Yverdon

1804-1825

Gemeinsam mit drei Lehrern machte sich Pestalozzi in der 2. Jahreshälfte 1804 an den Aufbau seines neuen Instituts im Schloss Yverdon. Währenddessen verschlechterte sich in Münchenbuchsee die Stimmung unter den zurückgebliebenen Lehrern und Zöglingen, denn Fellenberg entschied sehr selbstherrlich und duldete keinerlei Widerspruch. Darum siedelten auch sie schon nach einem guten halben Jahr geschlossen nach Yverdon über.

Pestalozzis Institut in Yverdon wurde rasch berühmt und sein pädagogischer Impuls strahlte vor allem nach Deutschland und hier besonders nach Preußen, aber auch nach Frankreich, Spanien, Italien, England, Russland und Amerika aus. Die Leitung des Instituts lag in den Händen einer Kommission, der neben Pestalozzi noch vier weitere Mitarbeiter angehörten. Sie wählte für jedes Unterrichtsfach einen Oberaufseher und sorgte sich um die Finanzen.

Die eigentliche Blütezeit des Instituts waren die wenigen Jahre 1807 bis 1809. Da zählte die Schulgemeinde 165 Zöglinge, 31 Lehrer und Unterlehrer, 32 Seminaristen und 10 Mitglieder der Familie Pestalozzi mit ihren Hausangestellten, insgesamt also knapp 250 Personen. Ferner gehörte zu Pestalozzis Gemeinde in Yverdon noch sein Töchterinstitut gleich neben dem Schloss, denn Jungen und Mädchen wurden getrennt unterrichtet und erzogen. Ökonomisch hatte das Institut allerdings immer zu kämpfen, da sich Pestalozzi mit einem zu geringen Pensionspreis zufrieden gab, und er überdies viele Kinder armer Eltern unentgeltlich aufnahm, weshalb fast ein Drittel der Institutsbewohner nichts bezahlte. Die Lehrer arbeiteten praktisch ohne Lohn und erhielten nur Unterkunft und Verpflegung. Haushaltspläne oder eine geordnete Buchführung gab es nicht, insbesondere arbeitete die angegliederte Buchdruckerei immer mit hohen Verlusten.

Der Schulstoff wurde zumeist in Gruppenarbeit und -unterricht bewältigt. Schüler, die eine Sache begriffen hatten, wurden sogleich als Lehrer für ihre Mitschüler eingesetzt. Die Unterrichtszeit betrug etwa das Dreifache von dem, was heute in den Schulen der Schweiz oder Deutschlands üblich ist, nämlich ungefähr 60 volle Stunden in der Woche. Unterrichtet wurden Mathematik (Arithmetik und Algebra), Formenlehre, Zeichnen, Geographie, Geschichte, deutsche und französische Sprache, Religionslehre, Naturkunde (Chemie, Physik, Zoologie, Botanik), Latein, Gymnastik, Gesang, Buchhaltung und Briefe schreiben. Der Stundenplan war aber nicht immer gleich, denn Pestalozzis Institut verstand sich als eine Versuchsschule. Zu gewissen Zeiten wurden den Kindern täglich eine oder mehrere Stunden zum individuellen Lernen eingeräumt.

Pestalozzi wünschte eine intensive Zusammenarbeit mit den Eltern. Diese wurden aufgefordert, Kritik offen auszusprechen. Täglich kamen Besucher nach Yverdon, und jedermann erhielt in allen Schulzimmern sofort Zutritt. Pestalozzi selbst nahm sich jedes Besuchers an und freute sich kindlich über das große Interesse, das man der pädagogischen Arbeit des Instituts entgegenbrachte. Der Klassenlehrer musste die Eltern jedes Schülers regelmäßig über das Verhalten und die Lernfortschritte schriftlich orientieren. Vergleichende Leistungsbewertungen, also Noten und Zeugnisse, wie sie damals an den Schulen aufkamen und heute in den meisten Schulen üblich sind, gab es mit Absicht nicht. Pestalozzi wollte nicht, dass Kinder miteinander verglichen wurden; die Leistungen eines Kindes sollten allein an seinen eigenen Kräften und Anlagen gemessen werden.

Die Voraussetzungen bei den Zöglingen waren dabei außerordentlich unterschiedlich. Neben Hoch- und Normalbegabten brachte man auch Minderbegabte, Verhaltensgestörte und Schwererziehbare zu Pestalozzi nach Yverdon. Das Mindestalter der Schüler war 7 Jahre. Wer älter als 11 Jahre war, wurde in der Regel nicht mehr aufgenommen. Man behielt die Zöglinge bis zum 15. Lebensjahr, sofern sie nicht als Seminaristen weiter im Institut bleiben wollten.

Einen wichtigen Platz im Institutsleben nahmen die Schülerwanderungen ein. Ferien gab es nicht, aber die Wanderungen dauerten oft Wochen und führten die Schüler in die Alpen und ins umliegende Ausland. Diese Wanderungen standen alle im Dienste der direkten Anschauung und galten als Bestandteil des Naturkunde- und Geographieunterrichts. Zuvor wurden jeweils Orts- und Reisebeschreibungen gelesen, Landkarten studiert und die Reiseausrüstung besprochen. Auch sonst zog man während des Unterrichts oft ins Freie, um Pflanzen, Landschaftsformen, Tiere oder Gesteine zu betrachten, zu beschreiben und abzuzeichnen. Von großem erzieherischen Wert hielt Pestalozzi auch Hand- und Gartenarbeiten. Die Schüler lernten darum auch den Umgang mit Säge, Hammer und Hobel, sie betätigten sich an der Drehbank, sie halfen im Haushalt, in der Buchdruckerei und Buchbinderei des Instituts mit, sie arbeiteten zeitweise in den Werkstätten der Schreiner, Mechaniker, Uhrmacher und Drechsler von Yverdon, und sie hielten Tiere (Kaninchen) und bestellten ihre eigenen Gartenbeete. Sport und Spiel gehörten zum Alltag in Yverdon: Im nahen See wurde regelmäßig gebadet, und alle Schüler lernten schwimmen. Im Winter wurden Schneeburgen gebaut, und wenn der See einfror, liefen alle Schlittschuh.

Überhaupt wollte man im Institut möglichst natürlich wie in einer Großfamilie zusammenleben. Die meisten jungen Unterlehrer (16-20jährige Seminaristen) und Oberlehrer genossen eine weitgehende Freiheit, ebenso die Schüler. Es gab keine festen Vorschriften und Verbote, sondern bei jedem Vorfall hatte der Erzieher neu und dem individuellen Fall angepasst eine Entscheidung zu treffen. Die Knaben liefen im Sommer ohne Schuhe und trugen - entgegen damaligem Brauch - auch keine Hüte, ihre Kleidung sollte die natürlichen Bewegungen nicht hemmen. Erregung des Ehrgeizes, Demütigungen, Zorn, Misstrauen und Körperstrafe waren als Erziehungsmittel verpönt. Die Lehrer konnten, um ihre Absichten durchzusetzen, lediglich auf ihre persönliche Autorität, auf ihre Ausstrahlung und Überzeugungskraft bauen. Sie lebten dauernd mit den Zöglingen zusammen, aßen und schliefen mit ihnen in denselben Räumen.

Pestalozzi selbst nahm die Stellung eines Vaters und geistigen Anregers ein und ließ sich auch gerne "Vater Pestalozzi" nennen. Er widmete sich überwiegend seinen schriftstellerischen Arbeiten, überwachte die pädagogische Arbeit der Lehrer, ließ sich wöchentlich über einzelne Schüler berichten, empfing die ungezählten Besucher und richtete Tag für Tag ermahnende Worte an die ganze Hausgemeinde. An Fest- und Feiertagen hielt er seine großen Reden, die einen nicht geringen Teil seines geschriebenen Werks dieser Jahre ausmachen.

Pestalozzis Uneigennützigkeit und sein alle Besucher beeindruckendes Erscheinungsbild sind vielfach von Zeitgenossen und engen Mitarbeitern bezeugt. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Seine Persönlichkeit war widersprüchlich, oft zerrissen. Es war ihm nicht gegeben, sein Haus mit Ruhe und Übersicht zu führen. Mehr als 15 der insgesamt 20 Jahre seines Aufenthalts in Yverdon wurden getrübt durch alles vergiftende Auseinandersetzungen unter den Lehrern. Sie wurden mit aller Schärfe publizistisch und auch vor Gericht öffentlich ausgetragen und haben nicht nur das hohe Ansehen des Instituts beschädigt, sondern dieses schließlich auch ruiniert. Einer der Gründe ist eindeutig in Pestalozzi mangelnden Organisations- und Führungsqualitäten zu suchen. So schreibt beispielsweise Karl Justus Blochmann, der von 1809-1816 Lehrer in Yverdon war:

"So oft, wenn ich den Unvergeßlichen anschaute, als ich ihm noch nahestand, erschien er mir wie ein groß gewordenes Kind mit aller Herrlichkeit der kindlichen Natur, aber auch mit den Schwächen und Unvollkommenheiten derselben. Die Reinheit und Unschuld, der Glaube und die Liebe, die Milde und Hingebung des Kindes schmückten und adelten seine Seele bis ins Greisenalter, aber die Ruhe und Besonnenheit, die Umsicht und Vorsicht, die klare Herrschaft über Zustände und Personen, die den Mann zieren, mangelten ihm in hohem Grade. [...] Er besaß trotz seiner großen, die ganze Menschheit umfassenden Ideale nicht Fähigkeit und Geschick, auch nur die kleinste Dorfschule zu regieren."

So drehte sich denn der permanente Streit um die Frage, wer in Pestalozzis Institut die Führung inne haben und später Pestalozzis Nachfolge antreten solle, und über diese Frage gerieten insbesondere zwei seiner Mitarbeiter in einen unversöhnlichen Streit: Joseph Schmid (1785-1851) und Johannes Niederer (1779-1843).

Schmid - aus dem österreichischen Vorarlberg stammend - war bäuerlicher Herkunft und zeigte in Burgdorf als Pestalozzis Zögling schon früh eine große mathematische Begabung, weshalb er bald zum Mathematiklehrer aufrückte. Sein überragender Erfolg auf dem Gebiet des Mathematikunterrichts trug dem Institut für lange Zeit den Ruf ein, es würden dort Mathematiker ausgebildet, und Pestalozzi musste immer wieder betonen, dass nicht die Bildung des Kopfs, sondern die sittliche Bildung im Zentrum seiner Pädagogik stünde. Schmid war ein ausgesprochener Alleingänger, hatte einen eisernen Willen und neigte zur Herrschsucht. Sein oft ungehobeltes Wesen und seine Rücksichtslosigkeit machten ihn bei den andern Lehrern wenig beliebt. Seine Vorzüge waren dagegen ein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und ein klarer Blick für das Realisierbare. Er warnte stets vor allem Hochmut und forderte von allen Lehrern, pünktlich und gewissenhaft ihre Aufgaben zu erfüllen.

Niederer - nicht weniger herrschsüchtig - hatte eine Hochschulausbildung als Theologe durchlaufen und trat, nachdem er bereits als junger Pfarrer gewirkt hatte, in Burgdorf in Pestalozzis Dienste. Er nahm aktiven Anteil an der zeitgenössischen Philosophie und hatte den Ehrgeiz, Pestalozzis Erziehungslehre mit der idealistischen Philosophie seiner Zeit in Einklang zu bringen. Er schwang sich in Yverdon sehr bald zum Sprecher, zum Instituts-Philosophen und "Propagandachef" des Hauses auf. Als solcher eröffnete er eine institutseigene Druckerei und führte mit Pestalozzis Gegnern einen verbissenen literarischen Kampf, während er für das Unterrichten kaum mehr Zeit fand. Niederer griff auch stark in verschiedene Werke Pestalozzis ein und fühlte sich als der allen anderen geistig weit überlegene Mitarbeiter und Mitstreiter Pestalozzis.

1810 kam es zwischen den beiden zu einer ersten großen Auseinandersetzung in der Lehrerversammlung, worauf Schmid mit vier anderen Lehrern das Institut verließ. Aber Niederer, der sich kaum um praktische Angelegenheiten kümmerte, erwies sich als unfähig, die Anstalt ordentlich zu führen und die Finanzen in Ordnung zu halten. So näherte er sich Schmid, der unterdessen in einem Gebiet Österreichs das Schulwesen reorganisierte, von neuem an und lud ihn sogar 1814, als er die Leiterin von Pestalozzis Töchterinstitut heiratete, zu seiner Hochzeitsfeier als Trauzeuge ein. So kehrte Schmid 1815 nach Yverdon zurück und setzte sogleich eine notwendige und zweckmäßige, aber sehr einschneidende Reform durch: Der literarische Krieg wurde eingestellt, die Hausdruckerei geschlossen, eine strenge Buchhaltung eingeführt, fast die Hälfte der Lehrer entlassen und der Rest zu größerer Arbeit verpflichtet. Durch das wenig psychologische, ja rücksichtslose Durchgreifen zog sich Schmid die Feindschaft fast aller Lehrer zu, und als kurz darauf Pestalozzis Ehefrau starb, brach der Streit zwischen den Lehrern offen aus. Pestalozzi selbst geriet ob der Unversöhnlichkeit seiner Mitarbeiter fast zur Verzweiflung, er beschwor sie, sich zu versöhnen und gemeinsam der guten Sache zu dienen - alles erfolglos. 1816 traten 16 Lehrer aus dem Institut aus, und an Pfingsten 1817 erreichte das Drama seinen Höhepunkt, als Niederer, der als Pfarrer in der Schlosskirche die Festpredigt hielt, plötzlich die Predigt unterbrach, in Zorn geriet, Pestalozzi mit Vorwürfen überhäufte und sich öffentlich von ihm lossagte.

PSW 24A, S. 96

So stand er, so ging er, der liebe theure Mann! Eine schwarz wollene oder samete Mütze, krumm und staubig, eine dicke langhaarige Kaputze, ohne Form und Tasche, mit 2 langen Löchern hinten; kein Halstuch, gewöhnlich keine Westestets schlecht heruntergetretene Schuhe und herunterhangendeStrümpfe, Beinkleider ohne Hosenträger, das Taschentuch (wenns nicht verloren war) in den Busen gesteckt.

J. Ramsauer

Nach Niederers Austritt entspann sich zwischen ihm und Pestalozzi ein erbitterter Kampf um finanzielle Ansprüche. Pestalozzi hatte ihm und seiner Gattin sein Töchterinstitut geschenkt und glaubte sich daher nicht mehr zu weiteren Zahlungen verpflichtet. Niederer zog Pestalozzi deswegen vor Gericht und ließ auch nicht locker, als ihm dieser eine Quittung für all das ausstellte, worauf er ein Anrecht zu haben glaubte. Pestalozzi bat Niederer immer und immer wieder um Frieden. In einem erschütternden Brief vom 1. Februar 1823 (PSB 13, S. 16-18) fleht er das Ehepaar Niederer um Versöhnung an, doch Niederer blieb unversöhnlich und drang auf einen Gerichtsspruch. Dieser gab Pestalozzi zwar weitgehend recht, aber Niederer kämpfte weiter und ruhte nicht, bis Schmid unter fadenscheinigen Vorwürfen aus dem Kanton Waadt und später auch aus dem Kanton Aargau (auf dessen Gebiet der Neuhof liegt) behördlich ausgewiesen wurde. Schmid zog darauf nach Paris, wo er in einem eigenen Erziehungsinstitut Pestalozzis Gedankengut zu verwirklichen suchte.

Der literarische Ertrag der Yverdoner Zeit ist trotz der fast ununterbrochenen Auseinandersetzungen außerordentlich umfangreich. In dieser Ausgabe werden Textauszüge von "Ansichten und Erfahrungen" und "An die Unschuld" berücksichtigt. Von den weiteren Schriften dieser Jahre sind vor allem die 3. Fassung von "Lienhard und Gertrud" zu nennen, die Schriften "Geist und Herz in der Methode" (1805) und "Über die Idee der Elementarbildung" (Lenzburger Rede). Aus den zahlreichen in Yverdon gehaltenen Reden und Ansprachen ragt vor allem Pestalozzis Geburtstagsrede von 1818 heraus.

In "Geist und Herz in der Methode" (PSW 18, S. 1-52) wendet sich Pestalozzi zuerst dagegen, sein Institut nur aufgrund seiner Unterrichtserfolge zu beurteilen. Wichtiger sei das nicht direkt Messbare: Frohsinn, kindliche Anhänglichkeit und Vertrauen in die Lehrer, Bildung zum Gehorsam und zur Selbstüberwindung. Er betont, dass Bildung kein von außen bewirktes Einpflanzen von Kenntnissen sei, sondern auf innerer Erregung von Anlagen und Kräften beruhe. Allerdings hält er die Kräfte des Kopfs und die Kräfte des Herzens für das Menschsein nicht von gleichem Wert, denn intellektuelle Bildung an sich sei nicht geeignet, jene inneren Kräfte zu wecken, die den Menschen zum Gefühl seiner inneren Würde und zum Erkennen des in seiner inneren Natur liegenden göttlichen Wesens führt. Nach Pestalozzi entfalten sich diese nicht durch die Kraft des Intellekts im Denken, sondern durch die Kraft des Herzens im Lieben. Pestalozzi sieht den Vorzug seiner Erziehungsweise, die er anfänglich schlicht als "Methode", später als "Idee der Elementarbildung" bezeichnet, gerade darin, daß Denken und Lieben miteinander verbunden werden: "Sie lehrt das Kind in allem Denken lieben und in aller Liebe denken." (PSW 18, S. 37).

Pestalozzi arbeitete in Yverdon gleichzeitig an mehreren Schriften. Vieles wurde überarbeitet, von den Mitarbeitern abgeschrieben und überarbeitet, mit anderen Schriften vereinigt, für Teildrucke oder Gesamtdrucke vorbereitet und dann doch nicht oder nur zum Teil gedruckt. Dieses Schicksal erfuhr in ganz besonderer Weise die Schrift "Ansichten, Erfahrungen und Mittel zur Beförderung einer der Menschennatur angemessenen Erziehungsweise" (kurz: "Ansichten und Erfahrungen") von 1806. Zu Pestalozzis Lebzeiten gelangten nur Auszüge daraus zum Druck. Der verfügbare Text des Werks stützt sich auf 20 Handschriften und ist in seiner veröffentlichten Fassung auch ein Werk Emanuel Dejungs, des langjährigen Herausgebers der Kritischen Gesamtausgabe . Wie so oft, beginnt Pestalozzi den Text mit einem Lebensrückblick, womit er gleichzeitig die Entwicklung seiner pädagogischen Laufbahn aufzeigt. Er legt Entstehung und Grundgedanken seiner Methode einer naturgemäßen Erziehung erneut dar, in deren Zentrum die sittlich-religiöse Erziehung auf der Grundlage der häuslichen Erziehung steht. Entsprechend formuliert er die Ansprüche, die an einen Erziehungsversuch gestellt werden müssen und nennt Kriterien zu dessen Beurteilung. Wesentlich ist ihm der Nachweis, dass seine Methode den jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst werden kann und muss. Weiterhin befasst er sich mit der Frage, wie das Erziehungswesen eines Landes erneuert werden kann und welche Bedeutung dabei einer Versuchsschule und einzelnen Persönlichkeiten - Schulmeistern und einflussreichen Politikern - zukommt.

1809 wurde die "Gesellschaft der Schweizerischen Erziehungsfreunde" gegründet und Pestalozzi zu deren ersten Präsidenten gewählt. Anlässlich der Eröffnungsveranstaltung am 30. Aug. 1809 hielt Pestalozzi eine große Rede, die sog. Lenzburger Rede "Über die Idee der Elementarbildung" (PSW 22, S. 1-324). Sein Mitarbeiter Johannes Niederer arbeitete diese Rede um, ergänzte sie durch viele eigene Gedankengänge und gab sie so in Druck. Dabei wird Pestalozzis bildhafte und leidenschaftliche Diktion immer wieder unterbrochen durch eine recht überheblich wirkende Philosophensprache, die Niederers Bemühen verrät, Pestalozzis in der Erfahrung gründende Gedankengänge in das Gedankensystem von Schelling hineinzupressen.

Seit dem Zusammenbruch der Armenanstalt auf dem Neuhof im Jahre 1780 hatte Pestalozzi die Hoffnung niemals aufgegeben, doch eines Tages wieder als Armenvater auf seinem Landgute wirken zu können. Er widerstand daher jeder Versuchung, sich seiner wirtschaftlichen Not durch den Verkauf des Neuhofs zu entziehen. Eine geplante Neubelebung seiner Armenanstalt scheiterte 1807 an der mangelnden Unterstützung der Regierung. Zehn Jahre später schien der Traum seines Lebens endlich in Erfüllung zu gehen: Durch einen 1817 mit dem Verlag Cotta abgeschlossenen Vertrag über die Herausgabe seiner sämtlichen Schriften standen größere Einkünfte in Aussicht. Pestalozzi gedachte sie ausschließlich für pädagogische Projekte zu verwenden. Im Rahmen seiner großangelegten Rede anlässlich seines 72. Geburtstages kündigte er eine Wiedereröffnung der Armenanstalt auf dem Neuhof an und versprach, die zu erwartenden Fr. 50.000.- für die Förderung seiner Unterrichts- und Erziehungsmethode, für die Lehrerbildung, für die Errichtung von Musterschulen und für die permanente Weiterbearbeitung des "Mutter- oder Wohnstubenbuchs" zu verwenden. Die Dinge entwickelten sich dann freilich einmal mehr nicht im erhofften Sinn. Sein Mitarbeiter Schmid widersetzte sich einer Wiederbelebung des Neuhofs, statt dessen wurde in Clindy, in der Nähe von Yverdon, eine Armenanstalt eröffnet und mit einer Industrieschule und einem Lehrerseminar verbunden. Diese neue Anstalt wurde schon nach einem Jahr mit dem Stammhaus in Yverdon vereinigt und ging dann 1825 mit diesem unter. Auch das bereits verteilte Geld kam nicht in der erhofften Höhe herein, Pestalozzi erhielt erst 1821 die ersten Fr. 10.000.-. 1824 sah er sich schließlich aus familiären Rücksichten genötigt, seine Stiftung öffentlich als gescheitert zu erklären und sie zu widerrufen (PSW 27, S. 111).

Mit Pestalozzis Rede aus Anlass seines 72. Geburtstages am 12. Januar 1818 (PSW 25, S. 261-364) ist eines seiner aussagekräftigsten Werke überliefert Im Erstdruck umfasst die Rede 173 Seiten und sie darum besonders interessant, weil sie ohne Niederers Mitwirkung zustande gekommen ist. Pestalozzi erscheint in diesem Werk in seiner alten Leidenschaftlichkeit, Originalität und philosophischen Ungebundenheit. Zur Verdeutlichung sozialer, geistiger und pädagogischer Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge wählt er oft Bilder aus dem organischen Lebensbereich. Den eindrücklichsten Vergleich des Menschen und der Erziehung mit der Pflanze finden wir zu Beginn der Rede, wo Pestalozzi das Wachstum und die Entwicklung des Baumes als Sinnbild für die Entfaltung und Heranreifung des Menschen heranzieht:

"Das Bild der Erziehung, das innere, heilige Wesen einer besseren Erziehung steht im Bild eines Baums, der an den Wasserbächen gepflanzt ist, vor meinen Augen. Siehe, was ist er? Woraus entspringt er? Woher kommt er mit seinen Wurzeln, mit seinem Stamm, mit seinen Ästen, mit seinen Zweigen, mit seinen Früchten? Siehe, du legst einen kleinen Kern in die Erde. In ihm ist des Baumes Geist. In ihm ist des Baumes Wesen. Er ist des Baumes Samen." (PSW 25, S. 265).

So wie sich der Geist des Baumes physisch konzentriert im Samen und physisch verwandelt durch die gesetzmäßige Ausfaltung über Wurzel, Stängel, Blatt, Blüte und Frucht, ohne sein innerstes Wesen zu verändern oder einzubüßen, ebenso sieht er den inneren Geist des Menschen, vorerst physisch beschränkt in einer tierisch-sinnlichen Hülle, sich allmählich höher entwickeln zur vollmenschlichen Existenz, d.h. zu einem von Glauben und Liebe getragenen Leben. So wie zwar sumpfiger, überdüngter oder ausgetrockneter Boden die volle Entfaltung des Baumes beeinträchtigen und guter Boden das Wachstum fördern, aber nicht den Baum in seinem Wesen schaffen kann, ebenso erzeugen auch die Umgebungen, die der Mensch mit seiner angeborenen "Einsaugungskraft" aufnimmt, diesen nicht, sondern fördern oder hemmen lediglich seine Selbstentfaltung. Freilich erkennt Pestalozzi auch die Grenzen dieses Bilds. Der menschliche Organismus ist zwar tierisch, aber doch kein Tier, "er ist der Organismus einer sinnlichen Hülle, in der ein göttliches Wesen ruht und lebt." (PSW 25, S. 268). Im Gegensatz zum Baum, der Wind und Wetter und auch dem guten oder schlechten Boden ausgesetzt und ausgeliefert ist, ist der Mensch frei. Er kann sich entscheiden, ob und wie weit er die Einflüsse, denen er ausgesetzt ist, in sich aufnehmen will. Schon einige Jahre zuvor war das Bild des wachsenden Baumes für Pestalozzi das Symbol, um den gegenseitigen Einfluss der Erziehung und der Anlagen anschaulich zu beschreiben. Es ist eines seiner wenigen, vielleicht sein einziges literarisch beachtliche Gedicht entstanden:

Jung geschützt,
jung gestützt,
wachst er grad
vom Boden auf
dem Himel an.
Jung gedrückt,
jung gebükt,
wachst er krum
vom Himel ab
zum Boden hin.

Jung gezogen,
alt verbogen,
ist so wahr
als jung gebogen,
wohl gezogen.
Jung verzogen,
alt verkrüppelt,
ist mehr wahr
als jung gebogen,
wohl gezogen.

Jung geschützt,
jung gestützt,
wachst er grad
vom Boden auf
zum Himel an.

Jung gedrükt,
jung gebükt,
wachst er krum
vom Himel ab
zum Boden hin.

Im weiteren Verlauf seiner Rede berührt Pestalozzi eine seiner Lieblingsideen, nämlich die Verbesserung der Erziehung in den einzelnen Familien mit Hilfe eines Buchs, das den Eltern - insbesondere den Müttern - Anleitung für die Bildung und Erziehung ihrer Kinder gibt. Ihm schwebte immer vor, der elementare Unterricht könnte, wenn einmal genügend Menschen die richtige Unterrichts- und Erziehungsmethode kennengelernt hätten, wieder in die Wohnstube und damit in die Hand der Mütter gelegt werden. Bereits 1803 war das "Buch der Mütter oder Anleitung für Mütter ihre Kinder bemerken und reden zu lehren" (PSW 15, S. 341-424), weitgehend bearbeitet von seinem Mitarbeiter Hermann Krüsi, erschienen. Getreu seines Grundsatzes, dass die Anschauung das absolute Fundament der Erkenntnis sei und dass darum alle Erkenntnisse vom Bezugspunkt der Anschauung, vom erkennenden Menschen selbst, ausgehen müssen, ließ er in diesem Buch die Mütter mit ihren Kindern Übungen im Anschauen und Benennen des eigenen Körpers und der durch den Körper möglichen Tätigkeiten vornehmen. Er hielt aber schon damals sein Werk nur für einen ersten Versuch, der eines weiteren Ausbaus bedurfte. Wie die vorliegende Rede zeigt, träumte Pestalozzi auch 1818 noch einem Volksbuch nach, das allen Vätern und Müttern Anleitung für die richtige Erziehung ihrer Kinder geben würde, ja er hielt dies für so wichtig, dass er sogar einen Teil seiner Stiftung für die immerwährende Bearbeitung dieses Projekts aussetzte. Als Vorarbeit für ein solches Werk können die 1818/19 geschriebenen Link34 "Briefe an Greaves über die Entwicklung des kindlichen Geisteslebens" angesehen werden, die nicht im Original, sondern nur in einer englischen Übersetzung erhalten geblieben sind.