An die Unschuld, den Ernst und den Edelmuth meines Zeitalters und meines Vaterlandes (1815), kurz: "An die Unschuld"

Einführung

Mit Napoleon und seiner Herrschaft über Europa ging auch in der Schweiz die 1803 von ihm diktierte Mediationsverfassung unter. Während einige Kantone unter der Führung Zürichs ihre wesentlichen Grundgedanken in eine neue Verfassung hinüberretten wollten, strebten die Innerschweiz und die Städte Freiburg, Solothurn und Bern geradezu die Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände an. Es drohte der Bürgerkrieg. Nur unter dem Druck der europäischen Mächte kamen die Verhandlungen über eine neue Verfassung zustande, die sich vom April 1814 bis August 1815 hinzogen und als sog. "Lange Tagsatzung" in die Schweizer Geschichte eingingen und die schließlich zu einer Einigung auf einen stark restaurativ ausgerichteten "Bundesvertrag" führten.

Wie schon 1798 und 1802/03 erhebt Pestalozzi auch bei dieser Neugestaltung der Verfassung seine mahnende Stimme. In seinem umfangreichen Werk "An die Unschuld", 1813 begonnen und im Frühjahr 1815 veröffentlicht, nimmt er leidenschaftlich Stellung zu den aktuellen politischen Problemen.

Nach dem Fall Napoleons griff in der Schweiz eine allgemeine Stimmung teils von Erleichterung, teils von Ernüchterung um sich. Hatte die Revolution die Menschen wirklich weiter gebracht? Führte sie nicht allerorts zu Gewalt, Krieg, Unsicherheit und Unterdrückung? Durch eine Rückkehr zu der vorrevolutionären Ordnung glaubten viele, die Krise meistern zu können. Pestalozzi erkennt gerade darin die große Gefahr: Zwar teilt auch er den Abscheu vieler Zeitgenossen über die Gewaltexzesse des allgemeinen Volksaufruhrs und die Tyrannei Napoleons, doch sein Abscheu über die Entrechtung des Volks vor der Revolution ist nicht minder groß. Hier setzt sein Grundanliegen ein: Er will aufzeigen, daß sowohl unter der alten Ordnung als auch im revolutionären Aufstand und ebenso unter der Herrschaft Napoleons die Würde und die Rechte der Menschen mit Füßen getreten worden seien. Die Lösung des Problems liegt für ihn weder in der Rückkehr zu irgend einem dieser Zustände noch in einem irgendwie gearteten Kompromiß, sondern allein in der Schaffung einer Verfassungswirklichkeit, die in den natürlichen Rechten des Menschen, in der Menschennatur, begründet ist. Nach Pestalozzis Überzeugung führt jede Verfassungsreform in die Irre, die den Menschen nicht als einerseits tierisch?selbstsüchtiges, andererseits zur individuellen Veredelung bestimmtes Wesen erkennt. Schon 1797 hatte Pestalozzi in seinen "Nachforschungen" die menschliche Existenz als eine Wechselwirkung zwischen natürlichem, gesellschaftlichem und sittlichem Sein aufgefaßt. In "An die Unschuld" knüpft er an diese Gedankengänge an und führt sie ins konkret Politische und Pädagogische fort. Dabei bezeichnet er jetzt die Existenz des Menschen, der sich an gesellschaftliche Gebräuche und Vorschriften hält und den gesellschaftlich tolerierten Egoismus praktiziert, als Kollektivexistenz. Die auf diesem Wege geschaffenen Einrichtungen und ausgebildeten Fertigkeiten nennt er Zivilisation oder, sofern in ihnen Selbstsucht, Einseitigkeit, Deformation oder Schwäche überwiegen, Zivilisationsverderben. Nur in überschaubaren Gemeinschaften, in denen sich der Einzelne für sein Handeln verantwortlich weiß, ist Rücksichtname auf individuelle Bedürfnisse und Rechte und die Entwicklung der höheren meinschlichen Kräfte und Anlagen möglich. Das bedeutet: Erst in der Individualexistenz kann der Mensch sein Ziel, die Menschlichkeit, erreichen, nur in der personalen Verantwortung des Einzelnen für seine Mitmenschen und die für ihn bedeutsamen Kollektive entsteht wirkliche Kultur.

Gegenüber den "Nachforschungen" wird in "An die Unschuld" die dualistische Scheidung der Menschennatur in die niedere, tierische und die höhere, göttliche Natur stärker betont. Dadurch werden im späteren Werk die Konturen zwischen verdorbenem Naturzustand und gesellschaftlichem Zustand unschärfer; im Vordergrund steht das beiden Gemeinsame: die tierische Selbstsucht, die ohne Rücksicht auf den Nebenmenschen oder den gesellschaftlichen Gegenspieler und ohne Sorge für die individuelle Veredlung stets auf den eigenen Vorteil, auf Machtgewinn und auf raffinierteren Genuß setzt. Ein Staat wird nach Pestalozzis Überzeugung erst dann menschenwürdig und der menschlichen Natur gerecht, wenn er die Realität dieser allgegenwärtigen menschlichen Gefährdung anerkennt und den einzelnen Menschen vor selbstsüchtigen Übergriffen sowohl anderer Bürger als auch der Herrschenden durch verfassungsmäßiges Recht und durch die Macht eines aufgeklärten Souveräns schützt. Der Staat als gesellschaftliche Institution wird erst dann menschengerecht, wenn er die bloß kollektive Existenz der Bürger zurückdrängt und dafür die Individualexistenz der Menschen in den Vordergrund stellt. Freilich läßt sich dies nicht in jedem Aufgaben? und Zuständigkeitsbereich in gleichem Masse verwirklichen. Es gibt Gebiete, in denen der Staat den Menschen lediglich in dessen kollektiver Existenz ins Auge fassen kann, so etwa im Finanz?, Militär? und Polizeiwesen. Institutionen hingegen, die zwar des staatlichen Schutzes und der staatlichen Förderung bedürfen, für die aber die personale Beziehung und die individuelle Existenz des Menschen konstitutiv sind - Pestalozzi nennt im einzelnen Schulen, Kirchen und Armenwesen - werden im Kern zerstört, nach Pestalozzis Worten "denaturiert", "entnatürlicht", wenn der Staat sich nicht weise zurückhält und sie, statt sie zu schützen und zu fördern, lediglich als Schöpfungen des Kollektivs betrachtet und behandelt.

Pestalozzi erwärmt sich erneut für die Lieblingsvorstellung seiner frühen Jahre: für die Idee des durch einen menschlich gebildeten Vater?Fürsten gelenkten Staates. Wohin es allerdings führt, wenn dieser Staatslenker selbst nicht menschlich gebildet ist, wenn er selbst seiner eigenen "Tiernatur" unterliegt und als Opfer seiner eigenen Selbstsucht die Menschen mit unerbittlicher Gewalt seiner Macht unterwirft, habe Napoleon der Welt auf eine solch eindrucksvolle Weise demonstriert, daß diese eigentlich den Fluch des verratenen Menschseins nie mehr vergessen sollte. Pestalozzi, der im Winter 1802/03 als Mitglied der Consulta in Paris weilte und bei Napoleon mit seinen Volkserziehungsplänen auf taube Ohren stieß, rechnet jetzt mit seinem Widersacher ab. "Buonaparte" habe der Kraft seines Geistes alles unterworfen, nur sich selbst nicht. Er hätte "der menschliche Erlöser unseres gesellschaftlich so tief gesunkenen Geschlechts" (PSW 24A, S. 111) werden können, doch er sei zum Tyrannen, zum Verräter am Recht der Menschennatur geworden. Nach Pestalozzis Überzeugung konnte seine Erscheinung einzig den Sinn haben, der Menschheit endlich die Augen zu öffnen für das Verderben, das aus der Unterordnung der Individualrechte des Menschen unter dessen kollektive Ansicht entspringt.

In der erneuten Zuwendung Pestalozzis zur Idee des aufgeklärten Absolutismus kommt gleichzeitig ein latentes Mißtrauen gegenüber der Demokratie zum Ausdruck. Pestalozzi wußte um die Zwiespältigkeit und Gefährlichkeit, aber auch um die Unumgänglichkeit der Macht. Dem Menschen zum Wohle gereicht sie nach seiner Überzeugung nur als eine in die Verfügungsgewalt von sittlichen Individuen gestellte Macht; denn in den Händen eines Volks, das den Menschen lediglich unter rein kollektivem Aspekt zu sehen imstande ist und vorwiegend aus tierisch?selbstsüchtigen Ansprüchen heraus handelt, wird die Macht regelmäßig mißbraucht und wirkt damit zerstörerisch. Pestalozzi akzeptiert die Demokratie lediglich für einen Kleinstaat, für ein Volk also, das in überschaubaren Verhältnissen lebt und in welchen der Einzelne so weit zur verantwortungsvollen Mitgestaltung des Ganzen erzogen ist, daß er die souveräne Macht mittragen kann. Unter diesen Voraussetzungen allerdings ist die Demokratie der Monarchie bzw. Aristokratie deutlich überlegen. Pestalozzi hat seine grundlegenden Gedanken in der (seinerzeit unveröffentlichten) Vorrede klar ausgesprochen:

"[...] bei einem Volk, das durch höhere Kultur sich in sich selbst innerlich veredelt und dadurch zu allgemein reinen, der Menschennatur würdigen Ansichten des gesellschaftlichen Zustandes erhoben - bei solchen, aber auch nur bei solchen und nur bei kleinen Völkern ist es möglich, daß die Souveränität des Landes als eine heilige Macht so rein vom Volk ausgehe, wie sie von der Person eines edlen Fürsten als eine solche ausgeht. Ich sage noch mehr, ich bin ein Republikaner, aber nicht ein Republikaner für große Nationen. Ich bin ein Republikaner für kleine, aber edelmütig republikanisch organisierte Stadt? und Landgemeinden, und von diesen sage ich: Das Heiligtum der souveränen Macht kann sich in denselben zu einer Höhe erheben, deren psychologisch auf die Veredlung der Individuen einwirkender Segenseinfluß in der ausgedehnten Größe einer Monarchie nicht erreichbar ist" (PSW 24A, S. 9-10).

Die innere Veredlung des Einzelnen ist somit - gerade in einer Demokratie - kein individueller Luxus, sie ist vielmehr für das Funktionieren des Staates, der sich die Vermenschlichung der Gesellschaft zum Ziel setzt, konstitutiv. Alle echt staatserhaltenden Maßnahmen müssen daher in der Erziehung der Menschen gipfeln, einer Erziehung, die deren individuellen Kräfte zur vollen Entfaltung bringt und die Individuen in sittliche Verantwortung stellt. So lesen wir in der Vorrede zu diesem Werk auch Pestalozzis berühmten Satz: "Der Anfang und das Ende meiner Politik ist Erziehung" (PSW 24A, S. 12). Der Staat muß auf gebildeten Individuen beruhen:

"Laßt uns Menschen werden, damit wir wieder Bürger, damit wir wieder Staaten werden können und nicht durch Unmenschlichkeit zur Unfähigkeit des Bürgersinns und durch Unfähigkeit zum Bürgersinn zur Auflösung aller Staatskraft, in welcher Form es auch immer geschehe, versinken" (PSW 24A, S. 39)

So ergibt sich logischerweise, daß Pestalozzi im Rahmen dieser politischen Schrift auch seine Erziehungslehre, die "Idee der Elementarbildung", ausführlich darlegt. In den pädagogischen Passagen des Werks faßt Pestalozzi zuerst die frühkindliche Existenz des Menschen ins Auge und sieht in ihr fürs Erste die Konkretisierung dessen, was er in den "Nachforschungen" als Naturzustand definiert. Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Existenz, die den Menschen weitgehend in "künstliche" Verhältnisse führt und ihn mit abstrakten Phänomenen konfrontiert, ist die Existenz im Naturzustand gekennzeichnet durch Konkretheit und Nähe. Am reinsten manifestiert sich diese konkrete, natürliche Existenz im häuslichen Kreis, aus dem der junge Mensch schon rein physisch hervorgeht. Hier kann er in der lebendigen Auseinandersetzung mit sinnlich faßbaren Phänomenen seine Begriffe bilden, seine Grundkräfte entfalten. Sozial existieren bedeutet für ihn Leben in einer überschaubaren und überdauernden Gemeinschaft und nicht Teilhabe an abstrakten gesellschaftlichen Institutionen. Die Befriedigung der Bedürfnisse, die Pestalozzi als Basis der naturgemäßen sittlichen Entwicklung erkennt, ist im Erleben des Kindes immer ein personales Geschehen zwischen Mutter und Kind und nicht eine Funktion des Staates oder gesamtökonomischer Zustände. In Pestalozzis Augen kommt daher für eine gesunde Entwicklung des Kindes dem häuslichen Leben - in der "heiligen Wohnstube" (PSW 24A, S. 33) - die überragende Bedeutung zu.

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