Emanuel Dejung (1900-1990)

Christoph Dejung

Emanuel Dejung wurde seinen Eltern am 3. Oktober 1900 in Zürich-Oerlikon als das erste Kind geboren. Sein Vater Friedrich Dejung war dreissig Jahre früher als Vollwaise im ersten Lebensjahr aus der Rheinpfalz in die Schweiz gebracht worden, hatte eine sehr religiöse Erziehung erhalten, wurde zuerst Wagner, dann evangelischer Laienprediger mit leidenschaftlichem Kanzeldrang. Er begegnete auf einer Tagung in Davos, die dem Kampf gegen den Alkoholismus galt, seiner Frau, Barbara Luzi, die als Krankenschwester aus einem kleinen romanisch sprechenden Dorf stammte. Emanuel blieb zeitlebens vom gesellschaftsreformerischen Idealismus dieser Herkunft geprägt; er fühlte sich abwechslungsweise als Fremder, der in der Schweiz nie ganz akzeptiert sein konnte, und als evangelischer Graubündner Bauernbub. Das Elternhaus war arm und gottesfürchtig, im ersten Weltkrieg erlebte die Familie wie viele andere in der Schweiz Hunger und Not. Das Wissen um materielles Elend prägte ihn ebenso während des ganzen Lebens wie ein unersättlicher Bildungshunger. Als ältestes von acht überlebenden Kindern wurde Emanuel früh in die Mitverantwortung für die Familie aufgenommen; dennoch durfte er studieren, was dem Vater, der autodidaktisch griechisch lernte, und mehreren Geschwistern trotz grosser Begabung verwehrt war.

Die Schule besuchte er in Wädenswil, dann in Schiers und in der Mittelschulzeit in der Stadt Zürich. Hier zeigte sich seine Neigung zur Geschichte, verstanden als Wissenschaft von der Gerechtigkeit und als Kunst der Erinnerung an bedeutende Menschen: Als Gymnasiast schrieb er einen unparteilichen Bericht über die Kriegsereignisse sowie ein umfangreiches Gedicht auf den Bürgermeister Hans Waldmann, der 1489 zur Beruhigung des unterdrückten Bauernvolkes hingerichtet worden war. Eine Patin ermöglichte ihm die Verwirklichung seines erträumten Studiums; er konnte es in Zürich absolvieren und (wieder unparteilich) mit je einem Studienjahr an der Sorbonne und an der Humboldt-Universität ergänzen. Als Dissertation schrieb er die Biographie Renggers, eines Ministers der helvetischen Republik. Diese Studie zeigte die gemässigte, verantwortungsvolle Denkart eines vornehmen Menschen und vermeintlichen Revolutionärs und enthielt schon den Grundgedanken der ganzen Lebensarbeit des Doktoranden: dass die demokratische Haltung, um die es uns allein gehen kann, wenn wir Kulturmenschen sein wollen, auf Selbsterziehung beruht, und dass sie weder der Autorität und der Tradition noch dem Hochmut und dem Umsturz zuneigen kann. Im Jahr 1924 doktorierte er bei Ernst Gagliardi.

Für einen Historiker lag zunächst der Weg ins Lehramt nahe, hier aber scheiterte er schnell, obwohl er von seinen Schülern Zeichen der Sympathie bekam. Zeitlebens wich er Verhältnissen der Über- und Unterordnung aus; Befehlen und Gehorchen lagen ihm nicht. Auch die rhetorische Begabung und Leidenschaft seines Vaters fehlten ihm ganz. Seine Sache war nie das gestaltende und überzeugende mündliche Wort, sondern nur der bissige Kommentar; die Freunde nannten ihn Salomon, weil er zu jeder Rede, sobald sie die geringste Spur von Selbstbewusstsein verriet, mit einem passenden Zitat einsprach. Sein Sprichwortschatz war unermesslich und abwechslungsreich. Da es ihm während der Jahre seiner Studien in der Bibliothèque Nationale in Paris eigentlich am besten gefallen hatte, begann er nun eine Bibliothekslehre an der Zentralbibliothek in Zürich. 1928 wurde er als Adjunkt an die Winterthurer Stadtbibliothek gewählt, schon im folgenden Jahr war er ihr Direktor, welches Amt er 36 Jahre lang ausübte. Er liebte seinen Beruf, schrieb viele Aufsätze über das Bibliothekswesen, das er als einer der ersten nach amerikanischem Vorbild dem breiten Publikum öffnen wollte; sehr viel Arbeit leistete er zugunsten der Volksbibliotheken in seinem Kanton.

Seine Stellung verpflichtete ihn auch zum Dienst an der Lokalgeschichte; etwa die Hälfte seiner gegen 100 Bücher und Aufsätze galten ihr. Es fällt auf, dass die wichtigsten Werke gemeinsam mit andern Autoren verfasst waren; Wissenschaft war ihm immer Gemeinschaftsarbeit. Unter anderem beschrieb er mehrmals die Geschichte von Winterthur, verfasste etwa zwanzig Lebensbilder bedeutender Männer, wobei sein letztes Werk (über den von den Winterthurern entdeckten und mit Spenden am Leben erhaltenen greisen Henry Dunant) zweifellos das persönlichste war, schrieb in winterthurerischem Geist die Geschichte von zwei Industriefirmen und viele Aufsätze zur lokalen Kunstgeschichte. Hohen wissenschaftlichen Rang erreichte er als Lexikonmitarbeiter und in den Arbeiten, die Vollständigkeit anstreben mussten: die alle zehn Jahre fortgesetzte Bibliographie über Winterthur, der seine Stadt betreffende Band der Kunstdenkmäler der Schweiz, das Buch der Zürcher Pfarrer seit der Reformation. Dass er in Vereinsvorständen für die Betreuung der Vorträge und der Publikationen im Bereich der Literatur und Heimatgeschichte unermüdlich tätig war sowie an der Schaffung mehrerer Museen massgeblich beteiligt, versteht sich fast von selbst. Einen stillen Ruhm genoss er bei vielen, denen er ein Familienwappen gefunden hatte, als kritischer Familiengeschichtler und Heraldiker. Die Neujahrsblätter der Stadtbibliothek, die er herausgab, waren von bleibendem Wert, der Sachkatalog, den er seiner Bibliothek schenkte, von grossem Nutzen dank seiner raffinierten psychologischen Einfühlung in die Motive vieler möglicher Benützer. Er wurde in seinem Beruf zu Recht bewundert.

1933 hatte er ein erstes Mal geheiratet, vier Kinder hatte von ihm seine Frau Mathilde Gassmann, bevor sie 1945 starb; in der zweiten Ehe mit Hedwig Bolleter kamen noch einmal zwei Kinder zur Welt. 1940 musste der nicht mehr junge Bibliothekar als Nachgemusterter zum militärischen Hilfsdienst, den er mit Überzeugung tat und als Gefreiter 1945 beendete.

Sein Schicksal aber war Pestalozzi. Schon 1926 war der junge Historiker in seiner Bibliothekslehre mit der historisch-kritischen Gesamtausgabe von Buchenau, Spranger und Stettbacher in Kontakt gekommen. Der erste Redaktor dieser Ausgabe, Walter Feilchenfeld, versammelte dort alle örtlichen Pestalozzikenner, um ihre Vermutungen über ein seltsames Manuskript in Erfahrung zu bringen, das man Pestalozzi zuschrieb, dessen Handschrift aber eigenartig war. Emanuel Dejung bestimmte die Hand beim ersten Blick als diejenige von Pestalozzis Frau. Er hatte viel früher einmal einen ihrer Brautbriefe gesehen, der aber dreissig Jahre vor dem Manuskript entstanden war; sogleich erinnerte und erkannte er durch die Handschrift die Persönlichkeit. Dieses fast untrügliche Gedächtnis wurde später zum Schrecken derer, die unter und mit ihm arbeiten mussten (die ihn aber fast alle liebten und bewunderten), es wurde zur Stütze für zahllose Forscher aus der ganzen Welt, denen er jedes korrekte Zitat, auch wenn sie es nur in entstellter Form angeben konnten, am richtigen Ort im Corpus Pestalozzianum belegen konnte.

Dreizehn Jahre lang war er begeisterter Mitarbeiter von Walter Feilchenfeld, dann musste dieser zu ihm in die Schweiz flüchten und ihm die Ausgabe anvertrauen; nach seiner weiteren Flucht nach Amerika konnte er nicht mehr mitwirken. Von 1939 an trug Emanuel Dejung die ganze Verantwortung, kämpferisch und unnachgiebig, aber auch voll Enthusiasmus. Zuerst galt es, alle Energie für die Rettung der Ausgabe einzusetzen, dann begann der Dienst an Pestalozzi in der Öffentlichkeit, mit vielen Feierlichkeiten und der als Werbeunternehmen gedachten Volksausgabe, zwischen 1950 und 1965 folgte der harte Kampf gegen seine Vorgesetzten und gegen sich selbst, denn die Ausgabe hatte die nötigen Mittel nicht, dass er den Brotberuf hätte aufgeben können. Jahr für Jahr musste er dafür kämpfen, dass die Bände, die er nun allmählich fertigstellte, überhaupt in genügender Zahl gedruckt, dass die vielen Mitarbeiter, die sprachliche, wissenschaftliche und historische Spezialfragen lösten, überhaupt bezahlt wurden. Neben die Reihe der Werke Pestalozzis stellte er die Reihe der Briefe, weitere Bände mit sachkundigem, schnörkellos geschriebenem Kommentar. Nach 1965 kamen bessere Jahre, mit ungebrochener Schaffenskraft vollendete er nun bis 1979 jedes Jahr noch einen weiteren Band.

Ein leichter Charakter konnte er, bei dieser Leistung, nicht sein; gegen andere wurde er umso strenger und unangenehmer, je mehr er Hoffnung hegen konnte, selbst noch den Abschluss der Arbeit zu vollbringen. Immer gewisser wurde in ihm die Vermutung, dass wichtige Entwürfe und Briefe des grossen Pädagogen versteckt würden, mit wiederholten Aufrufen hoffte er, die Belege für die entscheidenden Spätgedanken des Meisters (über die er spekulierte) noch zu entdecken. Seine Aufsätze der siebziger Jahre, voll Einfühlung in Pestalozzi, liessen ihn wenigstens die Grundlagen zu diesen demokratischen Zentralideen formulieren: In Pestalozzis Verhältnis zur Krankheit, zur Religion und zur Politik glaubte er ihre Spur zu fassen. In der liebenden Rolle des Vaters, die neben diejenige der Mutter als Lehrerin gesetzt werden sollte, glaubte er Pestalozzis durch autoritäre Feinde unterdrücktes letztes Anliegen erkennen zu können. Dann musste er, selbst kränklich geworden, im Jahre 1980 auf die aktive Herausgabe weiterer Bände verzichten, doch sammelte er weiter und verfasste immer drängendere Suchmanifeste, die wenigstens noch einige Dokumente zum Vorschein brachten. 1976 ernannte ihn die Universität in Bern, 1982 diejenige in Marburg zum Ehrendoktor. Er empfand solche Anerkennung als "spät, wie bei Pestalozzi auch". Immer mehr lastete neben unfruchtbarem Streit die begreifliche Identifikation mit dem Meister auf ihm. Seine letzten Jahre waren überschattet von der gefürchteten Einsicht, nicht mehr fertig zu werden mit der grossen Arbeit.

Wie viele Historiker war er skeptisch gegenüber Interpretation und Rekonstruktion; manchem, der ihn um Rat fragte, war sein legendäres Gedächtnis hemmend, wusste er doch zu jeder Aussage Abweichendes, Einschränkendes, Relativierendes zu nennen. Seriöse Geschichte, so glaubte er, könne nur das demütig zusammentragen, was als echte Überlieferung aus der kritischen Sichtung hervorging; Generalisierendes oder Abschliessendes aber sei ihr verboten. Wie er sich seine Arbeit als Historiker vorstellte, als fast schon philatelistisches Ansammeln von genau erkannten und ohne jede Verzierung dargebotenen Kleinigkeiten, so hätte er sie auch von anderen gewünscht.

Aber diese streng positivistische, sich jedes eigenen Gedankens enthaltende Arbeit, die sein Leben ausfüllte und als wissenschaftliche Leistung eines einzelnen in Erstaunen versetzen muss, liess noch im kleinsten Detail den Glauben an die Macht der Gedanken Pestalozzis spüren. Emanuel Dejung war überzeugt, dass die Reformgedanken des Pädagogen bis heute von der übermächtigen Trägheit der Menschen zurückgewiesen werden, weil die meisten es nicht wagen, auf die blinde Durchsetzung ihrer Interessen, sei es als Macht, sei es als Rebellion, zu verzichten. Pestalozzi fühlte er sich verbunden, ihn hoffte er aus der Verharmlosung durch falschen Ruhm zu erlösen und im umwälzenden Gehalt seiner Erziehungsideen bekannt zu machen.

Am 22. Januar 1990 starb Emanuel Dejung in Oberwinterthur.

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Zur Bewertung dieses Nachworts mögen folgende Gedanken berücksichtigt werden: Meinen Vater möchte ich verstehen und darstellen auch aus dem Interesse an meinem eigenen Leben heraus. Ich kann mich selbst nur verstehen aus diesem Widerspruch und aus dieser Herkunft. Wenn das stimmt, dann muss ich mich fragen, ob ich auch ihn nur verstehen konnte aus dem Leben und dem Wesen seines Vaters heraus. Er begann sein Leben allerdings mit Mutter und Vater, und die mütterliche Seite blieb ihm Heimat, Vaterland und Familie. Die väterliche aber hatte einen Dämon von Kampf und Behauptung, von Zukunft und Verbesserung, von Eifer und Ueberzeugung. Aus der väterlichen Seite kam sein Beruf, und so auch, was er geleistet hat und worüber in seinen Texten etwas zu erkennen ist.

Etwas Gehetztes, hektischer Arbeit Ergebenes (bis zur Ungenauigkeit einzelner Abschriften konnte es ihn, den Archivar und Bibliothekar, zuweilen überstürzen) gibt es noch zu erklären oder wenigstens zu verstehen.

Äusserlich ist es den nahen Menschen immer beeindruckend erschienen - als Nichtloslassenkönnen, selbst an den Wochenenden nicht und nicht in den Ferien, als Stetigkeit, ja Stabilitas loci über den stets gleichen Karteikästen und Ordnern, als Schreibwut, mit der Feder oder einer uralten Underwood-Schreibmaschine. Immer redete er von dem, was noch zu machen sei, immer verkleinernd mit dem obligaten "nur noch..." (nur noch diesen Monat, nur noch fünfzehn Bände, nur noch zehn Jahre, nur noch die Brief an Pestalozzi, nur noch dies, nur noch das). Und stets war die Verkleinerung erst recht Zeugnis für das Unvollendbare, das Unabschliessbare, das er ja wusste, auch wenn er es sich nicht eingestand.

Tiefer als alle andern Verzweiflungen reichte ein Gefühl, das ihn früh berührt, dann immer tiefer beschäftigt und schliesslich völlig durchdrungen und aufgefressen haben muss: Dass die eigentliche Leistung des späten, zur Vollendung gereiften Pestalozzi bis heute unbekannt, unterdrückt, verboten sei. Die "Alters-Tragödie".Was sich die meisten sehr einfach erklären können: als Nicht-Resignieren-Können des Schulgründers, als schroffer Entscheid für den Nicht-Geiseswissenschaftler unter den Hauptlehrern, als Entfremdung vom enttäuschten philosophierenden Schüler, als Versagen eines Idealisten (Pestalozzi habe seinem Volk ein unerreichbares Vorbild gesetzt, eine sehr seltsame, teilweise grandiose, teilweise unlesbare Schriftstellerei gegeben, aber doch trotz allem Leitideen für eine brauchbare Schule hinterlassen), genügte ihm zum Schluss nicht. Von den Vertretern des "Geistes", die eine Schule für Eliten, für Verantwortliche, für Machthaber und Führer wollten und heute noch wollen (statt Pestalozzis Bildung von Kopf, Herz und Hand), wie auch von den revolutionären Volksverbesserern, die Machtteilhabe erstreben statt Machtauflösung, war Pestalozzi verraten.

... Was tut denn der Vater? wusste er, der stets davon sprach, dass niemand anderer seine Arbeit jemals abschliessen, fortsetzen, verbessern, übertreffen könne, dass er sie werde unvollendet verlassen müssen? Durchschaute er den Ruf nach der Klärung der Verluste als Camouflage der Kapitulation, als Ausweichen, als vergeblicher Versuch zur Apotheose der eigenen unvollendbaren Arbeit?

Er wurde geboren, er lebte, er starb. Die Besonderheiten seines Lebens? - unwichtig. Er teilte das Leben bewusst mit den eineinhalb Milliarden Menschen, die 1900, im Zeitpunkt seiner Geburt, auf der Erde waren, und mit den fünf Milliarden, die ihn 1990 überlebten. Nur sehr wenige waren vor ihm schon da und haben ihn zugleich überlebt: Er hatte ein glückliches, langes Leben. Es sollte für die Gemeinschaft sein;

"... damit sie alle eins seien. Wie du, Vater in mir bist und ich in dir..." Joh. 17,21.