Fuchs und Esel beurteilen den Löwen

Nr. 210 (PSW 11, S.278-279)

Da einst ein Löwe, so gut er konnte, gerecht war, das heißt, da er die Tiere seines Waldes gar nie zu seiner Lust zu Tode jagte, sondern nur zu seiner Erhaltung auffraß, erhub ein Esel gegen den Elefanten ein großes Geschrei und sagte: "Du großer Baumnascher, komm und siehe, ob es wahr sei, was du immer behauptest, daß die Löwen zu regieren nichts taugen!"

Der Elefant ließ ihn reden und pflückte Kokosnüsse von seinem Baume. Aber ein Fuchs, der eben jetzt nicht im Löwendienst war, antwortete ihm: "Wenn du nicht ein Esel wärst, so würdest du begreifen, daß Tiere, die nicht leben können, ohne andere zu fressen, ewig nie gegen eben diese Tiere gerecht sein können."

"Das denk ich: Du! Aber er ist doch gerecht, unser Herr", erwiderte der Esel.

Und der Fuchs: "Ja, er hat eben gestern, ich denke aus Vollmaß seiner Gerechtigkeit, ein Pferd zerrissen, weil es gesagt hat, er regiere um seiner selbst und nicht um des andern Viehs willen."

Der Esel war unterrichtet und antwortete: "Der Fall, wie du ihn erzählst, ist entstellt. Der Löwe hat das Tier nicht um der Gerechtigkeit willen zerrissen, er hat es um der öffentlichen Meinung willen tun müssen."


Der Fuchs, wenn er schon ein mitfressender Tierschalk war, hatte doch recht. Die Tiere haben keinen Frieden und keine Gerechtigkeit, weil sie Tiere sind und als Tiere nur tierisch fühlen, denken und handeln. Und umgekehrt haben die Menschen nur insoweit Frieden unter sich und Gerechtigkeit untereinander, als sie wahrhaft menschlich denken, fühlen und handeln. Daß aber der Fuchs diese Wahrheit ausspricht, ist leicht dadurch zu erklären, daß er nicht mehr im Löwendienst war; denn man weiß ja, Tiere außer dem Dienst reden ganz anders als Tiere im Dienst. Weit unerklärlicher erscheint mir die Antwort des unterrichteten Esels; man sollte fast denken, er wäre an des Fuchses Statt im Löwendienst angestellt gewesen. Wie wären sonst ein armer Distelfresser und der Unterricht zusammengekommen?