Lieber Herr Escher. Zeitgeschichtliche und autobiographische Zuschrift. Kritische Ausgabe mit Faksimile der Handschrift.

Johann Heinrich Pestalozzi

Bearb. v. Stefan Graber, Basil Rogger u. Kurt Werder. Zürich: Verl. Neue Zürcher Zeitung 1996. 20 S.

Für diesen Separatdruck einer im Verhältnis zum gesamten Brief und Werkumfang sehr kleinen Schrift, keinem in sich geschlossenen Werk, aber auch keinem eindeutigen Brief und von den Bearbeitern deshalb als eine "zeitgeschichtliche und autobiographische Zuschrift" bezeichnet und in den Nachtragsband der Werkreihe (PSW 29, S. 101-106 mit den Faksimile S. IIV) aufgenommen, sprechen zwei Gründe: ein inhaltlicher und ein eher formaleditorischer. Die kleine Schrift stammt wahrscheinlich aus den Jahren 1804/05 und ist an Hans Konrad Escher von der Linth (1767-1823) gerichtet, der sich im Stäfner Handel, ähnlich wie Pestalozzi zugunsten der Landbevölkerung eingesetzt hatte und nach 1807 die geschäftliche und technische Leitung der LinthKorrektur, also der Verbindung zwischen Walensee und Zürichsee, übernahm und wurde wohl nicht als Brief versandt, sondern ist eher als eine Art "Sendschreiben" abgefaßt worden.

Der inhaltliche Reiz der kleinen Schrift ergibt sich aus der Bedeutung des Textes, in dem Pestalozzi vom Kampf seines Lebens für Wahrheit und Gerechtigkeit schreibt und seinen Lebenseinsatz als Erwachsener an Kindheits und Jugenderfahrungen bindet. Die in dieser Schrift berichteten Kindheits und Jugenderinnerungen, die Bestechlichkeit des Lehrers Weber, der trunksüchtige prügelnde Musiklehrer Kaufmann, die einzige Erinnerung des sechsjährigen an den früh verstorbenen Vater, die dümmliche Furchtlosigkeit 1755 während des großen Erdbebens von Lissabon, das gefährliche Hüpfen auf einer hohen Mauer oder der sorglose Umgang mit Pferden werden nur in diesem kurzen Text geschildert. Die autobiographische Bedeutung des Textes wird dadurch unterstrichen, daß er nicht in einem einmaligen Vorgang flüssig und schnell heruntergeschrieben ist, denn die faksimilierte Wiedergabe des Manuskripts zeigt die konzentrierte Arbeit Pestalozzis an diesem kurzen Text, an dem er fast bis zur Unlesbarkeit gefeilt und korrigiert hat.

Der editorische Reiz dieser faksimilierten Textausgabe liegt in dem visualisierten Exempel des Umgangs mit Texten in Rahmen einer modernen wissenschaftlichen Textedition. Die Ausgabe gewährt sowohl einen Blick in die Werkstatt des Autors als auch in die des Editors. Dem edierten Text liegt die jeweils letzte Textschicht zugrunde, aber alle Textvarianten des von Pestalozzi stark redigierten Textes sind am Fuß des edierten Textes verzeichnet und können so leicht rekonstruiert werden. Anders bei der Aufnahme des Textes in den Bd. 29 der Kritischen Gesamtausgabe: dort wird nicht mit Fußnoten gearbeitet und die Textvarianten sind in den Anhang I "Überlieferung, Entstehungsgeschichte, Textkonstituierung, Textkritik" (S. 259-262) aufgenommen, womit aber im edierten Text selbst nicht auf solche Fragen verwiesen wird. In der CDROMAusgabe der Werke Pestalozzis, in der aber die Texte des Nachtragsbandes PSW 29 noch nicht enthalten sind, sind solche Verweise auf Angaben der Anhänge durch "Diamanten" im edierten Text sichtbar und durch Anklicken aufzurufen. Die Anhänge des Textes "Entstehung" und "Erläuterungen" sind zwar ebenfalls mit den Texten in der Kritischen Gesamtausgabe identisch, aber im Anhang "Entstehung" werden Erläuterungen als Fußnoten dargestellt, die im Text der Kritischen Ausgabe wegen der Anpassung an die seit 1927 erschienenen Bände in Klammern in den Text eingefügt sind. Auf Erläuterungen der Editoren wird jeweils im Text mit einem hochgestellten E verwiesen, was ebenfalls als wichtiger Bezugsvermerk im Text von PSW 29 fehlt.

Im ganzen ist der Text "Lieber Herr Escher" weder in PSW noch in dieser Textausgabe leicht zu lesen: man muß sich zuvor erst die Bedeutung der unterschiedlichen Schriften und Zeichen einprägen, um sich ein zutreffendes Bild des Originaltextes machen zu können. Trotzdem bleiben die Zeichen in ihrer Bedeutung recht abstrakt (/ = Zeilenfall in der Handschrift oder ^^ = Streichung senkrecht oder schräg in der Handschrift), wenn nicht die Handschrift faksimiliert beigegeben ist. Die Autoren beklagen deshalb zurecht, daß in der Kritischen Gesamtausgabe im ganzen zu wenig Handschriften faksimiliert abgebildet sind, und damit oft Vertrauen in den Editor an die Stelle eines möglichen Textnachvollzugs treten muß. Das Format der Faksimiles ist in diesem Einzeldruck etwa doppelt so groß wie in PSW 29, ein weiterer Vorteil; die Originalbögen sind noch größer, 215 mal 345 mm.

Mit der Textausgabe "Lieber Herr Escher" liegt die Edition eines kleinen Textes vor, der in seiner autobiographischen Bedeutung wichtig ist und an dem sich gut das Problem der Edition von Pestalozzis handschriftlichen Texten exemplarisch darstellen läßt. Da die auch druckgraphisch im Format DIN A4 sehr schön gestaltete Textausgabe weitgehend identisch ist mit dem Text in der Kritischen Gesamtausgabe (PSW 29) ist diese auf nur 250 Exemplare limitierte Ausgabe zum Gedenkjahr 1996 eine mustergültige Ergänzung zur Kritischen Werkausgabe, die an einem kleinen Einzeltext die editorischen Probleme einer modernen Kritischen Werkausgabe exemplarisch verdeutlicht. Die vorliegende Textausgabe der kleinen Schrift "Lieber Herr Escher" hätte als Exempel einer historischkritischen Werkausgabe eine preiswertere und deutlich höhere Auflage mit einer weiten Verbreitung unter historisch interessierten Pädagogen und literarischhistorisch interessierten Lesern durchaus verdient.