Ansichten, Erfahrungen und Mittel zur Beförderung einer der Menschennatur angemessenen Erziehungsweise (1806), kurz: "Ansichten und Erfahrungen"

Einführung

Bereits in Burgdorf hatte sich eine Anzahl pädagogisch interessierter Männer an Pestalozzi angeschlossen, die zum Teil unterrichteten, zum Teil Pestalozzs Ideen aufgriffen und ins Detail ausarbeiteten. Auch in Yverdon umgaben ihn zeitweise bis zu 30 Mitarbeiter und Pestalozzi verstand die Entwicklung seiner Erziehungsmethode als ein Gemeinschaftswerk. So war es nur logisch, daß er auch seine Werke, die er zu veröffentlichen gedachte, mit seinen Mitarbeitern besprach, ja diesen oft das Recht einräumte, einen direkten Einfluß auf seine Manuskripte zu nehmen. In dieser Hinsicht tat sich besonders sein engster Mitarbeiter und späterer Gegner Johannes Niederer hervor, der Pestalozzis Werke oft in sehr eingreifender und nicht immer glücklichen Weise beeinflußte, ja Pestalozzis Werke vor ihrer Veröffentlichung teilweise erheblich umarbeitete.

Pestalozzi arbeitete in Yverdon gleichzeitig an mehreren Werken. Vieles wurde überarbeitet, von den Mitarbeitern wieder abgeschrieben, erweitert, mit anderen Texten vereinigt, für Teildrucke oder Gesamtdrucke vorbereitet und dann doch nicht oder nur zum Teil gedruckt, weil entweder finanzielle Schwierigkeiten auftraten oder andere Erfordernisse in den Vordergrund traten. Dieses Schicksal hat in besonderer Weise das Werk "Ansichten und Erfahrungen" erfahren. Zu Pestalozzis Lebzeiten gelangten nur Auszüge zum Druck. Der hier vorgelegte Textauszug beruht auf der sog. "Frühen Hauptfassung" aus der Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken, die sich auf über 20 Handschriften und zahlreiche Entwürfe und Überarbeitungen, auch fremder Hände, stützt [1]. Die Schrift umfasst in der Werkausgabe insgesamt 83 Seiten, von denen hier ungefähr das letzte Drittel – an drei Stellen leicht gekürzt – wiedergegeben wird [2].

Wie so oft, beginnt Pestalozzi mit einem Lebensrückblick, womit er gleichzeitig die Entwicklung seiner pädagogischen Laufbahn und Ideen aufzeigt. Dies bietet ihm die Gelegenheit, die Entstehung und das Wesen seiner Methode einer naturgemäßen Erziehung darzulegen. Am Anfang all seiner Bemühungen steht seine Leidenschaft für die Verbesserung der Lebenssituation des Armen. So blickt Pestalozzi zuerst zurück auf seine Unternehmung auf dem Neuhof, legt ihr Scheitern dar, aber auch die für ihn unzerstörbaren Keime ihrer Wahrheit. Danach kommt er auf seine Schriftstellerei zu sprechen und auf den Wert, den er ihr beimißt. Er streift dann kurz seine Tätigkeit in Stans, äußert sich zu Burgdorf und mündet ein in grundsätzliche Erwägungen über seine jetzige Erziehungstätigkeit in Yverdon. Im Zentrum steht dabei die sittlich-religiöse Erziehung auf der Grundlage der häuslichen Erziehung. In dem hier wiedergegebenen Textauszug entwickelt er die Ansprüche, die seiner Überzeugung nach an einen Erziehungsversuch, dem Erfolg beschieden sein soll, gestellt werden müssen, und er nennt auch die Kriterien zu dessen Beurteilung. Bei seinen Erörterungen hat er offensichtlich stets seine eigene Unternehmung im Auge, die er als Erziehungsversuch deklariert und für deren öffentliche Anerkennung er wirbt. Wesentlich ist ihm der Nachweis, daß seine Methode in ihrer Allgemeinheit den jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen angepaßt werden kann und muß. Für ihn bezeichnend, geht er zuerst auf die Bedeutung der naturgemäßen Erziehung im Milieu des Reichtums ein, um sich dann wesentlich ausführlicher über den Zusammenhang zwischen seiner Methode und der Armut auszulassen. Dabei bringt er seine Hochschätzung der Armut – verstanden als "heilige Armut" – zum Ausdruck, die nicht mit allen denkbaren Mitteln beseitigt, sondern als eine besonders fruchtbare Grundlage für die Menschwerdung erzieherisch genutzt werden soll.

Weiterhin befaßt er sich mit der Schule, insbesondere aber mit der Frage, auf welche Weise das gesamte Erziehungswesen eines Landes erneuert werden kann und welche Bedeutung im Rahmen einer solchen notwendigen Erneuerung einer Versuchsschule und einzelnen Persönlichkeiten – Schulmeistern und einflußreichen Politikern – zukommt, die sich für eine verbesserte Erziehung einsetzen. Schließlich wendet er sich der Frage zu, welche Möglichkeiten einzelne Institutionen oder Persönlichkeiten bei der Verbesserung der Erziehung haben, und zeigt – in Übereinstimmung mit dem in den "Nachforschungen" dargelegten Verhältnis zwischen gesellschaftlichem und sittlichem Zustand –, daß eine Verbesserung der Zustände ohne den kraftvollen Einsatz einzelner Menschen, die aus Eigenverantwortung und auf der Grundlage ihres eigenen Gewissens handeln, nicht zu erreichen ist.

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