„Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsinstitute in Burgdorf und Iferten“, Leipzig, bei Gerhard Fleischer, 1826, (PSW 27, S. 215 – 344). Im zweiten Teil des „Schwanengesangs“ blickt Pestalozzi zurück auf sein Leben. Seine letzten rund 15 Jahre waren bekanntlich verdüstert durch den sog. Lehrerstreit in Yverdon. Cotta, der Verleger von Pestalozzis sämtlichen Werken, weigerte sich, jenen Teil der Selbstbiographie zu edieren, die diesen Lehrerstreit aus der Sicht Pestalozzis darstellten. Das veranlasste Pestalozzi, die betreffenden Kapitel separat in einem andern Verlag herauszubringen. Damit heizte er den Streit mit seinem früheren Mitarbeiter Johannes Niederer und dessen Anhängern erneut an, was Eduard Biber, einen jungen Mitarbeiter Niederers, veranlasste, sein Pamphlet „Beitrag zur Biographie Heinrich Pestalozzis“ zu veröffentlichen. Pestalozzi wollte auch dies widerlegen, starb aber bereits nach drei Wochen, nachdem er Bibers Buch zur Kenntnis genommen hatte.

Pestalozzis Schwanengesang

Stuttgart und Tübingen, in der Cotta’schen Buchhandlung, 1826. PSW 28, S. 53-286

Redaktion und Kommentar: Arthur Brühlmeier
Rechtschreibung und Interpunktion entsprechen nicht der Kritischen Ausgabe von Pestalozzis Schriften, sondern der regularisierten Fassung auf der CD-ROM.

Einleitung

Pestalozzis letzte große Schrift erschien wenige Monate vor seinem Tod. Darin legte er im ersten Teil die Idee der Elementarbildung in aller Breite und inneren Geschlossenheit nochmals dar, gab im zweiten Teil einen Überblick über sein eigenes bewegtes Leben und legte dann in einem kürzeren dritten Teil dar, weshalb er seine Zwecke zu wenig erreichte, seine große Idee der Elementarbildung aber trotzdem als relevant betrachte.

In seiner Selbstbiographie macht Pestalozzi deutlich, daß er die Errichtung seiner Institute in Burgdorf und Yverdon nicht als den Kern seines Lebens betrachtet, sondern daß er vielmehr die Ausarbeitung seiner Erziehungsmethode – ab etwa 1806 bezeichnet er sie meist als „Idee der Elementarbildung“ – als seine gültige Lebenstat anerkennt. Am Schluß seines Buches schreibt er: „Ich darf in dieser Stunde mit dem ruhigsten Ernst aussprechen: Ich bin für einige sehr bedeutende und wesentliche Teile der hohen Idee der Elementarbildung vielleicht reifer geworden, als es wenige sind und als ich es ohne die Widerwärtigkeiten und Unglücke meines Lebens selber nie geworden wäre. Ich sehe diese, wenn auch wenigen und nur einzelnen Resultate meines Tuns als gereifte Früchte am Baum meines Lebens noch fest stehen und lasse sie mir ohne Widerstand von keinem gut oder bös gemeinten Wind so leicht von mir wegblasen. Ich sage noch einmal: Diese zwar wenigen und einzelnen Früchte meiner Lebensbestrebungen sind nach meinem innersten Gefühl auch in ihrer Beschränkung ihrer Reifung in einem Grad nahe, daß es meine heiligste Pflicht ist, für ihre Erhaltung zu leben, zu kämpfen und zu sterben.“

Pestalozzi geht aus von der Frage, was das eigentlich Menschliche ausmache, und er sieht es grundsätzlich in dem, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Da nun diese 'höhere' Natur das eigentlich Menschliche darstellt, so ist eben jene Bildung naturgemäß, welche dem heranwachsenden Menschen hilft, seine Menschlichkeit zu entwickeln. Dies kann nur geschehen durch eine harmonische Entfaltung aller menschlichen Grundkräfte: Kopf, Herz und Hand (Kunst) bzw. sittliche, geistige und physische Kräfte. Alle diese Kräfte wollen sich infolge eines in ihnen liegenden natürlichen Entfaltungstriebs entwickeln. Das einzige Mittel, um sie entwickeln zu können, liegt in ihrem Gebrauch.

Pestalozzi wendet sich nun in drei größeren Kapiteln der Frage zu, wie sich die jeweili­gen Fundamente der drei Grundkräfte entfalten. Dann wirft er einen Blick auf die Bedeu­tung des Gleichgewichts der drei Grundkräfte und geht dann auf die Frage nach den Unterrichtsmitteln ein. Dabei ist die Unterscheidung in Mittel zur Entfaltung und Mittel zur Anwendung der Kräfte grundlegend und ebenso die Forderung, daß die Mittel zur Anwen­dung der Kräfte sich jenen zu deren Entfaltung unterzuordnen haben. Diese Unter­ordnung geschieht hauptsächlich dadurch, daß das Kind alles, was es zur Entfaltung ir­gendwelcher Anwendungsfertigkeiten zu tun hat, zur Vollendung bringen muß, denn in der Vollendung des Speziellen entfaltet sich das Allgemeine. Diese Vollendung ihrerseits ist aber nur mög­lich durch eine Vereinfachung der Bildungsmittel, das heißt: durch eine Zu­rückführung al­les Komplexen auf einfache, elementare Sachverhalte, welche in der An­schauung bewältigt werden können.

In einem Einschub stellt sich Pestalozzi weiter der Frage, ob und inwiefern seine Erzie­hungsidee ausführbar ist. Dabei kommt er auf die Unvollkommenheit des Menschen zu sprechen und auf die Tatsache, daß es im Wesen einer Idee liegt, daß sie nie in Vollkommenheit zu verwirklichen ist, sondern daß man ihr immer nur nachstreben kann.

Nun führt er einen seiner wichtigsten Gedanken ein, nämlich: „Das Leben bildet“, und geht nun einzeln den Konsequenzen nach, welche dieser Grundsatz für die Bildung der sittlichen, der intellektuellen und der physischen Kräfte hat. Dabei betont er immer wieder die zentrale Bedeutung der nächsten Lebensverhältnisse, des häuslichen Lebens und der Wohnstube für die individuelle Bildung der Kräfte. Sehr breit läßt sich Pestalozzi aus über die Bildung der intellektuellen Kräfte. Hier geht es ihm immer wieder um die Basis der An­schauung, auf welcher das Denken und Urteilen beruhen, und um die vermittelnde Stel­lung der Sprache. In diesem Zusammenhang wendet sich Pestalozzi immer wieder gegen die verbreitete Unsitte, das Kind über Dinge reden zu lassen, die es nicht in der Anschau­ung erkannt hat. Pestalozzi nennt dieses Resultat von Schein- und Halbbildung abschätzig 'Maulbrauchen'. Anschauungs-, Sprach- und Denkkraft machen zusammen die Geisteskraft aus. Dabei muß beachtet werden, daß Pestalozzi den Begriff 'Geist' in zwei verschie­denen Bedeutungen verwendet: Einerseits versteht er darunter das Insgesamt jener Kräfte, welche dem menschlichen Erkennen dienen, also das, was er oft mit 'Kopf' bezeichnet; andererseits aber stellt er in Anlehnung an die Bibel und den Apostel Paulus dem 'Fleisch' den 'Geist' gegenüber und meint dann mit 'Geist' die 'höhere' Menschennatur.

Schwierig sind auch Pestalozzis Gedankengänge über die Entfaltung der Kunstkräfte. Der Begriff 'Kunst' ist wohl der vieldeutigste bei Pestalozzi. Wenn er die Ganzheit des Menschen ins Auge fassen will, spricht er oft von Geist (Kopf), Herz und Kunst. Das wird zumeist ohne weiteres gleichgesetzt mit der Dreiheit Geist (Kopf), Herz und Hand. Unter 'Kunst' wären folglich die handwerklichen Kräfte zu verstehen. Nun ist richtig, daß Pestalozzi oft auch von physischen Kräften spricht und folglich dann in erster Linie die körperliche Bildung und mit ihr auch die handwerkliche im Auge hat. Im allgemeinen aber faßt Pestalozzi den Begriff 'Kunst' weiter: Es geht ihm dabei um jedes Können insgesamt, also um alle in Tätigkeit versetzten Fertigkeiten. Dazu rechnet er nicht nur all das, was mit der Hand und mit dem Körper physisch geleistet werden kann, sondern zuerst einmal ganz grundlegend das Messen und Rechnen – also auch intellektuelles Können –, sodann das Zeichnen, dann aber auch die Anschauungskunst, die Sprachkunst, die Gesangskunst, die Tonkunst (Kunst des Instrumentalspiels), die Tanzkunst usf. Bei der Dreiheit von Geist, Herz und Kunst geht es folglich nicht einfach um den Verstandes-, den sittlichen und den handwerklichen bzw. körperlichen Bereich, sondern um 'Erkenntnis gewinnen', 'aus dem Glauben heraus die Liebe üben' und 'über alle hierzu nöti­gen Fertigkeiten verfügen'.

Da nun ja dieses Können ein Vermögen des Menschen darstellt, welches die vorgefun­dene Welt – die Natur – verändert und in sie eingreift, kann folglich die Kunst auch ver­standen werden als Gegenbegriff zur Natur. So gesehen, sind die Resultate der Kunst das Insgesamt aller menschlichen Einwirkungen auf die vorgefundene Natur, mit andern Wor­ten all das, was man als Zivilisation und als Kultur (einschließlich Bildungs- und Erziehungsbemühungen) bezeichnet.

Eine ganz spezielle Form menschlicher Einwirkung auf ein Stück Natur ist die Bildung und Erziehung des Menschen. Hier wirkt der eine Mensch als kunstausübendes Wesen auf einen andern Menschen als natürliches Wesen ein. 'Kunst' in diesem Zusammenhang ist folglich gleichbedeutend mit Erziehungskunst und der Gegenbegriff nicht mehr zur ganzen Natur, sondern lediglich zur Menschennatur. Wichtig ist, daß nun unterschieden wird zwi­schen dem inneren Wesen der Erziehungskunst und ihren äußeren Mitteln. Das innere Wesen ist ewig und unveränderlich, also unabhängig von historischen oder geographischen Gegebenheiten, die äußeren Mittel aber sind veränderbar. Sie sind aber nur dann naturgemäß, wenn sie einerseits mit dem Gang der Natur des Menschen, andererseits aber auch mit der individuellen Lebenslage des Kindes übereinstimmen. Der Grundgedanke der Naturgemäßheit besteht folglich darin, daß sich die Kunst – also alle Mittel der Bildung und Erziehung – der Natur des Kindes und seinen wirklichen Lebensverhältnissen unterord­nen muß, wobei freilich dann die 'höhere, geistige' Natur ausschlaggebend ist für diese Unterordnung und nicht etwa die ‘sinnliche, tierische' Natur des Kindes.

Die Forderung, daß die Bildung in den konkreten Lebenslagen des einzelnen Kindes verwurzelt sein muß, führt zu einer Konsequenz, die heute Irritationen auslöst, denn Pestalozzi postuliert, daß die Bildung der Kinder dem Stande der Eltern (Bauer, Handwerker, Kaufmann, Gelehrter usf.) angepaßt sein soll. Zwar fordert er nicht, daß es dabei zu bleiben habe, aber die Grundlage der naturgemäßen Bildung ist eben doch die jeweilige Standesbildung.

Schließlich ist es Pestalozzi immer wieder daran gelegen, zu zeigen, daß die Idee der Elementarbildung keine willkürliche Erfindung von ihm ist, sondern in der Natur des Men­schen liegt und daher immer schon in der menschlichen Erziehung einen Ausdruck fand. So sieht er etwa im Ausspruch des einfachen Volkes, daß ein Kind schon halb erzogen sei, wenn es beten, denken und arbeiten gelernt hat, eine Bestätigung seiner Forderung der naturgemäßen Bildung der sittlichen, geistigen und physischen (Kunst–) Kräfte.

Es soll hier nicht verschwiegen werden, daß Pestalozzis ‚Schwanengesang‘ über weite Strecken schwer lesbar und eigentlich ohne begleitende Hilfe kaum zu verstehen ist. Das liegt daran, daß sich ihm im Laufe seines Schriftstellertums ein persönlich geprägter Sprachstil entwickelt hat, der sich durch oft sehr lange Schachtelsätze, einen hohen Abstraktionsgrad, gelegentlich auch durch eine gewisse Formelhaftigkeit und auch eine spezifische Terminologie auszeichnet, die zu allen möglichen Mißdeutungen verleitet. Kommt hinzu, daß er, wenn er sich in seinen philosophischen Sphären bewegt, wirklich nicht daran denkt, daß er dem Leser seine Gedanken mit praktischen Beispielen besser verständlich machen könnte. Eine große Hilfe zum Verständnis sind die rund 40 Seiten umfassenden Erläuterungen und Anmerkungen des Redaktors von Band 28 der Kritischen Werkausgabe von Pestalozzis Schriften, Emanuel Dejung (PSW 28, S. 407 – 445). Diese in aller Breite hier wiederzugeben, erachte ich als nicht sinnvoll. Trotzdem möchte ich dem Leser die Lektüre des ‚Schwanengesangs‘ – über die bereits erfolgte Einführung hinaus – erleichtern, und zwar durch folgende Maßnahmen: Erstens versehe ich den Text mit insgesamt rund 150 Anmerkungen, zweitens redigiere ich die Fassung der Kritischen Ausgabe hinsichtlich der heute gebräuchlichen Rechtschreibung und Interpunktion, und schließlich unterwerfe ich den Text, der im Original ohne jede äußerliche Gliederung gleichsam als 230 Seiten langer Bandwurm erscheint, einer hierarchischen Struktur durch Setzung von Titeln und Untertiteln. Diese ist als Versuch zu werten, den schwierigen Text etwas übersichtlicher zu präsentieren, und darf demgemäß auch als diskutabel betrachtet werden.

Arthur Brühlmeier

Inhaltliche Struktur des Schwanengesangs

Vorrede

Erster Teil: Pestalozzis Idee der Elementarbildung

Zweiter Teil: Pestalozzis Selbstbiographie

Dritter Teil: Abschliessende Betrachtungen

Vorrede

Ich habe seit einem halben Jahrhundert mit unermüdeter Tätigkeit gesucht, die Mittel des Volksunterrichts, besonders in ihren Anfangspunkten, so viel mir möglich zu vereinfachen und mein Scherflein dazu beizutragen, dieselben dem Gange, den die Natur in der Entfaltung und Ausbildung der Kräfte der Menschennatur selbst geht, näherzubringen, und durch diese ganze Zeit mit glühendem Eifer für die Erzielung dieses Endzwecks gearbeitet; aber freilich auch vieles sehr ungeschickt angegriffen und behandelt und mir dadurch unendliche Leiden zugezogen; aber sie auch mit standhafter Geduld bis jetzt getragen, ohne jemals von der ernsten Bestrebung nach meinem Ziele abzulassen. Bei diesem Gange meines Lebens konnte ich nicht anders, als auf der einen Seite über den Gegenstand meiner Bestrebungen wichtige Erfahrungen (zu) machen, andererseits auch zu einigen Resultaten (zu) gelangen, die den Freunden der Menschheit und der Erziehung durchaus nicht gleichgültig sein können. Ich bin nun achtzig Jahre alt, und in diesem Alter hat jeder Mensch Unrecht, wenn er sich nicht jeden Tag so viel als auf dem Todbette liegend ansieht. Ich habe das seit einiger Zeit mehr als je gefühlt. Ich wollte also nicht länger säumen, dem Publikum sowohl über meine diesfälligen Erfahrungen als über ihre gelungenen und mißlungenen Resultate noch vor meinem Absterben eine so viel mir möglich klare und bestimmte Rechenschaft zu geben. Ich gab meiner Schrift deshalb auch den Titel, den sie trägt.[1]

Freunde der Menschheit! Nehmet es dafür an und fordert in schriftstellerischer Hinsicht nicht mehr von mir, als ich zu leisten imstande bin. Mein Leben hat nichts Ganzes, nichts Vollendetes hervorgebracht; meine Schrift kann auch nichts Ganzes und nichts Vollendetes leisten. Gönnet ihr, wie sie ist, Eure prüfende Aufmerksamkeit und würdigt sie in alledem, was Ihr darin als der Menschheit segenbringend erkennen werdet, Eurer menschenfreundlichen Mitwirkung und einer Teilnahme, die der Gegenstand selber, unabhängend von dem Wert meiner persönlichen Bestrebungen, verdient. Ich wünsche nichts so sehr, als in allem dem, was irgend jemand besser als ich versteht, widerlegt und die Menschheit dadurch besser beholfen zu sehen, als ich es zu tun vermochte. Ich weiß nicht, ob es notwendig ist, noch beizufügen, daß ein Mensch in meinem Alter sich oft und gerne wiederholt, und wenn er sich sogar dem Tode nahe fühlt oder gar auf dem Todbette befindet, sich in Gegenständen, die ihm noch vorzüglich am Herzen liegen, nicht genug wiederholen und nicht satt werden kann, davon zu reden, bis sein Atem ihm selber ausgeht. Das nimmt ihm auch kein Mensch übel, sondern man wird allgemein davon gerührt. Ich hoffe also, in meinem Alter und in meiner Lage auch Verzeihung zu erhalten, wenn ich mich in diesen Bogen zum Teil sehr oft wiederholt, zum Teil sehr vieles vergessen habe, das eigentlich hierher gehörte und unter anderen Umständen hierher gebracht worden wäre, und glaube jetzt nichts weiter sagen zu müssen, als: Wer nähere und bestimmtere Kunde von dem Gange meiner pädagogischen Versuche, seitdem ich an der Spitze meiner Erziehungsanstalten gestanden, wünscht, den muß ich bitten, die gleichzeitig mit dieser Schrift herauskommende Geschichte meiner diesfälligen Bestrebungen[2] zu lesen.   --- Pestalozzi