Die Freßordnung im Hühnerstalle

Nr. 192 (PSW 11, S.230-231)

Eine Hühnermagd fütterte alles Gefieder aus einem Troge. Die Starken hatten es gut; aber die Schwachen, Kranken und Jungen kamen täglich zu kurz und wurden gedrückt und zertreten.

Das ging einem alten Hahn, der schon einmal auf dem Todbette gelegen hatte, ans Herz. Da nach dem Mittagsmahle wieder eine junge Ente vor dem Troge tot lag, redete er die Häupter und die ganze Gemeinde im Hühnerstalle also an:

"Edle, gefiederte, zweibeinige Tiere!

Wir sind doch alle von einem schuldlosen Geschlechte und handeln auf keine Weise wie die großen Bösewichter, die Katzen und die abscheulichen Marder, welche alles Geflügel essen und selbst der heiligen Eier nicht schonen, noch das geweihte Blut scheuen. Darum – ich weiß es – der Jammer geht euch allen zu Herzen, den die Frau Reichsvögtin unseres Gemeinwesens über unsre Armen und Schwachen verhängt. Ich weiß es, ihr wollt alle lieber mit Gerechtigkeit fressen, als diesem Jammer länger zusehen."

Aber die Hühner und Gänse verstanden gar nicht, was das sei, mit Gerechtigkeit fressen.

Der alte Hahn machte es ihnen begreiflich und sagte: "Es lasse ein jeder von uns sich seinen Schnabel messen, und je nachdem dieser groß ist, bestimme man ihm sein Freßrecht. Dann wechsle täglich ein Hahn und eine Gans in der Freßstunde als Hüter. Der Hahn hüte den Gänsen und Enten, und die Gans hüte den Hähnen und Hühnern. Wer dann im Fressen nicht bei seinem Schnabelrecht bleibt, den strafen sie mit rechtlichem Picken am Kopfe und Rupfen am Halse."

Wer bisher in der Freßstunde zu kurz kam, der stimmte von Herzen zu der Meinung des Hahns. Anders war's mit den Häuptern und Vorstehern der Hühnergemeinde. Diese fanden die Sache in ihrer Weisheit bedenklich. Doch endlich auf Fürsprache des alten, geliebten Mithahns willigten auch sie darein, mit einem solchen Gerechtigkeitsfressen auf ein Jahr hin und auf Zusehen eine Probe zu machen.

Also war die Meinung des alten Hahns insoweit im Hühnerstalle zum Gesetze gemacht.

Aber die Hähne und Gänse übten das Gesetz aus wie Hähne und Gänse. Sie taten sämtlich ein Auge zu, wenn die Stärkern fraßen, und es blieb den Schwachen und Kleinen täglich weniger übrig, wenn die Ordnung des Fressens an sie kam, und dieses wenige ward ihnen noch durch dieses neue Gerechtigkeitspicken und Gerechtigkeitsrupfen unerträglich verbittert. Auch starben bei diesem Gerechtigkeitselend weit mehr Hühner und Gänse, als bei dem Freiheitselend der Vorzeit.

Zum Glücke dauerte das neue Unglück im Hühnerstalle nur bis zur Lichtmesse, wo dann eine neue Hühnermagd eintrat und alsobald die einzige Gerechtigkeit, die im Hühnerstalle möglich war, einführte, indem sie die stärkeren Tiere einsperrte, wenn sie den Schwächern ihr Fressen vorstellte.