Ja oder Nein?

Einführung

Pestalozzi nahm nicht nur als Philosoph und Politiker an den revolutionären Ereignissen in Frankreich regen inneren Anteil, sondern auch als Schweizer: Die jungen Schweizer waren bekanntlich seit Jahrhunderten in ganz Europa begehrte Söldner, und so bestand auch die Leibgarde des französischen Königs aus Schweizern; diese wurde indessen am 10. August 1792 von den Revolutionären niedergemetzelt. Dass dann Pestalozzi 16 Tage später als einziger Schweizer durch die Nationalversammlung zum französischen Ehrenbürger ernannt wurde, hat ihn gewiss bei vielen Landsleuten nicht gerade beliebt gemacht.

Der Hauptbestand seiner Schrift ‚Ja oder Nein?' ist im September 1792 entstanden, in jener Zeit also, in welcher die Revolutionäre in Paris ihre Revolution durch die sog. ‚Septembermorde' weiter in Verruf brachten. Da sich Pestalozzi einerseits in den Grundanliegen auf die Seite der Revolutionäre stellte, andererseits aber das Blutvergiessen als politisches Kampfmittel ablehnte, wollte er aber damals die Leidenschaften des Volks nicht unnötig aufstacheln, weshalb er von einer Verbreitung seiner Schrift in jenem Zeitpunkt absah. Die Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. am 21. Jan. 1793 bewirkte dann den Zusammenschluss von England, Holland, Italien, Spanien mit dem Deutschen Reich, Preussen und Österreich zur ersten Koalition. Als nun das Kriegsglück im Sommer 1793 zugunsten der Koalition auszuschlagen schien, nahm Pestalozzi die Arbeit an seiner Schrift wieder auf und führte sie zu einem Abschluss. Es gelang ihm allerdings nicht, sie irgendwo drucken zu lassen.

Von besonderer Bedeutung ist Pestalozzis Verständnis der gesellschaftlichen Freiheit. Eindeutig wendet er sich gegen den von den Revolutionären und von den sie unterstützenden Philosophen vertretenen Begriff einer Freiheit, wonach man all das tun darf, was nicht verboten ist. Für ihn bedeutet die offizielle Deklamation einer solchen Freiheit die Freisetzung der tierischen, egoistischen Triebhaftigkeit des Menschen auf Kosten der andern. Pestalozzi hat diese Natur-Freiheit und das daraus resultierende Natur-Leben stets als einen Widerspruch zur gesellschaftlichen Vereinigung gesehen und daher als gesellschaftlich nicht rechtmässig abgelehnt. Demzufolge bedeutet für ihn Freiheit etwas ganz anderes: nämlich "eine gebildete Kraft des Bürgers, das zu tun, was ihn als Bürger vorzüglich glücklich, und das zu hindern, was ihn als Bürger vorzüglich unglücklich machen könnte" (PSW 10, S. 150) Dies setzt indessen voraus, daß die Rechte der Obrigkeit in den Rechten des Volks ein Gegengewicht bekommen, damit das Volk vor der Willkür und dem Machtmissbrauch der Obrigkeit geschützt ist. Das grösste gesellschaftliche Übel ist für Pestalozzi der Allmachtsanspruch - von wem auch immer erhoben -, und so stellt er sich konsequenterweise genauso gegen den Allmachtsanspruch der Revolutionäre, wie er sich gegen denjenigen des Adels wandte.

Volksrechte sind aber für Pestalozzi auch nicht identisch mit direktem Regierungseinfluss des Volkes. Zwar redet Pestalozzi in seiner Schrift keiner speziellen Staatsform das Wort, aber es wird doch deutlich, daß er das Volk als nicht reif und nicht gebildet genug für die Demokratie hält. Und die durch die Stimmung des Aufruhrs bis zum Blutdurst und zur Mordlust aufgepeitschte Masse ist schon gar nicht in der Lage, Verhältnisse zu schaffen, welche dem Menschen ein Leben in Sicherheit, Wohlstand und Würde ermöglichen. Freiheit und Demokratie sind für Pestalozzi darum zwei verschiedene Dinge: Die Freiheit des Bürgers erweist sich nicht in seinem Recht, mitregieren zu dürfen, sondern in seiner gesetzlich gesicherten und durch die Staatsmacht geschützten Gewissheit, an Leib, Gut und Ehre vor egoistischen Zugriffen anderer - auch der Staatsmacht selber - geschützt zu sein.

Nicht weniger bedeutsam als die Überlegungen zum Problem der Freiheit sind auch Pestalozzis Ansichten über die Bedeutung der Religion für das gesellschaftliche Leben. Es kann wohl nicht geleugnet werden, daß sich die Französische Revolution nicht nur gegen den bestehenden absolutistischen Staat und auch nicht nur gegen die Kirche als einer Macht, die eng mit der staatlichen Macht verknüpft war, richtete, sondern auch ganz direkt gegen die Religion selber. Auch hierin kann Pestalozzi als ein Mensch, der den Segen eines wirklich religiösen Innenlebens an sich und an seinen Mitmenschen erfahren hatte und auch die wohltätige Wirkung echter Religiosität für die Versittlichung des Einzelnen und damit für die Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes erkannte, nicht folgen. Letztlich verfehlt auch die Revolution ihr Ziel, wenn sie nicht dahin führt, daß jeder einzelne Mensch ein besserer Mensch wird als unter dem Regime der Unterdrückung und Erniedrigung. Die Verhöhnung Gottes und des Gottesdienstes durch die Revolutionäre widerspricht daher nach Pestalozzi ihren eigenen Zielen.

Einen ähnlichen Widerspruch findet Pestalozzi im Drang der Revolutionäre, die Revolution so schnell wie möglich in alle Welt auszubreiten. Er zeigt, daß die andern europäischen Völker durch das blutrünstige Rasen der Revolutionäre nur erschreckt und damit in die Arme der Despoten getrieben werden. Die erste Aufgabe des neuen Staates ist seiner Ansicht nach die Sicherstellung der grundlegenden Lebensbedürfnisse des eigenen Volkes. Pestalozzi hat darum eine Studie zum systematischen Anbau der Kartoffel in Frankreich (PSW 10, 253 ff.) verfasst, damit dieses Land sich unabhängig von seinen Feinden ernähren könne. Als eine ebenso vordringliche Aufgabe hielt er die Schaffung einer neuen Gesetzgebung, die dem einzelnen Menschen das häusliche Glück sichert und ihn weder auf die Strasse noch an die Kriegsfront treibt.

Aus all dem geht hervor, daß Pestalozzi eigentlich einen Zweifrontenkampf führt: Auf der einen Seite verurteilt er die Willkür der adeligen Machthaber, die den Menschen entrechten und zum blossen Ding herabwürdigen, mit dem man nach Belieben verfahren kann, und auf der andern Seite kämpft er gegen Rachefeldzüge, Masslosigkeit, Ungerechtigkeit und gegen jene ideologischen Positionen der Revolution, die sich nicht mit der Natur des Menschen vereinbaren lassen. Pestalozzi führt diesen Kampf in der klaren Absicht, daß die Revolution nicht verkommt und das Volk nicht aus einer Tyrannei in die andere fällt.

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