wohl des Volksganzen im Auge hat.

Im letzten Buch des Romans weitet Pestalozzi den Gesichtskreis aus auf das ganze Herzogtum. Der Herzog ist ein enttäuschter Menschenfreund, der zwar das Gute wollte, aber bei seinen Reformen die ökonomischen Belange vernachlässigte. Auch am Hof des Herzogs kämpfen gute gegen böse Mächte, und Pestalozzi zeigt, auf welch verschlungenen Wegen beide hinabwirken bis in die niederste Hütte. Der Kampf zwischen den guten und den bösen Mächten ist hart und unerbittlich. Die Besserung des Dorfes geht keineswegs glatt vor sich. Arner wird krank und entgeht nur knapp dem Tode. Jedoch allmählich siegen die guten Kräfte, weshalb der Herzog das Modell von Bonnal untersuchen lässt und schliesslich selbst einen Augenschein vornimmt. Der Weg, wie die ökonomische Not und die sittliche Verwahrlosung des Volkes behoben werden kann, ist ihm gewiesen.

Pestalozzi hat alle seine damaligen politischen, sozialen und pädagogischen Ideen in sein Werk eingebaut. Es lohnt sich, diese kurz zu skizzieren. Da schlägt er vorerst einmal eine Reihe von ökonomischen Massnahmen vor: Beschaffung von sinnvoller Arbeit für jeden, damit jeder sein Brot verdienen und auch in der Arbeit sein Menschsein verwirklichen kann; gleichmässige Verteilung des bisherigen Weidelandes auf alle Bauern, weil bisher der Besitzer von viel Vieh den grösseren Nutzen daraus ziehen konnte; Verbesserung der Ertragslage durch Entwässerung, Düngung und Einführung neuer landwirtschaftlicher Erzeugnisse und Methoden; Buchhaltungspflicht für alle in Haus und Betrieb; Loskauf von überlieferten, aber nicht mehr zeitgemässen Steuerpflichten (Zehnten) durch systematische Sparsamkeit; Anpassung der Staatsausgaben an die soziale Lage der Bevölkerung; Versicherung gegen Elementarschäden. Dann findet sich in seinem Buche selbstverständlich eine Reihe von erzieherischen Massnahmen: bewusste Erneuerung eines gesunden häuslichen Lebens durch Ordnung, Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, gegenseitige Achtung, Liebe, Frömmigkeit, gemeinsame Gewissenserforschung und Hilfeleistung über den engen Kreis der Familie hinaus; Eheschulung; Erneuerung der Schule durch Verzicht auf leeres Wortwesen und Bildung auf der Grundlage der Anschauung; systematische Berufsbildung; Anwendung der christlichen Lehre für die Versittlichung des Volks; Reinigung der Volksbräuche (ehrenhafte Feste, Trinksitten und Formen der Brautwerbung). Schliesslich schlägt Pestalozzi auch eine Reihe juristischer Massnahmen vor, so insbesondere eine neue Prozessordnung und eine Humanisierung des Strafrechts und des Strafvollzugs (Abschaffung der Körper- und der Todesstrafe) im Sinne der Erziehung der Straffälligen.

Allgemein zu Pestalozzis Schrift "Lienhard und Gertrud" siehe auch den Text "Lienhard und Gertrud" und den Text zur Leutnantsphilosophie.