Pestalozzis literarisches Hauptwerk: Lienhard und Gertrud

Pestalozzis sämtliche Schriften und Briefe füllen um die 45 dicke Bände, und doch ist sein Schrifttum beinahe unbekannt. Zwar wissen viele, dass er "Lienhard und Gertrud" geschrieben hat, aber nur wenige haben diesen Roman auch gelesen: ein stilistisch uneinheitliches Werk, das im 1. und 2. Band den Ton der Volkssprache anschlägt und im 3. und 4. Band in gedankenschweren theoretischen Abhandlungen endet.

Für Pestalozzi war der gewaltige Erfolg mit dem 1. Band seines Dorfromans (1781) der literarische Durchbruch. Nach dem Scheitern seiner landwirtschaftlichen Unternehmung und seiner Armenanstalt auf dem Neuhof war ihm das Schreiben als letzte Möglichkeit des Brotverdienstes und des öffentlichen Wirkens geblieben. In seinem letzten grossen Werk, im "Schwanengesang" (1826), hält er Rückschau auf sein Leben und schildert, wie es zu diesem Geniestreich kam:

"Marmontels ´Contes moraux´ lagen eben, als ich heimkam, auf meinem Tische; ich nahm sie sogleich mit der bestimmten Frage, ob es vielleicht möglich sei, dass ich auch so etwas machen könne, in die Hand, und nachdem ich ein paar dieser Erzählungen gelesen und wieder gelesen, schien es mir doch, das sollte nicht ganz unmöglich sein. Ich versuchte fünf oder sechs dergleichen kleine Erzählungen, von denen ich nichts mehr weiss, als dass mich keine von ihnen ansprach; die letzte war ´Lienhard und Gertrud´, deren Geschichte mir, ich weiss nicht wie, aus der Feder floss, und sich von sich selbst entfaltete, ohne dass ich den geringsten Plan davon im Kopf hatte, oder auch nur einem solchen nachdachte. Das Buch stand in wenigen Wochen da, ohne dass ich eigentlich nur wusste, wie ich dazu gekommen." (PSW 28, S. 237)

Keine Frage also: In Pestalozzi steckte ein echter literarischer Künstler, und wäre er beim Schreiben geblieben und hätte er sich um ästhetische und stilistische Fragen gekümmert, würde ihm im Deutschunterricht unserer Gymnasien dieselbe Aufmerksamkeit zuteil wie einem Gotthelf, Keller, Meyer und Spitteler. Aber für Pestalozzi war Schreiben bloss eine Notlösung, er wollte tätig wirken, und darum ärgerte er sich darüber, dass sein Buch zwar "als Roman" gefiel, aber die Menschen nicht zur Umsetzung all des Guten, das in ihm dargestellt war, zu bewegen vermochte.

Pestalozzi hatte mit seiner Dorfgeschichte offensichtlich den Zeitnerv getroffen. Im Zentrum steht das Dorf Bonnal, das man sich am besten als Birr und Lupfig – die Gegend seines eigenen Wirkens – vorstellt und in welchem Armut und Sittenverderbnis miteinander um die Wette streiten. Erste erkennbare Ursache des Übels ist Hummel, der korrupte Dorfvogt und Besitzer des Wirtshauses. Kundige Leser erkannten in ihm damals den Birrer Metzger und Wirt Heinrich Merki, dem Pestalozzi als späte Rache für die erlittenen Übervorteilungen (im Zusammenhang mit der Errichtung des Neuhofs) ein unrühmliches literarisches Denkmal setzte. Merki war übel beleumdet und hatte früher wegen Meineids und Gotteslästerung eingesessen, und so schrieb Pestalozzi ohne alle Umschweife dem Hummel auch jene Untat zu, für die Merki seinerzeit verurteilt worden war: Er hatte dem Kirchmeier mit dem Abendmahlsbecher zugeprostet.

Schon hier wird eine der wesentlichsten Überzeugungen Pestalozzis sichtbar: dass nämlich nicht bloss – wie das Sprichwort sagt – alles Gute, sondern eben auch alles Schlechte "von oben" kommt. Wenn das Volk schlecht, verwahrlost ist, so tragen die Führenden, die Machthaber dafür die Schuld. An ihnen ist es, durch gutes Beispiel und gerechte Staatsführung so zu wirken, dass Elend, Verwahrlosung, Unsittlichkeit zurückgedämmt werden und sich Wohlstand und Volksmoral entwickeln können. Kein Wunder also, dass in Pestalozzis Roman auch ein Hummel bloss darum sein Unwesen treiben kann, weil eben der nächst Höhere, der Dorfjunker, seinen Vaterpflichten gegenüber dem Dorf nicht nachgekommen ist. In den späteren Bänden (die 4 Bände erschienen im Abstand von je 2 Jahren) spinnt Pestalozzi den Faden weiter bis hinauf an den Fürstenhof und zeigt an konkreten Beispielen, wie sich höfischer Schlendrian und höfische Korruptheit bis "in die ärmste Hütte hinab" auswirken.

Und nun unternimmt Pestalozzi den literarischen Kampf gegen diese eklatante Verderbnis. Ausgelöst wird das Werk der Gesundung durch Gertrud, Inbegriff der guten, untadeligen Mutter, die sich entschliesst, die ganze Dorfmisere dem neuen Dorfjunker zu enthüllen und ihn um Hilfe zu bitten. Der Name des tatkräftigen, väterlichen Junkers, Arner, ist eine Hommage an Pestalozzis Gönner Niklaus Emanuel von Tscharner, der 1767 bis 1773 bernischer Landvogt auf dem Schloss Wildenstein war. Weitsichtig, ruhig und entschlossen setzt Arner all jene Massnahmen durch, die Pestalozzi ganz allgemein von der führenden Aristokratie erwartet. Ihm zur Seite stehen (neben der Gertrud und dem Weiberbund) der Pfarrer Ernst – in Anlehnung an den mit Pestalozzi befreundeten Birrer Pfarrer Johannes Frölich –, der Baumwollen–Meyer als Urtyp des idealistisch gesinnten Unternehmers und (ab dem 3. Band) der Schulmeister Glüphi. Später findet Arner Unterstützung für seine sozialen Reformen am Hof beim Grafen Bylifsky, womit der negativen Seilschaft, entlang welcher die Verderbnis vom Fürstenhof bis auf das Dorf herabkommt, eine positive entgegengesetzt ist, welche schliesslich unter Pestalozzis Feder obsiegt. Ihm war klar, welche Massnahmen geeignet waren, um die anstehenden sozialen Probleme zu lösen; um so grösser war dann sein Enttäuschung darüber, dass sein Buch kaum eine tatsächliche Verbesserung der Verhältnisse bewirkte. So schreibt er in einer Rückschau 1806:

"Es [das Buch] war allgemein unabhängend von meinem Tun und von meinem Streben ins Auge gefasst, und an sich selbst ungenugtuend, meine Zeitgenossen dahin zu erheben, wirklich zu versuchen, in dem Geist zu handeln, der, indem er sich in Arner, Gertrud und Glülphi aussprach, vielseitige Ansichten und Mittel an die Hand gab, die zum Heil des Volkes nicht nur gemalt, sondern ausgeübt werden sollten." (PSW 19, S. 17)

So überwältigte denn in Pestalozzi der Pädagoge den Literaten. Zuerst verfiel er auf die literarisch völlig unmögliche Idee, sein Erfolgsbuch im Stile des Heidelberger Katechismus didaktisch aufzuarbeiten: Eigenhändig schrieb er Kapitel für Kapitel von "Lienhard und Gertrud" nochmals ab, versah den Text mit Nummern, formulierte unter dem Strich zu jeder Nummer eine Frage, schloss jedes Kapitel mit einer Reihe von – wiederum durchnumerierten – "Wahrheiten und Lehren" ab und nannte das Ganze "Die Kinderlehre der Wohnstube". Er muss die Verfehltheit seines Tuns noch rechtzeitig erkannt haben, und so brach er die Übung nach 39 von 100 Kapiteln ab. Für uns Nachfahren allerdings, die ja bei Pestalozzi nicht in erster Linie spannende Geschichten suchen, sondern Einsichten und Lebensweisheiten, sind die "Wahrheiten und Lehren" allemal interessant. So wirft z.B. Nummer 1 des 39. Kapitels ein klärendes Licht auf die Frage, inwieweit Pestalozzi schon damals deutlich zwischen tierischer (sinnlicher) und höherer Natur unterschied, wenn er von der menschlichen Natur sprach:

"Der Mensch, dessen tierische Natur ihn dahin lenkt, sich blindlings den Reizen und Zerstreuungen seiner sinnlichen Gelüste zu überlassen, kommt nur dadurch, dass er in sich selbst geht und sich in sich selbst von seiner sinnlichen Natur selber absondert, dahin, menschlich handeln und leben zu können."

Im Hinblick auf das Treiben mancher Massenmedien hat der Satz "In Sinnlichkeit versunkene Menschen lieben es, sich vom Henken und Köpfen und dergleichen Sachen zu unterhalten" nichts an Gültigkeit eingebüsst, und dasselbe gilt für die Feststellung "In den Abgründen des Unrechts findest du immer die grösste Sorgfalt für den Schein des Rechts."

Es liesse sich auch heute noch ein ganzer Kalender mit den Aphorismen aus der "Kinderlehre" füllen.

Pestalozzi gab jedoch den Gedanken an eine Didaktisierung seines Buchs nicht auf und veröffentlichte 1782 sein "zweites Volksbuch", "Christoph und Else". Die Handlung ist simpel: Der Bauer Christoph und seine Frau Else lesen gemeinsam mit dem Knecht Jost und dem Knaben Fritz Abend für Abend ein Kapitel aus "Lienhard und Gertrud" und vertiefen dieses in einem Gespräch. Als Entgegenkommen an den Leser fasst Pestalozzi zu Beginn jeder "Abendstunde" den Inhalt des betreffenden Kapitels von "Lienhard und Gertrud" zusammen, worauf er dann die drei Personen miteinander diskutieren lässt. Dabei vertritt der weitgereiste Knecht Jost Pestalozzis Ansichten. Fritz hört den Gesprächen schweigend zu. Die weit ausgreifenden Erörterungen beanspruchten wesentlich mehr Platz als die entsprechenden Kapitel der Original-Erzählung, weshalb Pestalozzi nach 30 Kapiteln einen "ersten Ruhepunkt" setzte und das Werk in Druck gab. Aber das Buch missfiel, und so wurde der erste Ruhepunkt zugleich zum Schlusspunkt. Wie für die "Kinderlehre" gilt auch für "Christoph und Else": Als literarisches Produkt überzeugt das Buch nicht, aber der Gedankenreichtum des sechsunddreissigjährigen Pestalozzi vermag auch heute noch zu fesseln.

Der Misserfolg mit "Christoph und Else" veranlasste Pestalozzi, seine theoretischen Überlegungen nunmehr in die Folgebände von "Lienhard und Gertrud" einzubauen. Der Autor hatte denn auch, wie er selber bezeugt, als Leserschaft nicht mehr das einfache Volk, sondern die gebildete Schicht im Auge, weshalb er sich nun auch in stilistischer Hinsicht all das erlaubte, was ihn heute so schwer lesbar macht: eine oft hochabstrakte Ausdrucksweise und ellenlange Schachtelsätze, in die partout die ganze Fülle dessen gepresst werden muss, was ihm in seiner Begeisterung in den Kopf fährt.

Für den geduldigen, philosophisch und gesellschaftspolitisch interessierten Leser sind allerdings auch die Teile 3 und 4 von "Lienhard und Gertrud" wahre Fundgruben. Sie belegen insbesondere die allmähliche Verdüsterung von Pestalozzis Menschenbild. Die ersten beiden Teile waren noch ganz im Geiste der "Abendstunde eines Einsiedlers" (1779) geschrieben, in welchem Pestalozzis unerschütterlicher Glaube an das Gute in der Menschennatur zum Ausdruck kommt. Der Schulmeister Glüphi, Pestalozzis Sprachrohr in den Bänden 3 und 4, vertritt einen zunehmend pessimistischeren Standpunkt und gefällt sich in der Rolle des harten Realisten, der sich über die wahre Natur des Menschen keine Illusionen mehr macht. Der Mensch, sagt er, sei von Natur, sofern er sich selbst überlassen wild aufwachse, "träg, unwissend, unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig, furchtsam und ohne Grenzen gierig", und er werde dann noch durch die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, "krumm, verschlagen, heimtückisch, misstrauisch, gewaltsam, verwegen, rachgierig und grausam." Dieses Wesen sei, sofern es sich selbst überlassen wild aufwachse, der Gesellschaft nicht bloss nichts nütze, sondern ihr im höchsten Grad gefährlich und unerträglich, weshalb sie – die Gesellschaft –, sofern der Mensch für sie einigen Wert haben oder ihr auch nur erträglich sein soll, aus ihm etwas ganz anderes machen müsse, als er von Natur aus ist. Entsprechend huldigte Glüphi als Schulmeister auch der Auffassung, "um so gut zu sein als menschenmöglich, müsse man bös scheinen", "die Liebe sei zum Auferziehen der Menschen nichts nutz als nur hinter und neben der Furcht", und wenn man mit den Menschen etwas ausrichten wolle, müsse man "ihre Bosheit bemeistern, ihre Falschheit verfolgen und ihnen auf ihren krummen Wegen den Angstschweiss austreiben." Keine Frage: Wäre Pestalozzi auf diesem Standpunkt geblieben, spräche man heute kaum mehr von ihm.

Nun bemühte sich Pestalozzi bekanntlich in den achtziger Jahren um die Gunst der hohen Herren am Wiener Hof, weil er eine einflussreiche Stellung im Erziehungswesen zu erhalten hoffte. In diesem Zusammenhang schrieb er "Lienhard und Gertrud" um, verkürzte die vier Teile der ersten Fassung auf drei und publizierte diese Umarbeitung in den Jahren 1790/92. Die ganze Tendenz der inhaltlichen Umgestaltung zielt dahin, die Fürsten vor der Gefahr des Umsturzes zu warnen, sie an ihre Pflichten zu mahnen und ihre Möglichkeiten aufzuzeigen, um das Unheil abzuwenden. Vermutlich war eine offizielle Widmung des Werks an Leopold II. gedacht, was sich dann aber nach dessen überraschendem Tod (1792) von selbst erledigte. Pestalozzi hielt indessen sein Werk immer noch als unvollendet und plante einen weiteren Teil, der allerdings nicht zur Ausführung gelangte.

Ebenfalls nicht zur Ausführung kam ein beinahe gigantischer Plan, nämlich die Erfindung einer "Chronik von Bonnal", in der Pestalozzi "die Führung der niederen Menschen vom 14. Jahrhundert herab geschichtlich enthüllen und in den etlichen und neunzig Charakteren meines Buches alles, was mich die wahre Aufklärung des Volkes zu befördern dienlich dünkt, als ausgeführt und vollendet geschichtlich darlegen" wollte. Erhalten ist lediglich eine Notiz, in der er versuchte, die über neunzig Figuren seines Romans in Kategorien wie "Arme/arme Neidige, Reiche/reiche Neidige, Schlaue/schlaue Hartherzige, Einfältige" usf. einzuteilen.

Pestalozzi verlor indessen seinen Roman nie ganz aus dem Auge, was unter anderem dazu führte, dass er den 1. Teil der Frühfassung 1804 erneut in Druck gab. Dieses Buch hatte 1781 immerhin seinen europaweiten Ruf begründet, und so war es ihm möglicherweise daran gelegen, einen Zusammenhang zwischen diesem Früherfolg und der nunmehrigen pädagogischen Tätigkeit in Burgdorf und Yverdon herzustellen.

Ab 1816 eröffnete sich Pestalozzi die Möglichkeit, seine gesammelten Schriften beim renommierten Verlag Cotta herauszubringen. Vor die Frage gestellt, ob er "Lienhard und Gertrud" in der ersten oder gekürzten zweiten Fassung zum Nachdruck freigeben sollte, entschied er sich für eine dritte Möglichkeit: Er griff auf die Teile 1 und 2 der ersten Fassung zurück, gedachte aber die Fortsetzung, die ursprünglich zwei Bände umfasste, völlig neu zu schreiben und auf vier Bände auszudehnen. Der Grund zu dieser Massnahme ist leicht ersichtlich: Er hatte inzwischen wesentliche anthroplogische und pädagogische Ansichten aus den Jahren 1785 und 1787 revidiert und konnte sich nun, was Erziehung und Schulbildung betraf, auf seine reichen Erfahrungen von Stans, Burgdorf und Yverdon stützen. So ist denn der Schulmeister aus den ersten beiden Fassungen, jetzt "Glülphi" geheissen, nicht mehr zu erkennen. Im Zentrum seiner pädagogischen Bemühungen steht nicht mehr die Anpassung an die Erfordernisse des Gelderwerbs, sondern die Emporbildung der individuellen Kräfte und Anlagen im Rahmen personaler Begegnungen und in einer Atmosphäre der Liebe, um das Kind zu einer sittlichen Lebensgestaltung zu befähigen. Die beiden ersten Teile aus der Frühfassung und der neue 3. Teil erschienen 1819, der neue 4. Teil 1820. Der fünfte Teil ist von Pestalozzi noch vor dem Tod vollendet worden, doch ging das Manuskript 1843 beim berühmten Transport von 37 kg Manuskripten vom Neuhof nach Paris, wo Pestalozzis Intimus Joseph Schmid nunmehr wirkte, verloren. Auch sollen sich bei diesen Papieren Entwürfe für den 6. Teil befunden haben.

Seit Pestalozzis Tod hat "Lienhard und Gertrud" viele Neudrucke erfahren. Verständlicherweise griff man jeweils auf die erste Fassung zurück, da sie eben abgeschlossen und insgesamt auch besser als die gekürzte zweite Fassung ist. Dies ist aber insofern zu bedauern, als man natürlich in den Teilen von 1785 und 1787 nicht jenem Pestalozzi begegnet, wie er sich ab Stans selbst verstanden hat. Wer jene pädagogischen Ansichten kennenlernen will, die Pestalozzi selber als zeitlos gültig und als "gereifte Früchte am Baum meines Lebens" (PSW 28, 286) bezeichnete, muss sich an die leider unvollständige Altersfassung halten, konkret: an Band 6 der Kritischen Gesamtausgabe seiner Werke. Er wird dort zwar einer unfertigen Geschichte, aber keineswegs einer unfertigen pädagogischen Theorie begegnen.

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