Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801)

Rechtschreibung und Interpunktion entsprechen nicht der Kritischen Ausgabe von Pestalozzis Schriften, sondern der regularisierten Fassung auf der CD-ROM.

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XI. Brief

Lieber Freund! das Wort, mit dem ich meinen letzten Brief schloß ist groß und ich sage heute noch mehr - die Kunstführung zum Ziel des Unterrichts, die ich bisher berechnet, ist dennoch nur Verfeinerung des sinnlichen Naturganges zu meinem Zweck, es ist aber noch ein höheres Mittel zu demselben, es ist eine hohe Vollendung dieses verfeinerten sinnlichen Naturganges, es ist ein reiner Verstandesgang, es ist eine reine Verstandesbildung zu demselben möglich; es ist meiner Natur möglich, alles Schwankende in der menschlichen Anschauung zur bestimmtesten Wahrheit zu erheben; es ist ihr möglich, die Anschauung selber dem Schwanken ihrer bloßen Sinnlichkeit zu entreißen, und sie zum Werk der höchsten Kraft meines Wesens, zum Werk des Verstandes zu machen; es ist der veredelten Kunst an der Hand der Natur möglich, der lebendigen Anschauungskraft der Wilden nicht bloß den Mechanismus meiner Sinnlichkeit, es ist ihr möglich, dieser lebendigen Anschauungskraft noch die Kraft meiner Vernunft beizufügen; es ist ihr möglich, die Wiederherstellung dieser lebendigen Anschauungskraft noch mit der erhabensten Lehre meines Geschlechts, mit der Lehre der ganz untrüglichen Wahrheit zu vereinigen.


Lieber Freund! Wenn mein Leben einen Wert hat, so ist es dieser, daß ich das gleichseitige Viereck zum Fundament einer Anschauungslehre erhoben, die das Volk nie hatte. Ich habe dadurch dem Fundament unserer Erkenntnis eine Reihenfolge von Kunstmitteln bereitet, die bisher nur die ihm untergeordneten Mittel des Unterrichts, Sprache und Zahl, hatten, die es aber selbst nicht hatte; und dadurch Anschauung und Urteil, sinnlichen Mechanismus und reinen Verstandesgang unter sich selbst in Harmonie gebracht, und indem ich durch diese Methode das buntscheckige Gewirr von tausenderlei einzelnen Wahrheiten auf die Seite gelegt, den Unterricht zur Wahrheit zurückgelenkt.


Freund! ich wußte vor etlichen und zwanzig Jahren eigentlich noch nicht, wo es hinlangte, da ich folgende Stelle in der Vorrede zu Lienhard und Gertrud hinwarf:» Ich nehme keinen Teil an allem Streit der Menschen über ihre Meinungen; aber das was sie fromm, brav, treu und bieder machen, was Liebe Gottes und Liebe des nächsten in ihr Herz, und Glück und Segen in ihr Haus bringen kann, das meine ich, sei außer allem Streit, und uns allen und für uns alle, in unsere Herzen gelegt.«

Jetzt macht meine Methode diese Stelle auf eine Weise zur Wahrheit, an die ich damals nicht denken konnte, es ist von ihr jetzt unstreitig: ich nehme in derselben keinen Teil an allem Streit der Menschen; ich lehre durch sie weder eine Wahrheit, noch einen Irrtum; sie dehnt ihren Kreis keinen Schritt über das aus was unwidersprechlich ist, sie berührt auf keine Weise irgendeine Meinung die unter den Menschen im Streit ist; sie ist nicht die Lehre von Wahrheiten, sie ist die Lehre der Wahrheit und vereiniget die Folgen der physischen Notwendigkeit, die der Mechanismus meiner Kunst erzielt, noch mit der vollendeten Gewißheit meines Urteils.

Freund, es ist keine Anmaßung in meiner Seele, ich wollte durch mein Leben nichts, und will heute nichts anderes, als das Heil des Volkes, das ich liebe und elend fühle, wie es wenige elend fühlen, indem ich seine Leiden mit ihm trug, wie sie wenige mit ihm getragen haben. Wenn ich unterdessen sage, es gibt einen Mechanismus, dessen Resultate physische Notwendigkeit sind; so sage ich um deswillen nicht, ich habe die Gesetze desselben in ihrem ganzen Umfang entwickelt; und wenn ich sage, es gibt im Unterricht einen reinen Verstandesgang; so sage ich um deswillen nicht, ich habe die Gesetze dieses Ganges in ihrer hohen Vollendung dargelegt. Ich habe in der ganzen Darstellung meines Tuns weit mehr die Sicherheit meiner Grundsätze klarzumachen gesucht, als das höchst gehemmte Tun meiner schwindenden Individualität zum Maßstab dessen aufstellen wollen, was durch die vollendete Entwicklung dieser Grundsätze für das Menschengeschlecht herauskommen kann und herauskommen muß. Ich weiß das selbst nicht, und fühle alle Tage mehr, wie sehr ich es nicht weiß.

Was in meiner ganzen Darstellung Theorie und Urteil ist, das ist unbedingt nichts anderes, als die Folge einer beschränkten und höchst mühseligen Empirie, und, ich muß es hinzusetzen, eines seltenen Glückes. Ich soll und will es nicht verhehlen, wenn es dem, von den brauchbaren oder auch nur gebrauchten Menschen, so allgemein bis in sein graues Alter, in alle Wege für unbrauchbar erklärten, schon längst zum armen Müdling versunkenen Manne nicht endlich noch gelungen wäre, Schulmeister werden zu können, und wenn Buß, Krüsi und Tobler seiner namenlosen Unbehilflichkeit in aller Kunst und in allen Fertigkeiten nicht mit einer Kraft zu Hilfe gekommen wären, die ich nie hätte hoffen dürfen; so wäre meine Theorie über diesen Gegenstand, wie die Glut eines brennenden Gebirges, die nicht zum Ausbruch zu gelangen vermag, in meinen eigenen Eingeweiden wieder erloschen, und ich wäre wie ein träumender Tor, über den kein milderndes Urteil statthat, von den Guten nur mißkannt, und von den Bösen nur verachtet, ins Grab gesunken, und mein einziges Verdienst, mein Wille, mein aufenthaltsamer nie gehemmter Wille für das Heil des Volks, die Anstrengungen meiner Tage, die Aufopferungen meines Lebens, und der Mord meiner selbst, wäre heute dem Gespött von Buben preisgegeben, ohne daß ich einen Freund hätte, der es wagen dürfte, meinem verhöhnten Schatten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; ich hätte mir selbst nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen; ich hätte es nicht können, ich wäre wütend über mich selbst, und verzweifelnd über das Elend, beides des Volkes und der meinigen, in die Grube gesunken, Freund! und ich hätte in diesem Versinken einzig mir selbst noch die traurige Kraft erhalten, mich wegen meines Schicksals anklagen zu können - und ich hätte es getan, ich hätte nicht anders können, ich hätte die Schuld meines Verderbens nur mir allein beigemessen; das grause Bild meines Lebens wäre dann als ein ganzer einziger Schatten ohne einen mildernden Lichtstrahl vor meinen Augen gestanden.

Freund! denke dir mein Herz, meine Verzweiflung, und das Bild dieses Schattens, und des Gedankens in meiner Zernichtung, ich hätte das Ziel meines Lebens selber zernichtet, und es ist wahr, ich hätte es wirklich durch meine Schuld zernichtet, ich hatte es wirklich in mir selbst verloren. Es ist Gott der es mir wiedergegeben, nachdem ich es wirklich verloren hatte. Ich verfehlte es sieben und siebenmal, selbst wenn es schien, daß mir die Mittel dazu wie einem Kind in die Hand gelegt wurden; ach ich benahm mich solange wie niemand, und es ging mir solange wie es niemand gegangen ist. Nicht bloß standen meinem Ziele, seit meinen Kinderjahren, der gänzliche Mangel an ausgebildeten praktischen Fertigkeiten, und ein rasendes Mißverhältnis zwischen dem Umfang meines Willens und den Schranken meiner Kräfte entgegen; ich wurde noch dazu mit jedem Jahr zu allem, was zur äußeren Erreichung meines Ziels wesentlich notwendig schien, immer unfähiger.

Aber, ist es meine Schuld, daß der Lauf eines immer und immer nur zertretenen Lebens, mich schon seit langem in keinem Stück mehr den Weg eines unzerrissenen Herzens gehen ließ? Ist es meine Schuld, daß die Aufmerksamkeiten der Glücklichen oder auch nur die, der nicht Elenden, schon seit langem in meiner Seele ausgelöscht sind, wie die Spur, einer in die Tiefe versunkenen Insel? Ist es meine Schuld, daß die Menschen um mich her, ach, schon so lange, um mich und an mir nichts sahen, als einen blutenden, zertretenen, auf die Straße hingeworfenen, sich selbst nicht mehr fühlenden Schädel - in welchem das Ziel des Lebens, wie eine Ähre zwischen Dornen, Disteln und wäßrigem Schilfrohr, nur langsam, und immer und immer mit Gefahren des Todes und der Erstickung emporkeimte? Ist es meine Schuld, daß das Ziel meines Lebens jetzt in mir dasteht wie ein kahler Fels in den Fluten, von dem der ewige Anlauf des spülenden Wassers, auch die letzte Spur der schönen Erde, die ihn ehemals bedeckte, weggeschwemmt hat?

Ja Freund, es ist meine Schuld, ich fühle sie tief, und beuge mich in den Staub, freilich nicht vor dem Urteil böser, mich wie ein aufgeregtes Wespennest umsummender Menschen, aber vor dem Bild meiner selbst, und der inneren Würde, zu der ich mich hätte erheben können, wenn ich mich mitten durch die ewige Nacht meines verlorenen Lebens, über mein Schicksal und über das Entsetzen von Tagen hätte emporheben können, in denen freilich alles was die Menschennatur erheitert und erhebt, um mich her verschwunden, und alles, alles, was sie verwirrt und entwürdigt, unaufhaltsam und ununterbrochen an mich andrängte, und mit seiner ganzen Gewalt auf die Schwäche meines Herzens stürzte, das in meinem Kopf kein Gegengewicht jener Eindrücke fand, die es zerrissen. Dennoch ist es meine Schuld, Freund! mein ganzes Unglück ist meine Schuld. Ich hätte es können, ich hätte es sollen, und ich möchte sagen, ich habe es wollen, ich habe mich über mein Schicksal erheben wollen - wenn ich das wollen heißen darf, was ich nicht ausführte; soviel ist indessen auch wahr, ich bin alt geworden, und das Elend meiner Tage hat mich dem Grab nahegebracht, ehe die gänzliche Zerrüttung meiner Nerven endlich mein Gleichgewicht vollends zertrümmert, und die letzte Empörung meiner selbst endlich mich selbst mit dem Menschengeschlecht wegwerfen machte.

Freund! ein Weib, größer als kein Mann, ein Weib, das durch ein Leben dessen Unglück mein Elend aufwiegt, sich nur veredelte, und nie entwürdigte, sah das Nahen der Wegwerfung meiner selbst seit langem, und antwortete mir auf das Wort meiner Verwirrung: Es ist nichts daran gelegen! » O Pestalozzi, wenn der Mensch einmal dahin kommt, dieses Wort der Verzweiflung auszusprechen, so helfe ihm dann Gott, er kann sich selbst nicht mehr helfen.«


Ich sah den Blick der Wehmut und der Sorge in ihren Augen, als sie das Wort der Warnung aussprach, und Freund! wenn ich keine andere Schuld am endlichen Verschwinden meines besseren selbst an mir hätte, als die, daß ich dieses Wort hören und wieder vergessen konnte, meine Schuld wäre größer als die Schuld aller Menschen, die diese Tugend nie gesehen, und dieses Wort nie gehört haben.

Freund, laß mich jetzt einen Augenblick mein Tun und mein Ziel vergessen, mich ganz dem Gefühl der Wehmut überlassen, die mich anwandelt, daß ich noch lebe, und nicht mehr ich selbst bin. Ich habe alles verloren, ich habe mich selbst verloren; dennoch hast du o Herr! die Wünsche meines Lebens in mir erhalten, und das Ziel meiner Schmerzen nicht vor meinen Augen zertrümmert, wie du das Ziel von tausend Menschen, die sich ihre eigenen Wege verdarben, vor ihren und meinen Augen zertrümmert hast. Du hast das Werk meines Lebens mir mitten in meiner Zerstörung erhalten, und mir in meinem hoffnungslos dahinschwindenden Alter noch eine Abendröte aufgehen lassen, deren lieblicher Anblick die Leiden meines Lebens aufwiegt. Herr! ich bin nicht wert der Barmherzigkeit und der Treue, die Du mir erwiesen. Du, Du allein hast dich des zertretenen Wurms noch erbarmt; Du allein hast das zerknickte Rohr nicht zerbrochen; Du allein hast den glimmenden Docht nicht ausgelöscht und Dein Angesicht nicht bis an meinen Tod von dem Opfer weggewandt, das ich von Kindesbeinen an den Verlassenen im Lande habe bringen wollen, und nie habe bringen können!