Analyse der "Nachforschungen"

Einführung

Im gleichen Jahr wie die Fabeln (Figuren zu meinem ABC-Buch) erschien Pestalozzis bedeutendstes philosophisches Werk, im allgemeinen kurz Nachforschungen genannt. Es ist die Frucht jahrelanger Arbeit. Die allzu optimistische Sicht der Abendstunde hatte sich als Sackgasse erwiesen, aber auch den harten Realismus und Pessimismus der Leutnantsphilosophie empfand Pestalozzi, wie der berühmt gewordene Nicoloviusbrief zeigt, zunehmend als "beschränkten Gesichtspunkt" (Sämtliche Briefe 3, S. 300). Sein bisheriges Nachforschen galt vor allem dem Zusammenhang zwischen Tiernatur des Menschen und der gesellschaftlichen Realität, wobei er - in der Nachfolge Rousseaus - dazu neigte, das unabdingbar notwendige Sittliche in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Gesellschaftlichen zu sehen. Die Lösung, die sich ihm nun in seinem Denken bot, bestand darin, die Sittlichkeit des Menschen als eine letztlich nur dem Individuum als Einzelnem gewährte Möglichkeit zu sehen, als eine Existenzweise also, die auf einer ganz selbständigen, vom Tierischen und Gesellschaftlichen unabhängigen inneren Kraft (er nennt sie einmal den "göttlichen Funken") des Individuums beruht. Die tierische Natur des Menschen wie auch sein gesellschaftliches Existieren erweisen sich in dieser Sicht nicht als Ursachen, sondern lediglich als Voraussetzungen und Bedingungen für die sittliche Existenz des Einzelnen. Dieses dualistische Verständnis der menschlichen Natur, das in den weiteren Schriften Pestalozzis fast stereotyp als "tierische", "niedere", "sinnliche" Natur einerseits und als "höhere", "ewige", "innere", "göttliche" Natur andererseits zur Darstellung kommen wird, liegt auch den Gedankengängen der Nachforschungen - zumeist implizit - zu Grunde. 

Pestalozzi geht in seiner Schrift aus von den Widersprüchen des menschlichen Lebens als einer unwiderlegbaren Tatsache, und er fragt sich, woher sie kommen, was sie für die Existenz des Menschen bedeuten und wie sie allenfalls zu überwinden sein könnten. Seine Antworten können als Synthese zwischen den beiden früheren Standpunkten, am klarsten exemplifiziert in der Abendstunde und in der Leutnantsphilosophie, verstanden werden. Sowohl die "höhere" wie auch die "niedere" Natur des Menschen kommen zu ihrem vollen Recht. Diese ist sowohl Ausgangspunkt für die Entwicklung ins Positive wie ins Negative, denn sie konkretisiert sich nicht bloß in der menschlichen Selbstsucht, sondern darüber hinaus in einem zweiten, positiven Grundtrieb, der den Menschen vom Ich weg und hin zum Du führt: dem Wohlwollen. Dieses ist zwar im Rahmen des gesellschaftlichen Lebens zwiespältig und kann sogar schwächend und zerstörend wirken, ist aber trotzdem die natürliche Basis für die Sittlichkeit des Menschen.

Pestalozzi versucht nun die innere Dynamik der wesenhaft widersprüchlichen menschlichen Existenz dadurch zu erhellen, daß er sie als eine Entwicklung vom Naturzustand über den gesellschaftlichen Zustand zum sittlichen Zustand hin erkennt. Dabei geht es ihm weniger um eine zeitlich zu interpretierende, sondern um eine logische Entwicklung: Der Naturzustand ist jene Voraussetzung, aus der sich gesellschaftliches Leben zwingend ergibt, und der gesellschaftliche Zustand ist so geartet, daß er dem Menschen den Eintritt in den sittlichen Zustand sowohl nahelegt wie auch ermöglicht. Wir versuchen dieser Entwicklung kurz zu folgen:

a) Naturzustand

Innerhalb des Naturzustandes unterscheidet Pestalozzi zwischen dem reinen, unverdorbenen und dem verdorbenen Naturzustand:

Im unverdorbenen Naturzustand stehen die Bedürfnisse des Menschen und seine Kräfte zu deren Befriedigung in einem immerwährenden Gleichgewicht. Der Mensch will nicht mehr als das, was er kann, und er kann nicht weniger als das, was er braucht. Er gibt sich ohne besondere Kraftanstrengung dem reinen Sinnengenuß hin und genießt Sicherheit, ohne sich darum kümmern zu müssen. Sein Tun und Lassen ist ganz auf den Augenblick ausgerichtet, seiner Selbstsucht stellen sich keine Hindernisse in den Weg, sie dient lediglich seiner Selbsterhaltung, was ihm aber von niemandem erschwert oder strittig gemacht wird. Selbstsucht und Wohlwollen sind also harmonisch ausgeglichen. Des Menschen Tun liegt jenseits von Schuld, denn er gehorcht dem natürlichen, noch nicht verdorbenen Instinkt. Sein natürlicher Freiheitsdrang wird von niemandem gehemmt und ist deshalb nicht gewalttätig.

Wir erkennen in dieser Vorstellung des Menschen im unverdorbenen Naturzustand unschwer Rousseaus Bild vom natürlichen, guten Wilden. Während aber Rousseau in seinem EMILE tatsächlich den Versuch unternimmt, dem Kind diese Natürlichkeit bis zum Beginn der Pubertät zu erhalten, so erkennt Pestalozzi das Illusionäre einer solchen Annahme. Nach ihm kennen wir daher den reinen Naturzustand gar nicht; er läßt sich nur denken und erahnen. Aber gerade dadurch, daß er sich denken läßt, wird er im menschlichen Leben wirksam, da sich der Mensch dadurch die verlorene und wieder anzustrebende Harmonie vorzustellen vermag. Allerdings hält Pestalozzi diese rein natürliche, auf Instinkt beruhende Harmonie für unwiederbringlich und notwendigerweise verloren. Ein Zurück gibt es nicht. Die verlorene Harmonie muß mit andern Mitteln wiederhergestellt werden: durch Sittlichkeit aus innerer Freiheit, wie wir später sehen werden.

Was wir somit real erleben und am Menschen kennen, ist der verdorbene Naturzustand. Pestalozzi versteht darunter den Menschen, insofern er physischen Bedürfnissen unterliegt und seiner Sinneslust unterworfen ist, somit den Menschen als Trieb- und Instinktwesen, als "Tier". Im verdorbenen Naturzustand ist die Harmonie zwischen den Wünschen und Bedürfnissen und den zu ihrer Befriedigung erforderlichen Kräften zerbrochen. Der Mensch erlebt seine Unzulänglichkeit, seine Hilfsbedürftigkeit, seine Schwäche. Sein Leben ist gekennzeichnet durch Anstrengung, Sorgen, Kampf. Soweit ihm niemand in die Quere kommt, ist er immer noch natürlich wohlwollend, denn dies entspricht seiner Trägheit und dem Umstand, daß er sich im allgemeinen in der Eintracht wohler fühlt als im Streit. Da jedoch die täglichen Sorgen die Selbstsucht anstacheln, streben doch alle mehr oder weniger nach Macht, woraus der Kampf aller gegen alle resultiert. Der Einzelne scheut sich nicht, seine egoistischen Macht- und Besitzansprüche auf Kosten der andern durchzusetzen. Er beansprucht "Naturfreiheit", das heisst: zu tun und zu lassen, was ihm beliebt, und greift wenn nötig zur Gewalt. Wo immer auch der einzelne Mensch sich durchsetzt, bloß um Unlust zu vermeiden oder größere Lust zu gewinnen und seine egoistischen Interessen durchzusetzen, manifestiert sich jeweils sein Naturzustand, d.h. ist er - wie Pestalozzi sagt - "Tier" oder "Werk der Natur".

b) Gesellschaftlicher Zustand

Auch der verdorbene Naturzustand ist nur gedanklich vom nächst höheren, vom gesellschaftlichen Zustand, zu trennen, denn der egoistische Kampf um Macht und Besitz setzt schon das Vorhandensein von Eigentum voraus. "Gesellschaftlich" sind lediglich die Eigentumsbegriffe und die Eigentumsregelung, "tierisch" jedoch ist die selbstsüchtige, rücksichtslose Durchsetzung der eigenen Interessen auf Kosten der andern. Weil tierische Selbstsucht und Eigentum in der Alltagserfahrung fast nicht zu trennen sind, hat denn auch Pestalozzi den gesellschaftlichen Zustand als "modifizierten Naturzustand" definiert und das eigentliche Regulativ des gesellschaftlichen Zustands nicht mehr so sehr im Eigentum (wie in den achtziger Jahren) als vielmehr im gesetzten ("positiven") Recht gesehen. Freilich ist das erste positive Recht ebenfalls auf das Eigentum bezogen, denn der Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung ist die Erleichterung und Sicherstellung der Bedürfnisbefriedigung durch kollektive Mittel wie Erwerb, Besitz, Arbeitsteilung. Da aber die Entwicklung des gesellschaftlichen Zustandes immer neue Lebensmöglichkeiten schafft, hat das Recht nicht bloß die Aufgabe, die Befriedigung der primären Bedürfnisse der Individuen sicherzustellen, sondern auch ganz allgemein alle Formen des gesellschaftlichen Lebens zu regeln. Es schafft Räume zu freier Gestaltung, auferlegt aber dem Menschen immer auch Pflichten und beschneidet seine Naturfreiheit. Dieser "Verlust" wird u.a. durch den "Gewinn" aufgewogen, daß Rechtsverstöße überindividuell geahndet werden und damit der Einzelne Sicherheit genießt.

Zusammenfassend läßt sich somit sagen: Gesellschaftlich existiert der Mensch insofern, als sein Verhalten geregelt ist durch das Gesetz, als er Rechte genießt und Pflichten erfüllt, als er sich eingebettet findet in Systeme, Institutionen und kollektive Abläufe.

Der Genuß gesellschaftlicher Errungenschaften hat aber seinen Preis: Durch die Vergesellschaftung gerät der Mensch, wie schon früher dargelegt, in Widerspruch mit sich selbst, denn seine Selbstsucht ist im gesellschaftlichen Zustand nicht ausgelöscht. Es ist seine Selbstsucht, die ihn zur Vergesellschaftung antreibt, und es ist dieselbe Selbstsucht, die ihn immer wieder veranlaßt, die Konsequenzen dieses Schritts abschütteln zu wollen. Das hat zur Folge, daß er den Zweck, um dessentwillen er in den gesellschaftlichen Zustand eingetreten ist, in eben diesem Zustand niemals wird erreichen können. Der Mensch vergesellschaftet sich in der Hoffnung, dadurch die verlorene Harmonie zwischen Bedürfnis und Kraft wiederzugewinnen, und genau diese ersehnte Harmonie wird er im gesellschaftlichen Zustand niemals erreichen. Im Gegenteil: Der gesellschaftliche Prozeß weckt auf der einen Seite immer neue Bedürfnisse und stellt deren mögliche Befriedigung in Aussicht, macht aber auf der andern Seite den Einzelnen durch die immer komplizierteren Abhängigkeiten und die immer weitergehende Arbeitsteilung immer schwächer. Der gesellschaftliche Zustand ist daher stets labil; er ist davon abhängig, inwieweit er durch gerechte Gesetze geregelt ist und inwieweit sich die Einzelnen an diese Gesetze halten. Anerkennt der Mensch - sei er nun Gesetzgeber, Regierender oder einfacher Staatsbürger - das gesellschaftliche Recht, so festigt er damit den gesellschaftlichen Zustand und schafft Bedingungen dafür, daß sich der Einzelne zur Sittlichkeit erheben kann. Mißachtet er aber die Gesetze und das gesellschaftliche Recht, dann droht er ständig wieder in den Tierzustand abzusinken, er wird entweder Tyrann oder Sklave oder Barbar.

Wenn auch dieser gesellschaftliche Zustand den Menschen nie befriedigen kann, so stellt er doch eine notwendige Zwischenstufe für den Gang des Menschen vom Naturzustand zum sittlichen Zustand dar. Vorerst einmal schafft er einigermaßen lebbare Verhältnisse, indem er die Allgemeinheit vor allzu großen Auswüchsen individueller egoistischer Impulse schützt. Damit erwächst dem Einzelnen ein Raum relativer Ruhe und Sicherheit, der es ihm ermöglicht, zur Besinnung zu kommen und sich um wesentlichere Aufgaben zu kümmern als bloß um den Kampf ums Dasein. Sodann sind jene Verhaltensweisen, die ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben erfordern, in gewisser Weise eine Einübung ins sittliche Handeln. Was nämlich den gesellschaftlichen Menschen vor dem Naturmenschen auszeichnet, ist insbesondere seine Fähigkeit, die instinktiven Regungen im Zügel zu halten, sei dies auch nur auf gesellschaftlichen Druck hin. Diese Gewöhnung an den äußeren Gehorsam gegenüber den Gesetzen ist eine Vorstufe für den inneren Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen. Ferner vermag der gesellschaftlich vereinigte Mensch kraft seiner Denkfähigkeit und des gesellschaftlich vermittelten Wissens die Widersprüchlichkeit des bloß gesellschaftlichen Existierens zu erkennen und daraus den Schluß zu ziehen, daß er sich um Sittlichkeit bemühen muß, wenn er zum Erlebnis eines erfüllten Lebens kommen will. Pestalozzi erkennt im Erleiden der gesellschaftlichen Widersprüche einen tiefen Sinn: Ich soll sie als Mensch so lange ertragen, "bis ich in ihrem Erdulden zu einer höheren Selbständigkeit gereift, bis ich durch die Erfahrungen derselben von dem Trug und dem Unwert des tierischen Verderbens, auf welchem der gesellschaftliche Zustand ruht, ganz überzeugt, dahin gelange, alle Dinge dieser Welt im Gesichtspunkte ihres Einflusses auf meine innere Veredelung ins Auge zu fassen" (PSW, 12, S. 109) .

c) Sittlicher Zustand

Damit erhebt sich der Mensch in den sittlichen Zustand. Dieser beruht auf einer selbständigen Kraft im Menschen, auf dem ‚göttlichen Funken'. Diese in ihrem Wesen von den tierischen und gesellschaftlichen Bedingungen unabhängige Kraft ermöglicht es dem Menschen, sich selbst zu vervollkommnen. "Ich besitze eine Kraft in mir selbst, alle Dinge dieser Welt mir selbst, unabhängig von meiner tierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen, gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu meiner inneren Veredelung beitragen, vorzustellen und dieselbe nur in diesem Gesichtspunkt zu verlangen oder zu verwerfen. Diese Kraft ist im Innersten meiner Natur selbständig, ihr Wesen ist auf keine Weise eine Folge irgendeiner anderen Kraft meiner Natur. Sie ist, weil ich bin, und ich bin, weil sie ist. Sie entspringt aus dem mir wesentlich einwohnenden Gefühl: Ich vervollkommne mich selbst, wenn ich mir das, was ich soll, zum Gesetz dessen mache, was ich will" (PSW 12, S. 105) .

Die so verstandene Sittlichkeit "ist ganz individuell, sie besteht nicht unter zweien. Kein Mensch kann für mich fühlen, ich bin. Kein Mensch kann für mich fühlen, ich bin sittlich." (PSW 12, S. 106). Man darf also die Sittlichkeit nicht verwechseln mit dem objektiv Guten, das sich in guten gesellschaftlichen Einrichtungen, in gerechten Gesetzen und in angewöhnten guten Gepflogenheiten verfestigt haben mag. Sittlichkeit ist stets Handeln, aus freiem Gewissensentscheid heraus gewollte Tat des Einzelmenschen, ist konkreter Akt (also nicht, wie Pestalozzis Ausdruck suggeriert, "Zustand"), und sie ist daran zu erkennen, daß der Handelnde aus freien Stücken seine eigene Selbstsucht überwindet. Nur durch dieses sittliche Wollen gelingt es dem Menschen, die verlorene Harmonie mit sich selbst wieder herzustellen und die Widersprüche in sich selbst zu überwinden. War der Mensch im Naturzustand ein ‚Werk der Natur' und im gesellschaftlichen Zustand ein "Werk der Gesellschaft", so ist er jetzt - im sittlichen Zustand - durch die freie, sittliche Tat ein "Werk seiner selbst". Er ist nicht mehr bloß "Tier", er ist nicht mehr bloß "Bürger", er ist jetzt im vollen Sinne "Mensch". Und "Mensch" zu werden ist nach Pestalozzis Überzeugung die vornehme, aber unabdingbare Aufgabe und Bestimmung jedes einzelnen Individuums.

Wie wir somit sehen, ist die Sittlichkeit ganz an die Entscheidung des Einzelmenschen gebunden. Niemand kann einen Menschen sittlich machen als er sich selbst; die Mitmenschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse können dies bloß erschweren, erleichtern oder ihm nahelegen. So schreibt Pestalozzi unter anderem:

"Rein sittlich sind für mich nur diejenigen Beweggründe zur Pflicht, die meiner Individualität ganz eigen sind. Jeder Beweggrund zur Pflicht, den ich mit anderen teile, ist es nicht, er hat im Gegenteil insoweit für mich immer Reize zur Unsittlichkeit, das ist: zur Unaufmerksamkeit auf den Trug meiner tierischen Natur und das Unrecht meiner gesellschaftlichen Verhärtung in seinem Wesen. Je größer die Zahl derer ist, mit denen ich meine Pflicht teile, je stärker und vielfältiger sind die Reize zur Unsittlichkeit, die mit dieser Pflicht verbunden sind. Hinwieder je weiter die Gegenstände, von denen sich meine Pflicht herschreibt, von meiner Individualität entfernt stehen, desto stärker wirken die Reize zur Unsittlichkeit, die damit verbunden sind, auf meine Natur. Alles was ich als Glied eines Korps, einer Gemeinde - noch mehr: was ich als Glied einer Innung, einer Faktion zu fordern habe, das entmenschlicht mich immer mehr oder weniger. Je größer das Korps, die Gemeinde, die Innung oder Faktion, von der sich mein Recht und meine Pflicht herschreibt, je größer ist auch die Gefahr meiner Entmenschlichung, das ist, meiner gesellschaftlichen Verhärtung gegen alle Ansprüche der Sittlichkeit auf diese Pflicht und auf dieses Recht"
(PSW 12, S 114).

Es wäre ein Mißverständnis, diese Position als asozialen Individualismus zu deuten. Das Grundanliegen der Sittlichkeit - die Selbstvervollkommnung durch die Überwindung des eigenen Egoismus - ist seinem Wesen nach schon sozialer Natur. Sittlichkeit ist für Pestalozzi nie anders denkbar und möglich als in der persönlichen Hingabe des Einzelnen an das Du und an die Gemeinschaft in der tätigen Liebe. Aber wahre Sittlichkeit ist das soziale Handeln nicht, solange es bloß aus einer sinnlichen Neigung, aus einer gesellschaftlichen Verpflichtung oder aus einer falsch verstandenen Solidarität im Sinne der Zusammenrottung entstammt, sondern erst dann, wenn es auf einem freien, subjektiven Entschluß beruht, der mit dem eigenen Gewissen übereinstimmt und immer auch die Auslöschung der eigenen Selbstsucht bedeutet.

Zwar begreift Pestalozzi den sittlichen Zustand als wesensmäßig unabhängig vom tierischen und gesellschaftlichen, trotzdem sind die drei Zustände aber im konkreten Dasein des Individuums nicht voneinander zu trennen. Ein natürliches und gesellschaftliches Wesen ist der Mensch jederzeit, und zwar mit Notwendigkeit. Ein sittliches Wesen ist er immer dann, wenn er es will. Aber er kommt kaum dazu, es wollen zu können, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen schlecht sind. Die guten Gesetze und Gewohnheiten eines Volkes erleichtern ihm das Ergreifen der eigenen, inneren Freiheit. Anderseits aber wirkt sich die Sittlichkeit der Individuen wohltuend auf den gesellschaftlichen Zustand aus, indem sich sittliche Menschen notwendigerweise für gerechte Gesetze und Verhältnisse und für ein befruchtendes gesellschaftliches Lebens einsetzen.

In Pestalozzis Anthropologie und konsequenterweise in seiner auf ihr ruhenden Pädagogik steht im Zentrum der Anspruch an den Menschen, sittlich zu handeln. Aber Pestalozzi ist kein Utopist und gesteht unumwunden ein, daß es dem Menschen unmöglich ist, rein sittlich zu handeln, denn er ist stets im Gesellschaftlichen verstrickt und auch als natürliches Wesen mit Trieben und Bedürfnissen ausgestattet, deren Befriedigung gegenüber der sittlichen Tat oft Vorrang haben muß, wenn er nicht physisch zugrunde gehen will. Damit spricht Pestalozzi ein klares Ja zur ursprünglichen Konflikthaftigkeit und Spannung des Menschen. Der Widerspruch, von dem Pestalozzi in seiner Analyse der menschlichen Existenz als einem offenkundigen Faktum ausgegangen ist, erweist sich als zum Wesen des menschlichen Daseins gehörend. Sittlichkeit und damit der innere Frieden und die Harmonie mit sich selbst und der Welt wird dem Menschen in diesem Leben niemals als dauerhafter Besitz, sondern bloß als immer neues Geschehnis zuteil. Aber trotz dieser Erkenntnis resigniert Pestalozzi nicht, sondern spricht ein tapferes Trotzdem. Die Natur entläßt den Menschen unvollkommen, und der Mensch muß seine Menschwerdung selbst vollenden. "Die Natur hat ihr Werk ganz getan, also tue auch du das deine!" (PSW 12, S. 25). Immer dann, wenn es dem Menschen gelingt, "Werk seiner selbst" zu werden - und das ist eben nicht immer möglich -, immer dann hat er die Harmonie in sich selbst durch die Überwindung seiner Selbstsucht wieder hergestellt. Dann ist er wahrhaft frei, dann ist er Mensch.

d) Fazit

Wie der Aufbau der Nachforschungen deutlich zeigt, will Pestalozzi nicht bloß das Wesen der drei "Zustände" und deren Wechselwirkungen erhellen, sondern mit Hilfe dieses Verständnisses die Komplexität menschlichen Seins analysieren und durchschauen können. Die drei Zustände sind ja nicht als isolierte oder isolierbare Lebensmöglichkeiten zu verstehen, sondern als einander durchdringende und gegenseitig bedingende Existenzweisen. So analysiert Pestalozzi die folgenden Phänomene hinsichtlich der Frage, inwieweit sich der Mensch dazu als "Werk der Natur", als "Werk meines Geschlechts" oder als "Werk seiner selbst" verhält: Kenntnis und Wissen, Erwerb, Eigentum und Besitzstand, Recht, gesellschaftlicher Zustand, Macht, Ehre, Unterwerfung, Beherrschung, Adel, Handlung, Kronrecht, gesetzliches Recht, Freiheit, Tyrannei, Aufruhr, Staatsrecht, Liebe, Religion, Wahrheit und Recht, wobei Pestalozzis Auswahl deutlich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts spiegelt. Heute ließen sich zusätzlich andere humane Phänomene dieser Pestalozzischen Analyse unterwerfen, so etwa: Friede, Beruf, Konfliktlösung, Autorität, Ehe, Bildung. In jedem Fall würde es sich zeigen, daß all diese "einfachen" Begriffe drei wesensmäßig zu scheidende Aspekte beinhalten und insofern den anthropologisch bedingten Widerspruch konstituieren, als im jeweiligen "Zustand" andere und einander teilweise widersprechende Gesetzmäßigkeiten gelten. So sind etwa Machteinsatz und Mißtrauen im Gesellschaftlichen durchaus am Platz, dem sittlichen Bereich aber wesensfremd und insoweit destruktiv.

Die in den Nachforschungen entwickelte Sichtweise des Menschen liegt allen späteren Schriften Pestalozzis unausgesprochen zu Grunde. Sein politisches und pädagogisches Bemü-hen dreht sich immer um die Frage: Wie gelingt es, aufbauend auf der Natur des Menschen und unter Einbezug der gesellschaftlichen Verhältnisse die natürlichen Triebe auf eine solche Art befriedigen zu können, daß sie die höheren Möglichkeiten des Menschen nicht überwuchern, sondern vielmehr zur Grundlage werden können für die Entwicklung der Anlagen der höheren Natur und deren Weiterentwicklung zur Sittlichkeit? Die Antwort auf diese Frage verweist den Menschen grundsätzlich auf politisches und erzieherisches Handeln. Politik ohne erzogene Menschen führt in bloßen gesellschaftlichen Kampf und in Unterdrückung durch perfekte gesellschaftliche Mittel. Erziehung ohne Politik übersieht und vernachlässigt die Bedingungen, die eine auf Sittlichkeit hinstrebende Erziehung entweder ermöglichen und erleichtern, oder aber erschweren und verhindern können. Die unmittelbaren Resultate der Politik und der Erziehung sind indessen nicht gleichwertig: Der gut funktionierende Staat ist niemals letzter Zweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck; der sittliche Mensch hingegen ist die Erfüllung des menschlichen Daseins.

"Volltext der Nachforschungen"