Über Gesetzgebung und Kindermord (1783)

Einführung

Angeregt zur Abfassung dieses Werkes wurde Pestalozzi durch eine Ankündigung in Isaak Iselins "Ephemeriden der Menschheit" vom November 1780, wonach ein Menschenfreund aus Deutschland die Preisfrage "Welches sind die besten ausführbaren Mittel, um den Kindsmord zu verhüten, ohne dabei die Unzucht zu begünstigen?" ausgeschrieben und als Preissumme 100 Dukaten ausgesetzt hatte. Im Zuge der Aufklärung befassen sich in Europa viele Autoren mit dem Problem der Strafgesetzgebung und des Stafvollzugs. Ganz allgemein zeichnete sich die Tendenz ab, nicht einfach objektiv festgestellte Vergehen mit im voraus festgesetzten Strafen zu belegen, sondern die subjektiven Beweggründe der Straftäter in die Urteile mit einzubeziehen und dann die Bestrafung nicht in erster Linie als einen Akt der Sühne oder gar Rache, sondern als einen Akt der Erziehung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu gestalten. Besonders stark bewegt wurden damals die Gemüter durch die zahlreichen Kindstötungen, die alle mit der Todesstrafe geahndet wurden. Auch Goethe hat sich bekanntlich in Faust I dieses Themas angenommen.

Pestalozzi fühlt sich sogleich zur Bearbeitung dieser brennenden sozialen und moralischen Frage aufgefordert. Es gelingt ihm, eine Reihe von Prozeßakten zu beschaffen, die er in seinem Werk teilweise wörtlich abdrucken läßt. Damit kann er das Mitgefühl des Lesers für die unglücklichen jungen Mütter zu wecken, die in ihrer seelischen Not ihr eigenes Kind umgebrachten und danach dem Scharfrichter übergeben wurden. Das ganze Buch ist eine feurige Verteidigung der verirrten armen Mütter und eine schwere Anklage gegen die Gesellschaft, ihre Einrichtungen und die von ihr vertretene verlogene Moral, aber auch der verantwortungslosen Kindesväter.

Pestalozzi geht in seinen Überlegungen vom gesunden Instinkt der menschlichen Natur aus und stellt schon von Anfang klar:

"Bei seinen Sinnen tötet ein Mensch sein Fleisch und Blut nicht, und ein Mädchen, das bei seinen Sinnen ist, streckt seine Hand nicht aus gegen sein Kind und erwürgt nicht seinen Geborenen am Hals, bis er erblaßt. Steck ein das Schwert deiner Henker Europa! Es zerfleischt die Mörderinnen umsonst! Ohne stilles Rasen, und ohne innere verzweifelnde Wut würgt kein Mädchen sein Kind, und von den rasenden Verzweifelnden allein fürchtet keine dein Schwert."(PSW 9, S. 8)

Was war es also, was die Mädchen in Wut und Verzweiflung stürzte? Nach Pestalozzis Überzeugung waren es die falschen Gesetze und die verlogenen Sitten. Während dem Christen der uneheliche Beischlaf als sündhaftes Tun gelten mag, verkündete aber die Kirche diese moralische Norm nicht nur als eine Lehre, sondern versuchte sie durch die verschiedensten Sittengesetze mit der Macht des Staates und der weltlichen Gerichtsbarkeit durchzusetzen. Wer gegen das Keuschheitsgebot verstieß, mußte vor Gericht erscheinen und wurde oft drakonisch bestraft. Im Zuge der Reformation hatte der Staat jene Rechte und Hoheiten übernommen, die bis dahin allein der Kirche zukamen und der Staat machte sich in der Folgezeit selbst zum Sittenrichter, der nicht bloß Verstöße gegen gesellschaftliche Normen, sondern auch gegen moralische Gebote bestrafte. Wurde jemand des unehelichen Beischlafs überführt, erwarteten ihn hohe Geldstrafen und der Pranger. So war es in einigen Städten üblich, daß ein schwangeres Mädchen einen Tag lang an einen Pfahl gebunden wurde und es jeder junge Mann mit Dreck bewerfen durfte. An anderen Orten mußte ein Mädchen auf den Knien öffentlich und unter dem Hohn und Gespött der Anwohner die schmutzigen Straßen der Stadt aufwaschen. Aber noch schlimmer war die soziale Isolation zu ertragen: schwangere Mädchen galten als Schande der Familie, sie wurden oft von den eigenen Eltern verstoßen, waren lebenslang der öffentlichen Verachtung preisgegeben und hatten kaum mehr eine Möglichkeit, geheiratet zu werden. Auch ihr Kind blieb lebenslang als unehelich gezeichnet und mußte mit jeder nur möglichen Benachteiligung und Zurücksetzung rechnen. So verwundert es nicht, daß die Angst vor einem solchen Leben viele Mädchen dazu trieb, ihr Kind entweder abzutreiben oder nach der Geburt umzubringen und zu beseitigen. Wurden sie aber erwischt, erwartete sie fast ausnahmslos die Todesstrafe.

Pestalozzi deckt nun die Heuchelei und Lieblosigkeit, die sich hinter diesen Sitten verbergen, schonungslos auf: erstens trifft die Strafe zumeist nur die Mädchen, da sich die Männer entweder herausreden oder aus dem Staube machen konnten, und zweitens trifft sie zumeist nur die Armen, weil die Wohlhabenden oft Mittel und Wege fanden, eine Schwangerschaft zu verhüten, das Kind abzutreiben, die Geburt des Kindes geschickt zu verheimlichen oder sich von den Strafen loszukaufen.

Pestalozzi führt den Leser mit viel Einfühlungsvermögen in das seelische Erleben eines schwanger gewordenen Mädchens hinein. Allerdings rechtfertigt er damit den Kindsmord nicht und richtet sich nicht gegen eine Bestrafung der Kindsmörderinnen, auch wenn er die Todesstrafe ablehnt. Er ist indessen überzeugt, daß dem Kindsmord nicht durch die Androhung von Strafen Einhalt geboten werden kann. Vielmehr müssen die Ursachen, die den Kindsmord begünstigen, beseitigt werden. Dazu gehört zuerst einmal die Abschaffung der Sittengerichte, denn die Angst vor deren Strafen ist nach Pestalozzis Überzeugung die wichtigste Ursache des Kindsmords. Er fordert die Abschaffung der Sittengerichte aber nicht nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sondern ebenso aus der grundsätzlichen Überlegungen heraus, daß der Staat eine Institution des gesellschaftlichen Zustandes ist und deshalb nur solche Vergehen bestrafen darf, die den gesellschaftlichen Zustand, also das Zusammenleben der Menschen, gefährden. Ein uneheliches Kind ist aber für den Staat - sofern es gut erzogen ist - genau so viel wert wie ein eheliches. Die Frage des unehelichen Beischlafs betrifft daher keine gesellschaftliche, sondern eine sittlich-religiöse Norm, also jenen Bereich, den Pestalozzi später in den "Nachforschungen" dem sittlichen Zustand zuordnet. Gegen Verstöße im sittlichen Bereich darf aber nach seiner Überzeugung der Staat nicht strafend eingreifen, dessen Aufgabe muß sich darin erschöpfen, die Erziehung zu einem sittlichen Leben zu begünstigen.

Statt Bestrafung wegen des unehelichen Beischlafs brauchen die schwangeren Mädchen vielmehr Hilfe. So schlägt Pestalozzi vor, der Staat solle edle Männer als "Gewissensräte" bestimmen, die zur strengsten Verschwiegenheit verpflichtet sind und denen sich die schwangeren Mädchen in ihrer Not anvertrauen können. Sie sollen die Frage der Vaterschaft untersuchen und dahin wirken, daß der Vater zu seinem Kind steht und daß die Eltern ihr Kind erziehen, auch wenn sie nicht heiraten wollen. Die Einrichtung von Findelhäusern für uneheliche Kinder lehnt Pestalozzi ab, denn er geht davon aus, daß eine gute Mutter und eine gute Wohnstube für das gesunde Gedeihen des Kindes erforderlich ist.

Über diese konkreten Maßnahmen hinaus fordert Pestalozzi eine fundamentale sittliche Erneuerung des Volks, was nur durch eine gerechte Gesetzgebung und durch das gute Beispiel der Regierenden zu erreichen ist. Diese wahre, sittliche Kultur kann nur vom engen Kreis der Familie ausgehen, weshalb die Maßnahmen des Gesetzgebers auf die Förderung der häuslichen Tugenden abzielen müssen. Was Pestalozzi darunter ver-steht, hat er zeitgleich in "Lienhard und Gertrud" breit dargelegt. In der Wohnstube ist auch eine natürliche sexuelle Aufklärung und Erziehung möglich. Wichtig ist ihm dabei ein das Schamgefühl achtendes, aber natürliches Verhältnis zum Bereich des Geschlechtlichen sowie ein einfaches Leben ohne aufreizenden Luxus. So gipfelt Pestalozzis Abhandlung "Über Gesetzgebung und Kindermord" in dem Satz:

"Die Ausbildung des gemeinen Mannes zu der frommen Weisheit eines reinen und glücklichen Hauslebens, ist das einzige Mittel, den Verbrechen des Volkes Einhalt zu tun. Diese aber ist nur durch die innere Veredelung der höheren Stände und der Macht, in deren Hand der gesetzgeberische Wille gelegt ist, zu erzielen möglich." (PSW 9, S. 181)

Mit anderen Worten: der Regent muß nach Pestalozzi im wahren Wortsinne ein Christ sein.

"Er opfert sich seinem Volk - und weiß, daß ohne dieses Opfer des Herrschers keine die Menschheit befriedigende Gesetzgebung möglich (ist)." (PSW 9, S. 172)

Der beigefügte Textauszug zeigt sehr deutlich Pestalozzis Gefühlsengagement, wenn er sich mit einer seiner Meinung nach für die Menschen wesentlichen Angelegenheit befaßt. Der "Mensch" ist für ihn kein Abstraktum, sondern er sieht ihn stets konkret als Einzelnen, der den Spannungen und Nöten des Lebens ausgesetzt ist.

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