Pestalozzi's Schwanengesang (1826), kurz: "Schwanengesang"

Einführung

Pestalozzis letzte große Schrift erschien wenige Monate vor seinem Tod. Es war die ursprüngliche Absicht des Autors, einerseits die Idee der Elementarbildung in aller Breite und Geschlossenheit nochmals darzustellen und andererseits eine Übersicht über sein eigenes bewegtes Leben zu geben. Danach hat seine Tätigkeit in Burgdorf und Yverdon, wo er sich nicht konsequent genug für das Wohl und die Bildung der Armen einsetzen konnte, nicht seiner wahren Lebensabsicht entsprochen. Das Einzige, was er als seine bleibende Lebenstat anerkennt, ist die Ausarbeitung der "Idee der Elementarbildung". Am Schluß des "Schwanengesangs" schreibt er:

"Ich darf in dieser Stunde mit dem ruhigsten Ernst aussprechen: Ich bin für einige sehr bedeutende und wesentliche Teile der hohen Idee der Elementarbildung vielleicht reifer geworden, als es wenige sind und als ich es ohne die Widerwärtigkeiten und Unglücke meines Lebens selber nie geworden wäre. Ich sehe diese, wenn auch nur wenigen und nur einzelnen Resultate meines Tuns als gereifte Früchte am Baum meines Lebens noch feststehen und lasse sie mir ohne Widerstand von keinem gut oder bös gemeinten Wind so leicht von mir wegblasen. Ich sage noch einmal, diese zwar wenigen und einzelnen Früchte meiner Lebensbestrebungen sind, nach meinem innersten Gefühl, auch in ihrer Beschränkung ihrer Reifung in einem Grad nahe, daß es meine heiligste Pflicht ist, für ihre Erhaltung zu leben, zu kämpfen und zu sterben." (PSW 28, S. 286)

Pestalozzi beginnt sein Werk einmal mehr mit der grundlegenden Frage nach der menschlichen Natur. Der Vergleich des Menschen mit dem Tier gibt ihm die Bestätigung seiner Grundüberzeugung von der Doppelseitigkeit der Menschennatur: was der Mensch mit dem Tier gemein hat, macht seine tierische Natur aus; was ihn über das Tier hinaushebt - seine dem Tier nicht mögliche Weise, Kräfte und Anlagen des Kopfs, der Hand und des Herzens zur Menschlichkeit zu entfalten, kurz also: sein "Geist" -, ist die höhere, eigentlich menschliche Natur. Zwar bleibt das Verhaftetsein des Menschen im Tierischen sein Schicksal, das er nicht nur anerkennen, sondern aus dem er durch tierisch?sinnliche Einlenkung beim Prozeß der Höherentwicklung auch gebührenden Gewinn ziehen soll, doch ist die unbedingte Unterordnung des Tierischen unter das Geistige für die Entfaltung des Menschlichen im Menschen unerläßlich. Die Mutter, deren Liebe zum Kind über den bloßen Instinkt hinaus zur sittlichen Muttertreue menschlich entfaltet ist, verfolgt dieses Ziel vom ersten Lebenstag ihres Kindes an. Freilich geschieht dies eben gerade nicht durch Unterdrückung tierischer Bedürfnisse, sondern durch deren einfühlsame Befriedigung, um das Aufkommen tierischer Gierigkeit zu verhindern und dem Kind die Basis für jede menschliche Entwicklung seiner Anlagen, die Ruhe, zu sichern.

Der vorliegende Textauszug zeichnet sich durch Klarheit und Folgerichtigkeit in der Gedankenführung aus, was den Verzicht auf weitere Erläuterungen nahelegt. Es sei lediglich noch auf die interessante Stufenfolge der Entwicklung der Kunstkräfte hingewiesen, da diese Sicht der Problematik in keiner der anderen hier wiedergegebenen Schriften so deutlich zum Ausdruck kommt. Wie alle andern Kräfte, entwickeln sich auch die Kräfte der Hand lediglich durch deren Gebrauch und nicht etwa durch das Reden oder Nachdenken über sie. Die Entwicklung der handwerklichen Kräfte kann auch nicht selbständig, sondern nur in Verbindung mit der intellektuellen Entwicklung vonstatten gehen. Im Verein mit ihr durchläuft sie vier Stufen: Aufmerksamkeit auf Richtigkeit (Suche nach Lösungen), Kraft der Darstellung (Probieren und Üben), Leichtigkeit und Zartheit (Perfektionierung, Virtuosität) und Freiheit und Selbständigkeit (Kreativität). Aber auch diese Entwicklungslinie darf nicht einseitig, sondern muß in Übereinstimmung mit den geistigen und insbesondere den sittlichen Kräften verfolgt werden. Erst diese Harmonie in der Kräfteentfaltung garantiert dem Menschen seine Identität.

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