Emanuel Dejung:

Die Krankheit im Leben Heinrich Pestalozzis (1975)

Christoph Dejung

Vorwort

In vielen Biographien Pestalozzis sind Einzelheiten über seine Erkrankungen enthalten. Doch ist noch keine Zusammenstellung aller Belege über Krankheiten in seinem Leben und in seiner nächsten Familie erschienen, so dass der unterzeichnete Historiker diesen Versuch unternahm. Vielleicht kann auch noch ein zweiter Teil über Pathologie in seinem weitern Umkreis, sowie vor allem auch in seinem Schrifttum später erscheinen.

Man darf Pestalozzi nicht zu einseitig als blossen Gefühlsmenschen auffassen, gebändigt von einem starken Willen zur Selbstbeherrschung. In vielen Briefstellen gibt er dem Drang seines Herzens, seiner überstarken Gefühlswelt Ausdruck, und zu grosse Güte liess ihn manchmal das eigene kritische Urteil übergehen für fähige, ihm anvertraute Kinder, wegen der Wirtschaft seines Hauses, zum Wohl armer Mitmenschen. Neben seiner Sensibilität aber besteht bei ihm eine ausserordentliche Geisteskraft, in seinem Verhalten zu Mitmenschen, in seiner Anstaltskraft, in seiner Methode, in seinem Schrifttum. Im Zusammenwirken von Geist und Herz besteht geradezu sein Genie.

Um zu seinem Wesen näher vorzudringen, fasst diese Arbeit eines Historikers alle Unterlagen seines medizinischen Erlebens zusammen. Gestützt auf ein auch psychologisches Fachwissen können dadurch viele ungeklärte Fragen besser verstanden werden, und oft wiederholte Denkclichés sind danach abzuwerten. Vorbehalte gegen Pestalozzi sind zeitlebens erhoben worden, wegen seiner angeblichen Unbrauchbarkeit, seinem Wesen als Sonderling, im Alter wegen seiner Senilität und des zu Unrecht behaupteten Abfalls von seinen Ideen. Hier kann eine fundierte Untersuchung zu einem bessern Verständnis des berühmten Pädagogen, wie auch zur Bewertung seiner Gegnerschaft führen.

Drei Schriftbilder und zwei graphologische Gutachten, alle über Vorlagen aus verschiedenen Zeitpunkten, und ärztliche Beratung möchten mithelfen, die Psychographie Pestalozzis in neuem Lichte zu sehen und damit vermehrt zu seinem eigentlichen Wesen vorzudringen. Für allen Beistand und für alle Anteilnahme am noch teilweise unbekannten Propheten Pestalozzi danke ich herzlich.

Ererbte Konstitution

Wenn wir uns nach der Gesundheit der Vorfahren in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht erkundigen, geben uns die Quellen nur wenig Nachrichten.

Der Vater, Joh. Baptist Pestalozzi (1718-1751), Chirurg und Pfarrerssohn, starb nach Aussage des Grossvaters an einem tückischen Fieber, als Heinrich erst fünf Jahre alt war. Es ist begreiflich, wenn wir von ihm kaum etwas Medizinisches melden können, ausser dass er im Ausland studierte, mit einer Arzttochter verheiratet war und den Versuch machte, sich aus England die gebräuchlichsten chirurgischen Instrumente zu verschaffen. Die Mutter Susanne, geb. Hotz (1720-1796) stammte aus einer bekannten Arztfamilie in Wädenswil. Ihr Vater hatte aus mehreren Ehen 17 Kinder, von denen wegen der damaligen Kindersterblichkeit acht die Volljährigkeit erreichten. Sie selbst dürfte als ehemalige Untertanin in der Stadt Zürich sich zurückhaltend aufgeführt haben, galt als gütig, besonders in der Fürsorge für ihre Kinder. Von ihren sieben Kindern blieben drei länger am Leben. Vielleicht darf bei ihr auf eine manisch-depressive Veranlagung geschlossen werden, weil sowohl Heinrich, wie seine Schwester Anna Barbara, verm. Gross (1751-1832) in Leipzig diese Disposition wohl von ihr geerbt haben. Wiederholt hat Heinrich in Briefen seine Schwester aufgemuntert.

Heinrich Pestalozzis Grosseltern stammten aus ganz verschiedenen Berufsrichtungen und politisch bedingten Schichten. Von der väterlichen Seite stammte er aus der Kaufmannsfamilie, die, aus Graubünden kommend, 1567 das Bürgerrecht erworben hatte, und aus der Familie Ott, die in Pfarrern und Schulherren bedeutende Vertreter des Geisteslebens aufwies. Von der mütterlichen Seite waren die Vorfahren untertänige Landleute, wie die Ärztedynastie Hotz in Wädenswil und die begüterte Bauernfamilie Haab aus derselben Gemeinde. Zwar hatten drei Grosseltern nicht die Möglichkeit persönlichen Einflusses, dafür hat der väterliche Grossvater, Pfarrer Andreas Pestalozzi (1692-1769) in Höngg in ausgeprägter Weise den früh vaterlosen Enkel mitformen helfen.

Über seine Ahnen hat Heinrich Pestalozzi sich nie viel geäussert, mit einer Ausnahme. Nur von seinem Urgrossvater, dem Pfarrer, Chorherr und Gelehrten Joh. Baptist Ott (1661-1742) hat Pestalozzi in seinen Lebenserinnerungen, betitelt 1826 eine Menge Anekdoten erzählt, die ihm zuhause überliefert wurden. Sowohl die frohgemute Wesensart dieses Mannes wie seine gelehrte Ader des Archidiakons erinnerten ihn an eigene Charakterzüge; dass die Anekdoten "eine ganz auffallende Ähnlichkeit seines Charakters und seiner Eigenheiten mit dem meinigen zeigen und eine Idee sehr zu bestätigen scheinen, dass nämlich Familiencharaktere gar oft nach mehreren Generationen, mit Überspringung vieler Zwischenglieder, Ähnlichkeit wieder erscheinen. Gutmütig und leichtsinnig wie ich, war er in wirtschaftlichen Angelegenheiten ebenso ungewandt und ebenso nachlässig; aber da er nicht wie ich ausser das Gleis des gewohnten bürgerlichen Lebens hinaustrat, sondern wie andere seinesgleichen die gewohnte Laufbahn von den Professorenstellen bis zur Chorherrenstelle ordentlich mitmachte, waren die Folge seiner diesfälligen Schwäche nie so grell auffallend und drückend, wie es bei mir der Fall war."

Man darf diese Charakteristik eines Vorfahren mit den Einwänden versehen, dass Heinrich Pestalozzi in einem revolutionären Zeitalter lebte, in welchem die auflüpfische Eigenart der Bevölkerung am Zürichsee sich ganz ausleben konnte. Auch muss man an die übliche zu grosse Bescheidenheit des Nachfahren erinnern, an die übertreibende Schilderung seiner wirtschaftlichen Unbrauchbarkeit, die im Lichte neuerer Forschung meist nicht vorhanden war, weil seine ökonomischen Zusammenbrüche durch andere Leute verschuldet wurden: 1780 durch den Bruder Baptist, 1799 durch den Krieg, 1803 durch die Politikwende und 1825 durch die Feindschaft ausgetretener Lehrer. Hier hat wohl der volksverbundene ländliche Realismus, die realistische Bodenständigkeit im Gegensatz zum bloss theoretischen Bücherwissen sich in ihm spürbar ausgewirkt.

In seiner Rückerinnerung hat Johannes Ramsauer (1790-1848) mit seiner kurzen 1838 den Stand des Abschieds von Vater Pestalozzi im Bild und auch im Wort festgehalten. Er kam als armes Flüchtlingskind 1800 nach Burgdorf, wirkte nach der Schulung bis 1816 als Lehrer im Institut Yverdon und ist hernach in Stuttgart und Oldenburg zum Erzieher von Fürstenkindern aufgestiegen. Seine Schilderung bestätigt mit Varianten die Darstellung von Ch. S. Weiss.

Die einzelnen Bedrohungen von Pestalozzis Gesundheit, inbegriffen seine Unfälle, werden nachfolgend durch Ausführungen über seine Leiden chronologisch anhand der Quellen erzählt.

Wesensart und Gesundheit

Heinrich Pestalozzi hat in seiner Frühzeit viel Not und Elend erleben müssen, angefangen vom frühen Verlust des Vaters über das Versagen des Bruders 1780, die bedrückten Jahre und Jahrzehnte der Neuhofzeit bis zum frühzeitigen Tod seines einzigen Sohnes. Nach einer ihn berühmt machenden Wirksamkeit in Burgdorf und Yverdon erlebte er im Alter eine tragische Ausgangsperiode, die ihm ausgetretene Lehrer bereiteten. Auf die europäische Anerkennung folgte damit eine Epoche der Befehdung, die ihn bis in der Tod verfolgte.

Seine Entwicklung zeigt einen Knaben, der durch einseitige Frauenerziehung beeinträchtigt wird, der aber selber zum prohetischen Erzieher aufsteigt. Der jugendliche Traumsinn des Weltverbesserers wandelt sich zur anerkannten Philosophie. Schon in jungen Jahren ein Armenfreund, lässt er sich durch Jahrzehnte eigener Not nicht verbittern, bleibt ein Helfer aller Bedrängten. Der Schweizer Demokrat, von eigenen Mitbürgern zeitweise bedroht, wird zum Gesprächspartner von Monarchen und Staatsmännern, und der gute Christ zum Weltbürger und Menschenfreund, zum wirklichen Tatchristen bis zum Ende.

Fragen wir uns, wie Körper, Seele und Geist bei Pestalozzi in medizinischer Hinsicht auf sein Schicksal antworten, so zeigt ein Lebensüberblick folgendes Ergebnis. Zeitweise wird Pestalozzi wie wohl jedermann von körperlicher Krankheit ergriffen, erreicht aber das für damalige Zeit hohe Alter von 81 Jahren. Seelisch liegt seine Stärke in einem überstarken Gefühlsleben, das die Zeitgenossen und die Nachwelt für ihn gewonnen hat. Gerade in dieser Einseitigkeit lag freilich auch eine Gefährdung, wenn Leute ihn bekämpften, ihn im Alter als senil und wahnsinnig hinstellten. Über die zweite, ihn ebenfalls auszeichnende Seite seines Wesens, seine gewaltige Kraft des Denkens, ist auch die Nachwelt noch nicht ganz im Klaren, weil rund die Hälfte seiner Schriften erst seit 1927 zugänglich geworden ist, noch jetzt stets unbekannte Werke herauskommen. Neben seinem grundgütigen Herzen darf und muss auch sein erzgescheiter Kopf zu seinem Rechte kommen, ist es doch erst die Vereinigung von Herz und Geist, die sein Genie ausmacht. Dazu und zur Untersuchung der geistigen Gesundheit, die im Alter als Senilität wie als Abfall von seinem Wesen angefochten wurde, dient auch der vorliegende Aufsatz.

Nehmen wir den körperlichen Zustand voraus, so begnügen wir uns dafür mit je einem Bericht eines fremden Besuchers und eines in der Anstalt vom Schüler zum Lehrer aufsteigenden Schweizers.

Christoph Samuel Weiss (1780-1856) aus Leipzig, ursprünglich Mediziner, dann Naturwissenschaftler, kam 1807 zu Besuch nach Yverdon. Er hat das Ungewöhnliche im Verhalten Pestalozzis deutlich gesehen, das, was ihn zum Sonderling wie zu einer ausserordentlichen Persönlichkeit machen konnte, was der Jugendfreund J.C. Lavater als unik, einmalig, gekennzeichnet hat. Weiss skizzierte nach der Rückkehr in die Heimat das Wesen des Anstaltsleiters, dessen Denkspruch lautete, wie folgt:

[Zitat fehlt]

Die seelische Beschaffenheit weist sehr grosse Spannweite aus, männliche und weibliche Züge, von kindlichem Sinn bis zur Ekstase und Vision, mit hohem Sendungsbewusstsein bis zur Depression. Mit heftigem Temperament weist er ein starkes Schwanken in Jubel und Schwermut, in Selbstgefühl und Selbstanklage auf, wobei sein Fühlen dauernd in seinem Glauben und seiner Liebe verwurzelt ist.

Als er im Alter dem englischen Staatsmann W. Wilberforce über die Rückführung der Bildungsmittel auf den häuslichen Kreis, auf die ursprünglichen sittlichen Verhältnisse des Menschen schrieb, hat er sich selbst 1823 noch als ein Kind charakterisiert:

[Zitat fehlt]

Schon in den Briefen an seine Braut Anna Schulthess hat Pestalozzi sie auf seine besondere Sensibilität aufmerksam gemacht:

Im Lauf des Lebens prägte sich die psychische Struktur Pestalozzis stärker aus. Schon mit 45 Jahren hatte er Todesahnungen, als ihm noch nicht möglich wurde, seinen endgültigen Beruf zu finden, und wiederholt hat er sich als bezeichnet. Wenn er Sonderlichkeiten beging, indem er 1808 seinen eigenen Sarg vor die Hausgemeinschaft aufstellte, so geschah dies, um seine Umgebungen für seine Ideen mitzureissen.

Wenn seinem angefangenen Werk Widerstand begegnete, konnte Pestalozzi in Ekstase verfallen, nach eigenem Ausdruck auch in , in Gemütskrankheit, wurde leidenschaftlich wie vor ihm religiöse Typen wie Luther und Augustin. Persönliche Visionen sind bei ihm nicht selten, deren Inhalt sowohl persönlich, religiös und sogar auch politisch ist.

In seiner Schrift gegen Chorherr J.H. Bremi in Zürich zeichnet er sich selbst, in seinem Artikel 48 (1812):

Durch diese gefühlsmässige Intuition gewinnt er eine reale Beziehung zu Mensch und Welt, was auch zu seiner Genialität gehört. Zugleich aber ist diese manisch-depressive Veranlagung auch eine Gefährdung. In seinen Gefühlsäusserungen viel weniger zurückhaltend als wir heutzutage sind, verfällt er auch in unnötige Selbstanklage, in quälerische Selbstzermarterung. Was er intuitiv gefunden hat, möchte er durch Mitarbeiter bestätigt, erläutert, näher begründet sehen. In seiner Verzagtheit schätzt er den rationalen Mathematiker Joseph Schmid in seiner Tiroler Naturkraft, und überschätzt seinen streitbaren Apologeten Johannes Niederer in seiner theoretischen Denkweise.

Damit sind wir schon zur Frage der geistigen Gesundheit Pestalozzis vorgedrungen. Gerade das zuerst gute, dann auseinanderbrechende Verhältnis zu Niederer hat bei Pestalozzi zweimal Verzweiflungszustände bewirkt, 1817 bei der Trennung von ihm, als Pestalozzi befiel, und dann um 1826, als die letzte Auseinandersetzung die Gegner zu schlimmsten Anfeindungen führte.

Nicht allein senile Geistesschwäche wurde ihm damals attestiert, sondern Wahnsinn, auch nach seinem Tode. Niederer hatte eine unsinnige Konstruktion beigezogen, indem er , eine edle und eine unedle bei Pestalozzi unterschob. Man könnte hier wie bei Hegel, dessen Krankheit sich in These und Antithese widerspiegelt, auch denken, dass sich die Behauptung von Pestalozzis Wahn aus dem eigenen Geisteszustand erklären lasse, wie dies Forscher auch schon behauptet haben. Jedenfalls kam Pestalozzi im Alter gelegentlich nach dem eigenen Wort , doch dürfte ihm eigentliche Geisteskrankheit nicht zuzusprechen sein.

Das junge Ehepaar auf dem Neuhof

In ihrem ersten Ehejahr führte Frau Anna Pestalozzi ein Tagebuch, das einige eher geringfügige Krankheiten erwähnt, doch mehr bedeutet, was den Seelenzustand der Gatten anbelangt. Es zeigt den überaus sensibeln Gatten einerseits, die vom Gewissen wegen Verhaltensfehlern beunruhigte Frau in skrupelhaften Aufzeichnungen. Wir entnehmen daraus einige Ausführungen, weil sie die psychologischen Erklärungen für spätere Erkrankungen geben, bei Heinrich Pestalozzi die Beeinflussbarkeit durch äussere Umstände, bei Anna Pestalozzi die Gefahr dauernder Ängstlichkeit und daraus sich ergebender Krankheit.

Über die Festtage weilte das Ehepaar zu Besuch bei Verwandten in Zürich und Winterthur. Pestalozzi ist damals wohl weniger von den Folgen seiner Festessen, eher von einer Grippe ergriffen worden, die ihn für eine Woche gepackt hatte. Nach dem Rat von Dr. Hotz verzichteten die Eheleute auf ein Nachtessen, als sie nach den Festtagen zurückgekehrt waren. Am 10. Januar 1770 notierte Anna Pestalozzi ihre eigene Krankheit im Tagebuch, wobei ihr Pessimismus auffallend ist:

[Zitat fehlt]

Auch noch im Januar 1770 verzeichnete Anna Pestalozzi einen Angsttraum, dem die Eheleute furchtsam eine schlimme Vorbedeutung zuschrieben. Sogar der sonst real denkende Heinrich hegte nach Annas Aufzeichnung trübe Ahnungen:

[Zitat fehlt]

Diese schlimmen Vorahnungen sollten sich später, aber in ganz anderem Sinn erfüllen. Aber auch Anna Pestalozzi war nicht vor späterem Unheil gefeit; ihr im August 1770 geborener Sohn Jakob sollte ihr noch viel Kummer bereiten. Zwar war die Geburt gut verlaufen, nachdem ein Aderlass die Wehen hatte einsetzen lassen und Anna auf den Geburtsstuhl gebracht worden war. Aber nach kaum einem Monat weiss ihr Tagebuch von einer Erkrankung des Knaben zu berichten. Die Amme fand, die Muttermilch sei nicht in Ordnung, was Anna zu Selbstvorwürfen veranlasste, weil sie ihrem heftigen Temperament freien Lauf gelassen habe. Am 14. November machte sie eine Feststellung, die auf eine spätere Erkrankung deuten könnte:

Wie sich einige Tage danach herausstellte, bemerkte der Arzt Dr. Koller eine Rothaucht [Röteln?], die sich als ungefährlich erwies.

Lit. Werkband I, S. 39f., 44f., 81, 85, 90, 93.

Die Kinderblattern

Irgendwann in seiner Kindheit, in einem nicht näher bestimmten Jahr erkrankte Heinrich Pestalozzi an den Blattern. Diese Krankheit hat Spuren hinterlassen, die bis ins Alter sichtbar blieben. Hie und da in ausführlichen Schilderungen des erwachsenen Mannes wird diesem Umstande Erwähnung getan. Doch ist auffällig, wie die meisten Porträts Pestalozzis diese Nachwirkungen nur andeuten, wenn sie nicht überhaupt weggelassen sind.

In den Brautbriefen an und von Anna Schulthess werden die Tupfen im Gesicht direkt oder gesamthaft angedeutet. Im Februar 1767 hat der Jungverlobte gegenüber Anna einige Enttäuschung gezeigt, als Pfarrer J.C. Lavater von ihr ein Porträt zeigte. Die Braut antwortete darauf, indem sie über die Verunstaltung von Pestalozzis Gesicht hinwegsah, wie folgt: "Ich lasse es mir nicht erst von meinem Liebhaber sagen, inwieweit ich schön bin. Ich weiss es sonst, dass ich nichts Bedeutendes darin habe, keinen Charakter; mit der weissen Haut, ein wenig Sommerflecken und ein wenig Farbe auf den Wangen, die nun bald weg ist, der Hofernase, mit dem musst Du zufrieden sein... Und glaube nur, Du hättest der Natur wenig zu danken, wenn sie Dir nicht grosse, schwarze Augen gegeben, die Deine Güte des Herzens, die Grösse Deines Geistes, Deine ganze Zärtlichkeit bewiesen."

Als Heinrich Pestalozzi im bernischen Kirchberg eine landwirtschaftliche Lehre machte, machte Anna Schulthess in einem Briefe vom 25. Oktober 1767 eine Anspielung auf die Blattern und ihre Narben:

Lit. Briefband I, S. 148, Z. 30-31; S. 255, Z. 25-30; S. 259, Z. 29ff.

Noch einmal erscheinen die Kinderblattern in der Korrespondenz Pestalozzis. Laut einem Brief an den Freund Heinrich Füssli in Zürich wollte der Vater seinen Sohn Jakob (geb. 1770) im Jahre 1773 ohne Wissen der Familie impfen lassen. Diese Behandlung war seit 1718 in Europa üblich, seit die Frau des englischen Gesandten sie aus Konstantinopel einführte und die Ärzte Tissot, Hufeland u.a. sie empfahlen. Da diese Impfung nicht ungefährlich war, wurde sie gegen 1800 wieder aufgegeben. Wir wissen nicht, ob Füssli im vorliegenden Fall abgeraten hat. Die seit 1796 aufgekommene Impfung gegen Pocken ist noch heute bekannt.

Lit. Briefband III, S. 37,433f.

Tuberkulose

Man hat sich schon gefragt, ob nicht Krankheit in besonderen Fällen auch als Förderung menschlichen Lebens wirkt, ob sie nicht zum Quell ungewöhnlicher, produktiver Leistung werden kann. Erich Ebstein hat in seinem Buche: eine Reihe von Persönlichkeiten zusammengestellt, deren Tuberkulose zwar teilweise Gewebe zerstörte, die aber doch auch starke Anregung für die Geistesfunktionen sein kann. Neben Pestalozzi hat Ebstein auch Goethe, Schiller, Voss, Novalis, in Frankreich Molière und Rousseau, ferner Spinoza, Calvin, Chopin, Carl Maria von Weber, auch die Wissenschaftler Wilhelm Wundt, Paul Ehrlich und viele andere angeführt.

Professor Rudolf Nissen in Basel hat diese Ansicht bestätigt, ohne sich bei allen Genannten ganz auf Tuberkulose festzulegen: "Es ist unbestreitbar, dass mit der Ausrottung der Tuberkulose einer der vielen stimulierenden Faktoren aus dem ästhetischen, dem geistigen und künstlerischen Leben der Menschheit verschwinden wird, eine Tatsache, die im Hinblick auf die zunehmende Materialisierung der menschlichen Beziehungen und Ausdrucksformen zu bedauern ist." Allgemein bekannt ist ja auch der Roman von Thomas Mann, , der sich ja auch mit diesem Problem beschäftigt.

Zu wiederholten Malen hat Pestalozzi auch in diesem Fall seiner Braut Anna Schulthess Auskunft über seinen Gesundheitszustand gegeben. Seine Aussagen sind aber recht vage gehalten, so dass sich kein pathologischer Befund daraus ableiten lässt. Wenn er von spricht, so lässt das viele Deutungen zu. Nehmen wir die Äusserungen voraus, in welchen der angehende Bräutigam 1767 seine Freundin wegen Gefährdung durch Krankheit beruhigt und ihr Zuversicht einflösst.

[Zitat fehlt]

Unvoreingenommen darf man wohl zugeben, dass Pestalozzi psychisch und physisch durch eine überstarke Sensitivität sehr beeinflussbar war. Der Spruch: Was mich kränkt, macht mich krank, gilt für ihn in besonderem Masse, und darf wohl dahin erweitert werden, dass auch tiefe Beunruhigung seine Gesundheit negativ beeinflussen konnte. In den Jahren der Brautzeit hat er sowohl die Berufswahl zu entscheiden, vom Studium der Theologie und der Rechte zur Landwirtschaft übergehend. Die Verlobung mit der älteren, reichen Kaufmannstochter Anna Schulthess traf bei den Schwiegereltern auf längeren Widerstand, der erst einige Zeit nach der Hochzeit ausgeräumt worden ist.

Fürsprache für seine beruflichen und privaten Pläne fand der junge Mann nicht nur bei bekannten Persönlichkeiten seiner Vaterstadt, wie Lavater und Heidegger - er konnte auch auf die Hilfe guter Ärzte zählen. In Zürich war es der kulturell und wissenschaftlich bedeutende Dr. med. Hans Heinrich Rahn (1749-1812), dem Pestalozzi am 27. Januar 1768 für sein gutes Pulver dankte: Am Zürichsee oben, in Richterswil, wohnte der Arzt Johannes Hotz (1734-1801), der wie sein Sohn Dr. med. Johannes Hotz (1734-1801) viel zur Beratung tat. Der jüngere Hotz hat als Vetter Pestalozzis sicher sein Leben auch stark beeinflusst.

Für die Brautleute Pestalozzi/Schulthess gab ein nahes Schicksal zu Bedenken und Befürchtungen Anlass. Der Freund beider, Kaspar Bluntschli (1743-24. Mai 1767) erkrankte als Student an der Lungenschwindsucht und starb nach einer Kur in Hütten am obern Zürichsee an dieser Krankheit. Gewiss hat ihn Pestalozzi auch zu seinem ärztlichen Vetter gesandt, und wie später in der Molkenkur und in unserm Jahrhundert mit der Therapie im Hochgebirge hat man auch schon tief im 18. Jahrhundert mit einer Höhenkur Heilung gesucht.

Aus späterer Sicht und auf den indirekten Berichten anderer Leute hat Joh. Wilhelm Mathias Henning, um 1810 während einiger Jahre Lehrer in Yverdon, von einer gefährlichen Krankheit Pestalozzis mit 21 Jahren Kenntnis übermittelt. Durch Rousseau angeregt, lehnte dieser 1767 die städtische Zivilisation ab, ging zunächst zu seinen Verwandten am obern Zürichsee. Ärztlich beraten, hat er gewiss auch auf den Höhen der Berge am Zürichsee Erholung gesucht. Hennings Mitteilung lautet dann weiter: Damit war die Berufswahl vollzogen, der Übergang zur Landwirtschaft beschlossen, seine bäuerliche Lehrzeit bei Tschiffeli im Bernbiet vorbereitet.

Was einige Forscher späterer Zeit über diese gefährliche Erkrankung ausgesagt haben, beruht wohl auf sachlichem wie auch zeitlichem Irrtum. O. Hunziker hat, laut Aussage in den Pestalozziblättern 1897, geglaubt, Pestalozzi habe damals eine Attacke von Typhus erlitten, was eher für 1814 gelten kann, als Kriegszeit diese Gefahr allgemein akut werden liess. F. Delekat hat in der 3. Auflage seines Buches 1968 vermutet, die Anfälle Pestalozzis seien als Epilepsie zu deuten, was eher als nicht erbliche Krankheit für seinen Sohn Jakob 1786 gilt.

Noch sollte eine neue Indisposition des Bräutigams im Herbst 1768 die frühern Befürchtungen bei Anna Schulthess wieder wecken. Vielleicht wurde der junge Mann angesteckt, als er in Höngg seinen greisen Grossvater pflegte. An einem Tage konnte er seine Braut grüssen: Schon Tage darauf musste er in Höngg das Haus hüten und seiner Geliebten gestehen:

In tiefe Beunruhigung gestürzt, sandte Anna Schulthess im Herbst 1768 erregte Fragen nach Höngg: "Du bleibest darum in Höngg, mein Herzensfreund, dass ich nicht wissen sollte, dass Du krank... Verheele mir keinen Umstand! Ist Deine Enge wieder hefftiger, hast Du Fieber und Schweiss? Ach Gott! Sage mir alles, dann bin ich ruhig. ... Verheele mir um Gotteswillen nichts! - welche Widersprüche! Und Du weissest, was ich Deines Aussehens halben, schon seitdem ich Dich lesthin gesehen, gefürchtet habe." Die Braut mag aufgeatmet haben, als ihr Pestalozzi nach wenigen Tagen schreiben durfte:

Mögen die Krankheitserscheinungen der Brautzeit nicht unbedingt für ein Leiden an Tuberkulose sprechen, so ist doch gewiss, dass mit dem Leben auf dem Neuhof, als Landwirt wie als Anstaltsleiter gewiss nicht eine immer ruhige Zeit begann, doch eine Epoche von Jahren, die als gesunder anzunehmen sind. Was Pestalozzi damals als Mitleidender erlebte, ging in erster Linie seine Familie im engern Kreise an.

Lit. Erich Ebstein, Tuberkulose als Schicksal; eine Sammlung pathographischer Skizzen von Calvin bis Klabund, 1509-1928, Stuttgart, Verlag Enke 1932. - Rudolf Nissen, Ein anderes Gesicht der Krankheit, Basel, Nationalzeitung 1969 Nr. 166 (13. April). - J.W.M. Henning, Schulrat an der Oder, 1817. - Pestalozzi-Blätter 1885, S. 62ff., 1897, S. 36 (Otto Hunziker). - F. Delekat, J.H. Pestalozzi, 3. Auflage, Heidelberg 1968, S. 78. - Briefband I, S. 37, 45; II, S. 23-25, 27, 337; III, S. 233.

Krankheit in der Familie

Verheiratet mit Anna Schulthess seit 1769, hatte Pestalozzi auf dem Neuhof im Aargau sein richtiges Wirkungsfeld gefunden. In der Gemeinde Birr erstand sein Neubau, der Besitzer bewirtschaftete sein landwirtschaftliches Gut. Der ohne Vaterleitung aufgewachsene junge Mann gründete schon 1774 eine Armenanstalt für Waisen- und Bettlerkinder, verband damit einen Betrieb der Hausindustrie, der durch Weben und Spinnen den Unterhalt der Anstalt mitbegründen sollte. Zusammen mit seinem Bruder Baptist besorgte damit Heinrich Pestalozzi ein Projekt von Entwicklungshilfe im eigenen Vaterland, das aber nur mit Zuschüssen von befreundeter Seite sich finanziell erhalten konnte.

Im Jahr 1780 erfolgte ein frühzeitiger Zusammenbruch des Unternehmens, aber nicht in erster Linie durch mangelnde Fähigkeit des Leiters, sondern durch Unterschlagung des als technischer Mitarbeiter beschäftigten Bruders Baptist. Mit dem Erlös eines grössern Landverkaufs, sowie mit unrechtmässigem Kapital, auf den Namen des Schwagers Jakob Schulthess aufgenommen, floh Baptist in die weite Welt und ist dort verschollen.

In seinem hat Pestalozzi diese Ereignisse beschrieben: "Mein Versuch scheiterte auf eine herzzerschneidende Weise. Ehe ich mich versah, steckte ich in unerschwinglichen Schulden, und der grössere Teil des Vermögens und der Erbhoffnungen meiner lieben Frau war gleichsam in einem Augenblick in Rauch aufgegangen." Der Zusammenbruch wirkte sich als schwerer Schock für Heinrich Pestalozzi, wie für seine Frau Anna aus, war der Ausgang in eine schwere Notzeit, in welcher die Familie kaum über das tägliche Brot verfügte.

Pfarrer Rudolf Schinz, ein Jugendfreund, der auch schon für die Armenanstalt Gelder gesammelt hatte, half nebst Verwandten und andern Freunden. In einer ersten biographischen Nachricht über den Bedrängten schrieb er: "Er [Pestalozzi] war in solche Gefahr seines Vermögens und seines ehrlichen Namens gekommen, dass er nur durch völlige Nachsicht seiner Gläubiger und mit Hilfe und Unterstützung seiner Freunde vor Verzweiflung und Untergang zu retten war. Er war in der dringendsten Not und hatte gar oft in seinem sonst anmutigen Landhause weder Geld noch Brot noch Holz, sich vor Hunger und Kälte zu schützen. Dazu kam noch eine langwierige Krankheit seiner Frau. Druck und Unterdrückung, Zertretung von innen und aussen."

Nach der Aufhebung der Armenanstalt musste das Fabrikgebäude an den Schwager Heinrich Schulthess verkauft werden. Der Rest des Landgutes wurde von einem Pächter betreut, das Ehepaar Pestalozzi war ohne viel Betätigung. Zwar hatte der grosse Erfolg des Romans zunächst über die schlimmste Zeit hinweggeholfen, aber der Ertrag dieses Werkes war in schlimmerem Sinne. So ist es nicht zu verwundern, wenn Heinrich und Anna Pestalozzi einer körperlichen und seelischen Depression verfielen, die Gattin in verstärktem Masse.

Durch Überanstrengung bei den vielen Anstaltskindern, durch den Schock in ihren Beziehungen zur eigenen Familie Schulthess schwer beeinträchtigt, fand sie auswärts den Weg. Die früh verwitwete Gräfin Franziska Romana von Hallwil lud sie immer wieder zu längerem Aufenthalt auf ihr Schloss ein und gewährte ihr dort Zuflucht. Sie fand dort Linderung von ihrem Gallen- und Faulfieber, das sie schon 1779 ergriffen hatte, wie von ihrer seelischen Depression. Dort begegnet sie auch alten Freundinnen aus Zürich, wie Dorothea Usteri, Bäbe Schulthess, Anna Magdalena Schweizer-Hess. Doch blieb sie fortan kränklich, was gewiss auch durch den Kummer um ihren Sohn entsprang. Sie konnte ihren Mann 1798 nicht nach Stans begleiten, auch blieb sie lange Zeit seinem Wirken in Burgdorf fern.

Heinrich Pestalozzi war durch Krankheit weniger ergriffen, wenn er freilich auch nach dem Zusammenbruch von 1780 wieder, und zwar im Lauf der nächsten zwei Jahrzehnte stark, unter psychischen Depressionen litt. Im August 1781 schrieb er seinem Freund Rudolf Schinz: Er musste wissen, dass auch Pfarrer Schinz nur über eine angegriffene Gesundheit verfügte; Schinz ist denn auch schon im Jahr 1790 im Alter von nur 45 Jahren gestorben. Wie schon auf dem Neuhof die Anstaltskinder, so behandelte der Arzt Joh. Franz Keller auch den Schriftsteller vom Neuhof, sodann auch dessen erkrankten Sohn Jakob.

Lit. Briefband III, S. 120, 433f., 481, 488, 550. - Werkband IX, S. 187, 582f. - K. Silber, Pestalozzi-Studien, neue Folge, Band IV, 1932, S. 80ff. - Zürcher Taschenbuch, 1969, S. 99-100.

Der Sohn Jakob Pestalozzi (1770-1801)

Während fast zwei Jahrzehnten suchte Pestalozzi nach dem Verzicht auf die Anstalt auf dem Neuhof sein Leben als Schriftsteller, als Politiker, als Kaufmann neu zu gestalten, bis er endlich im Lauf der helvetischen Revolution 1798 eine neue, endgültige Aufgabe fand. Umsonst suchte er einen Wirkungskreis in der Schweiz und in Oesterreich, in Frankreich und in Dänemark. Zu wenig beschäftige ihn die Fortsetzung der Hausindustrie im Neuhof, im Auftrag eines befreundeten Fabrikanten in Wildegg. Auch seine Leitung einer Textilfirma in Fluntern bei Zürich 1796 bis 1798 befriedigte ihn ungenügend.

Schon in seinen Brautbriefen hatte der junge Mann sich in den Worten: Heil mir, dass ich leide! eine philosophische Begründung für seine Ergebenheit in ein auch unwillkommenes Schicksal kundgetan. Eine ähnliche Meinung drückte er auch 1785 dem liebsten Schwager Pfarrer Kaspar Schulthess gegenüber aus: "Freund, wir alten. Auch ich bin schwere Wege gegangen, und meine Bahn ist noch jetzt nichts weniger als Spass. Aber wir wollen uns doch unser Leben nicht noch durch Verdacht und Anschuldigungen von Fehleren, die nicht da sind, noch schwerer machen, als es ist." Bald sollte das Schicksal des Sohnes die Eltern vor die drückende Frage stellen, ob sie durch falsches Verhalten daran schuld seien.

Der 1770 geborene Jakob, nach Rousseaus Vorbild auch etwa Jacques geheissen, war im Dorfe Birr ohne viel Schulung aufgewachsen; er erwies sich zwar als zutraulich und voll guten Willens, war jedoch geistig schwer beweglich und lernte nur mühsam. Zum Aufholen kam er vom Herbst 1783 bis zum Jahresbeginn 1785 in ein Institut zu Mülhausen im Elsass, trat dann eine kaufmännische Lehre im Geschäft Battier zu Basel an. Wohl im Zusammenhang mit der Pubertät erkrankte er daselbst; nach damaligem Sprachgebrauch wurde sein Leiden als Gichter bezeichnet, doch hat man auch schon von epileptischen Krämpfen gesprochen.

Die Eltern mussten sich fragen, als der Sohn 1787 nach Hause zurückkehrte, ob sie durch harte Erziehung oder durch mangelnde Behütung an der Erkrankung schuld seien. Die Mutter glaubte wohl mit Recht, dass die vererbte Sensibilität ihres Mannes sich hier pathologisch-negativ auswirke. Beim Vater war die Erregbarkeit eine gebändigte geniale Anlage, die er selbst mit dem oft wiederholten Spruch ausdrückte: Ich bin durch mein Herz, was ich bin. Wohl ein starker Schrecken, vielleicht eine geschäftliche Aufregung.

In einer Ode an Frau von Hallwil hat Pestalozzi die Rückkehr des Sohnes in sein Vaterhaus drastisch geschildert. Seine Not auf dem Neuhof beklagend, den befreundeten Kaufmann Battier und den behandelnden Arzt Dr. Koller anklagend, hat der Vater mit seinem Schicksal gehadert:

Wie ergriff mich der Schauer
als er entstellt, zerrissen,
sich selbst nicht mehr,
und verheerendem Tod entgegengehend,
zurückkam aus des Mans Händen,
der sich selbst betrogen
und mich unglüklich machte
durch das hohe Unrecht
der Gewaltthat
selber in seiner Lieb!

Der Vater musste seinen Sohn der Mutter und deren treuer Gehilfin überlassen, zürnte dem hilfreichen Arzt, der mit seinem keine Heilung schaffen konnte.

Mit welchen Gefühlen
betratt ich dann das von mir
selber verlassene Haus,
in dem das leidende Weib
mit der liebenden Magd
den bluthenden Jamer
also allein trugen!
Wie lehrten mich meine,
wie lehrten mich ihre Leiden
glauben und beten!

In seiner Ode erzählt Petsalozzi sodann, wie es ihm einmal gelungen sei, den Ansturm des Leidens zu dämpfen, die Krämpfe zu mildern. Durch gläubiges Gebet wie durch suggestive Einwirkung gelang es, das Schlimmste zu bessern und dem Kranken Linderung zu verschaffen. Dem traurigen Vater übermachte der junge Pädagoge von Fellenberg einmal ein Geschenk, um ihn durch Trost wieder aufzurichten. Andere Freunde rieten zum Behandeln mit Magnetismus, da Battiers Schwager Jakob Sarasin wie die Frau von Pfarrer J.C. Lavater Besserung durch solche Heilversuche erfahren hatten. Doch konnte sich eine derartige Therapie vielleicht bei nervösen Leiden, nicht aber bei Jakobs Epilepsie heilsam auswirken.

Mit dem Abklingen der Pubertät trat ein Stillstand der Krankheit ein, aber keine völlige Heilung. Man durfte es wagen, dem Sohn 1790 die Verwaltung des Landgutes Neuhof zu übereignen, unter geeigneter Mithilfe. Die Mutter vermittelte dem Sohn sogar eine Ehe mit der befreundeten Anna Magdalena Fröhlich aus Brugg. Schon im Jahre 1801 schied Jakob, sich nie mehr ganz erholend, frühzeitig aus dem Leben. Der Vater hatte unterdessen zuerst nach dem Vorbild Rousseaus zwei Meilen vom Neuhofe entfernt, eine Ermitage bezogen, um seiner Arbeit zu leben, wirkte sodann in Burgdorf, als das Lebenslicht seines einzigen Sohnes erlosch.

Lit. Briefband II, S. 226, 488, 495. - Werkband XXI, S. 167-169, 190-196, 400, 404.

Die Erholung auf dem Gurnigel

Zu Anfang Dezember 1798 reiste Pestalozzi von Luzern, wo er einige Zeit den Posten eines Redaktors des helvetischen Volksblattes bekleidet hatte, nach Stans im Kanton Nidwalden, um dort den durch die Kämpfe der Franzosen gegen die aufständischen Bewohner verwaisten Kindern beizustehen. Gegen Mitte Januar 1799 konnte das dortige Waisenhaus eröffnet werden, am Anfang hielten sich 45 Kinder darin auf, deren Zahl zeitweise auf 60-80 anstieg. Wegen der Kriegsereignisse in der Ostschweiz, wo die französische Armee vorübergehend gegen die Russen und Oesterreicher den Kürzern zog, musste das Heim am 8. Juni aufgehoben werden, da man darin ein Spital für Verwundete und Kranke einzurichten plante. Während dieser fünf Monate betreute der Leiter allein die Kinderschar, nur für den Haushalt von einer Hilfe unterstützt. Es war nicht nur die Sorge für die anvertrauten Jugendlichen, die den Helfer beseelte, sondern zugleich auch die Möglichkeit, seine Gedanken für eine neue Lehrweise an denselben auszuprobieren. Nicht zu verwundern ist deshalb, dass er einige Zeit der Erholung bedurfte.

Nach einer unbelegten Quelle hat H. Morf ausgesagt, dass seine über alles Mass gehende Anstrengung ihm nicht nur grosse Ermattung, sondern auch Blutspeien zugezogen habe. H. Ebstein hat daraus den Schluss gezogen, dass eine Lungenkrankheit (wieder) ausgebrochen sei, und W. Schäfer hat in seinem Roman , 1915, S. 26, darauf angespielt. Von Stans nach Bern reisend, hat sich Pestalozzi daselbst nur kurze Zeit aufgehalten, erholte sich dann im Bad Gurnigel im Haus eines Freundes. Pestalozzi hat in seinem Buche , 1801, Werkband XIII, S. 188f., von seinen Bemühungen um den Unterricht und die Erziehung der grossen Kinderschar erzählt und auch berichtet, welche Gefühle ihn beim Abschied von Stans übermannten (S. 191, Z. 13-38).

"Wenn ein Schiffbrüchiger nach müden, rastlosen Nächten endlich Land sieht, Hoffnung des Lebens athmet, und sich dann wieder von einem unglücklichen Winde in das unermessliche Meer geschleudert sieht, in seiner zitternden Seel tausendmal sagt: Warum kann ich nicht sterben? - und sich dann doch nicht in den Abgrund hinabstürzt, und dann doch noch die müden Augen aufzwingt, und wieder umherblickt, und wieder ein Ufer sucht, und wenn er es sieht, alle seine Glieder wieder bis zum Erstarren aufzwingt, also war ich... Denke Dir das alles, denke Dir mein Herz und meinen Willen, meine Arbeit und mein Scheitern, mein Unglück und das Zittern meiner zerrütteten Nerven und mein Verstummen - so war ich...

Ich fand am Gurnigel Tage der Erholung. Ich hatte sie nöthig: es ist ein Wunder, dass ich noch lebe. Aber es war nicht mein Ufer; es war ein Stein im Meer, auf dem ich ruhete, um wieder zu schwimmen. Ich vergesse diese Tage nicht... so lang ich lebe; sie retteten mich, aber ich konnte nicht leben ohne mein Werk."

Es ist nicht anzunehmen, dass sich Pestalozzi in den fünf bis sechs Wochen Ferien, die er auf dem Gurnigel erlebte, so rasch von einem Ausbruch der Tuberkulose hätte erholen können. In einer Tag und Nacht andauernden Überbelastung, durch die Umwelt und durch seine Methode zu sehr beansprucht, hatte er seine Kräfte erschöpft. Während alle Welt die Katastrophe des Dorfes Stans bedauerte, hatte er in Luzern sein Amt aufgegeben und war den Waisen und Bedrängten zu Hilfe geeilt.

Ihrerseits beeilte sich nun die helvetische, nach Bern übergesiedelte Regierung, allen voran die Minister Stapfer und Rengger, ihm ein neues Wirkungsfeld aufzutun. In der nahen Stadt Burgdorf schien der Boden für den originellen Pädagogen und seine asuzubildende Lehrart günstig. Schon am 23. Juli fasste die Regierung den Beschluss, ihn dorthin auch zur Gründung eines Lehrerseminars zu entsenden, und gegen Ende Juli 1799 dürfte Pestalozzi daselbst eingetroffen sein.

Lit. Allg. Deutsche Biographie, Bd. XXV, S. 449f. - H. Morf, Pestalozzi, Band I, S. 194f. - A. Heubaum, Pestalozzi, 3. Auflage 1929, S. 187. - A. Israel, Pestalozzi-Biographie, Band I, 1903, S. 134ff. - Werkband XIII, S. 188ff., 491 ff., 522ff.

Der Unfall von Cossonay im November 1804

Zweimal, mit 58 und 66 Jahren, hat Pestalozzi einen Unfall erlebt, im ersten Fall in einer dunklen Novembernacht des Jahres 1804. Er hatte sich für einige Zeit aus dem Schloss Yverdon zurückgezogen und lebte in dem waadtländischen Dorf Cossonay mit seinem Sekretär H. Krüsi wie in einer Art Urlaubszeit seinen schriftstellerischen Arbeiten. H. Krüsi und J. von Muralt haben über sein Erlebnis berichtet. In einigen Schreiben an Frau Oberherrin von Hallwil und die bei ihr befindliche Gattin, sowie an Niederer und Ph.E. von Fellenberg hat Pestalozzi vom Hergang erzählt und zugleich dargetan, welche Folgen der glückliche Ausgang für sein körperliches und seelisches Befinden nach sich zog.

Auf dem nächtlichen Heimweg von Lausanne nach dem Dorf Cossonay gingen die beiden, Pestalozzi und Krüsi, eine Anhöhe hinauf, als ihnen leere Weinfuhren in raschem Lauf entgegenkamen. Pestalozzi geriet zwischen die Pferde, und die Deichsel riss ihn zu Boden, indem sie seine Kleider bis auf den blossen Leib zerriss. "Eine Kraft, die ich in mir nicht kannte, nicht einmal ahndete, [gab] mir Gewalt, mich mit der Schnelligkeit des Blitzes zu retten. Ich klammerte mich, auf allen Vieren liegend, mit den Händen in den Boden, schoss wie eine Katze unter dem Bauch der laufenden Pferde auf die Seite des Wagens und hatte meinen ganzen Leib vom Scheitel bis auf die Zehen unter den laufenden Pferden weg, eh die Räder, die dem Fuss der Pferde folgten, mich erreichen konnten."

Der Vorfall hat Pestalozzi körperlich neu belebt und seinen Geist stark reifen lassen. Gewiss gab er Gott die Ehre, von einem Schaden verschont worden zu sein. Aber er sah in dem Erlebnis auch Anlass zur Neubesinnung, wie zu einer bedeutsamen Änderung seiner Lebensweise.

"Das Gefühl der Kraft, die in diesem Augenblik in mir lag, gab mir wieder Glauben an mich selbst. Ich hatte ihn verlohren, ich glaubte die Kräfte meines Geistes und den Lebensstoff meines Leibs durch Nervenschwäche unwiederbringlich untergraben, ich fürchtete, kindlich zu werden in kurzem. Entsezen ergriff mich by diesem Gedanken; meine einzige Hoffnung war der Tod, eh das andere Übel, das mir allein förchterlich war, aber das ich gewiss glaubte, eintrette..."

"Liebe Frauen, ich kene mich selbst nicht mehr; eine solche Würkung hatte dieser Zufall auf mich. Es ist eine Ruh über mein ganzes Syn verbreitet, die ich durch mein Leben nicht kandte und die mich so glüklich macht, als ich durch mein Leben nie war. Der Einfluss dieser Ruh auf meinen Körper ist so gross, dass ich alles entbehren kan, was ich vorher mir in einer wahren oder geahndeten Schwäche unentbehrlich glaubte. Ich hatte mich sint Stanz an vast täglichen Caffe, an meine Bouillon à la reine gewohnt und fand mich täglich drei bis vier mal so öde, dass ich vast alle Mittag eine Stund vor dem Essen in der Küche einen Teller Suppe suchte und im Tag oft drei bis vier Mahl ein Schluck Kirschenwasser mir nothwendig glaubte. Ich wusste, dass es mich noch schwächer machte, als ich schon war; aber ich hatte so wenig Gefühl meiner Selbstkrafft, dass ich es nicht mehr möglich glaubte. Jez bin ich so voll sicherer Empfindung ungeschwächter Krafft, dass ich das alles entbehre; von Bouillon à la reine ist keine Rede mehr, ich esse alle Morgen Habersuppe; so lang ich in Yverdon bin, habe ich keine Nussschale Kirschenwasser gesehen, will geschweigen getrunken. Es ist mir noch kein Mahl in den Sin gekomen, einen Löffel Suppe vor dem Essen zu begehren, und des Nachts gehe ich gewöhnlich mit einer Suppe ins Beth. Alles, was im Haus geschiht, macht keinen Eindruk auf mich..."

Mit den Jahren verblasste freilich die Wirkung des Unfalls in seelischer Hinsicht allmählich. Mit bald über sechzig Jahren sah sich Pestalozzi noch weit von der Vollendung entfernt, auch nachdem er 1801 bis 1807 seine Methode auf geistige, religiöse, sittliche und beruflich-körperliche Belange bezogen in einzelnen Schriften asgearbeitet hatte. Daher konnte es später geschehen, dass er durch Geschehnisse im Institut doch wieder seelischer Depression anheimfiel.

Lit. Briefband IV, S. 230-232, 615. - H. Morf, Pestalozzi, Band III, 1885, S. 102-104. - H. Schönebaum, Kennen, 1937, S. 20-22. - K. Würzburger, Der Angefochtene, Zürich 1940.

Labile Gesundheit

Stets war sich Pestalozzi des Umstandes bewusst, dass seine Gefühlswelt einen wesentlichen Wesenszug bei ihm ausmachte. Um 1805 hat er den Auspruch getan: (Werkband XVIIA, Seite VI). Wiederholt hat er auch gesagt, dass Aufregungen und Emotionen ihn krankfühlend gemacht hätten. Wir können heute an seiner Korrespondenz oder an Mitteilungen aus der Umwelt leicht feststellen, wie ihn psychische Umstände bedrückt haben. Nur dass er gehabt hätte, nehmen wir seiner übergrossen Bescheidenheit nicht ab, so wenig wie der Sage von seiner Unbrauchbarkeit.

In den Briefbänden von 1807 bis 1808 fällt auf, wie häufig Heinrich Pestalozzi vom Sterben, vom Grab spricht, während er manchmal im selben Briefe von seiner guten Gesundheit redet. Der Anlass dazu dürfte der Hinschied des in Leipzig lebenden Schwagers Christian Gottlob Grosse gewesen sein, der am 19. März 1807 gestorben ist. In einem Kondolenzbrief an seine Schwester Barbara Gross (1751-1832) schreibt er, indem er die depressiv Veranlagte tröstet:

Liebe Bäbe, Dein jammer über Deine Schwäche macht mir Müh. Ich bin auch alt, auch mich hat der nahende Tod mit seinen kalten Armen ergriffen, auch ich schwache, Gedächtnis und das Feinere aller Sinnen ist dahin. Aber es gibt eine Alterskraft, die mitten in der Schwäche des Alters wahre Kraft ist. Auch Du hast sie, liebe Bäbe, vielleicht mehr als ich; Du verdienst sie mehr zu haben als ich, und Gott gibt dem Menschen, was er würklich verdient, ganz gewüss."

An den befreundeten helvetischen Minister, der seit 1803 in Frankreich als Privatgelehrter lebte, schrieb Pestalozzi am 7. Juni 1807: Im selben Brief aber verschwieg er seine Sorge um den Ausbau seines Werkes nicht:

Dem Freunde Wilhelm von Türk in Norddeutschland schrieb er in ambivalentem Sinn mehrfach, um sein nahes Lebensende plausibel zu machen und den Adressaten zum Kommen nach Yverdon zu bewegen: Im selben Schreiben aber zeigt er sich zuversichtlich: (8. Sept. 1807) Mit dem Blick auf die noch unfertige Berufsbildung nach der neuen Methode gibt er seinem Vertrauen auf die Freunde Ausdruck: "Die Schritte, die dieser Zweck fordert, sind gross, und ihr Ziel ist jenseits meines Grabes... Ach, mein Alter schien mich den ersten Endzweck meines Lebens hoffnungslos meinem Grab nähern zu machen; ich durfte kaum auf das Keimen meiner Saat rechnen. Jetzt ist hinter meinem Grabe bis zu ihrer Reifung durch das Dasein meiner nächsten Freunde gesichert." (Ende 1807)

Als von Türk dann wirklich seine Mitarbeit zusagte, atmet Pestalozzi tief auf: (20. Januar 1808)

Besonderen Anlass hatte er dort, wo befreundete Helfer ihm Beistand leisteten, wobei die Hilfe nicht auf die Dauer gesichert werden konnte. Dem Gönner Amoros schrieb er im Januar 1808, als das Unternehmen in Spanien für kurze Zeit zu einer ausserordentlichen Blüte gelangte: "Ich dachte bald, es wäre jez Zeit zu sterben, damit ich nicht wieder verliere, was ich jezo besize. Ich kan nicht wohl glüklicher werden, als ich jez bin; aber es könte mir wohl begegnen, dass ich nach so viel Glük das Unglük nicht mehr so wohl tragen könte, als ich es ehmahl habe tragen könen."

In einem Zeitpunkt, wo er sich selbst als bekannte (8. März 1808), konnte er einem Vater von Zöglingen, Dr. Lejeune in Frankfurt a.M., sagen:

Der tüchtigen Leiterin seiner Töchteranstalt bekannte er noch im November 1808: "Der Einfluss, den Du auf mein Thun haben kannst und haben wirst, und dessen Kraft Gott so rein und so hehr in Dich gelegt hat, ist ein Trost meines Todbetts, der dem Trost gleicht, den der Einfluss der edelsten und besten meiner Söhne diesem Todbett gewährend wird."

Man hat schon gewähnt, Pestalozzi kokettiere mit Tod und Grab, wenn er häufig darauf verwies. Vielmehr liegen diese Gedanken als Gegenstück zum hohen Bewusstsein in seiner Seele. Schon früh hat er an sein Lebensende gedacht, schon vor 1800, als er fast nicht mehr hoffen konnte, seine Idee der Elementarbildung zu verwirklichen. Er mahnt mit den Hinweisen auf sein Grab die Mitmenschen, ihm die fehlende, dringend benötigte Hilfe zu gewähren.

Zu noch ungewöhnlicheren, drastischen Mitteln griff Pestalozzi in der Neujahrsrede von 1808, als Unstimmigkeiten ihm in der Leitung seiner Anstalt Mühe bereiteten. Die frohe Schaffensfreudigkeit der Anfangszeit von Yverdon war durch Überheblichkeit der Lehrer bedroht. Erfüllt von überhöhtem Selbstbewusstsein blickten manche Lehrer auf den bescheidenen Meister herab, der wohl im Reden recht ungestüm, im manuellen Handeln manchmal unvorsichtig sein konnte. Besonders J. Niederer drang auf theoretische Vollendung der Methode, während Pestalozzi, in Furcht vor der Vergänglichkeit seines Alters, seine Pläne mit Leidenschaft auch unvollkommen in die Wirklichkeit umsetzen wollte.

Um dem schweren Jammer einen überquellenden Ausdruck zu verleihen und um die Mitarbeiter zur Besinnung zu bringen und sie in gefühlsmässiger Bewegtheit zu erneuter äusserster Anstrengung mitzureissen, liess er am Neujahrstag 1808 den Schädel einer Freundin und seinen eigenen Sarg vor der versammelten Hausgemeinschaft aufstellen und erreichte damit eine neue Geschlossenheit der leitenden Personen.

Lit. Briefband V, S. 256f., 258f., 280, 303f. - VI, 3, 10, 16, 32, 54, 103, 334. - Werkband XXI, S. 3f., 390.

Die Prüfung der Anstalt von 1809 und ihre Folgen

Aus allen Berichten über Heinrich Pestalozzi geht hervor, dass er mit seiner starken Gefühlswelt dem Einfluss der Umwelt, seinen Erlebnissen stets ausgesetzt war. So hat Rosette Niederer Kasthofer, die Leiterin der Töchteranstalt in Yverdon, 1846 ihn geschildert:

Vielseitig von Freunden darin bestärkt, glaubte Pestalozzi im Jahr 1809 einen gewissen Höhepunkt erreicht zu haben, nachdem er die einzelnen Seiten seiner Methode in (nicht immer gedruckten) Schriften ausgebaut hatte, zuletzt auch die beruflich-körperliche Bildung. An der zweiten Tagung der von ihm geleiteten Erziehungsgesellschaft in Lenzburg hielt er eine zusammenfassende Rede, und im November weilte eine dreiköpfige Kommission der eidgenössischen Tagsatzung in Yverdon. Ihr Urteil ging dahin, dass es nicht gegeben sei, Pestalozzis Methode in allen Schweizer Schulen zu erproben.

Dieser in der Hauptsache negative Ausgang brachte auch die Gesundheit Pestalozzis ins Wanken. Von Enttäuschung erschüttert, erlahmte er in seiner Spannkraft. Es gibt fast keine persönlichen Briefe aus diesem Zeitabschnitt. Gelegentlich liess er durch Mitarbeiter seine Korrespondenz führen, fügte am 27. Februar 1810 einem Briefe Krüsis an J.C. Oser in Basel den Zusatz bei: Während neun Wochen konnte er im Winter 1809 auf 1810 das Haus nicht verlassen. Man darf an eine längere Grippe denken, doch lässt sich auch annehmen, dass die starke Kritik des Instituts eine psychische Schwächung seiner Widerstandskraft bedeutete.

In gewohnter Weise hat sich Pestalozzi allmählich wieder aufgefangen. Er verfügte intern eine Prüfung seiner Klassen, hielt eine grössere Anzahl von Reden und liess sich auch schriftlich vernehmen, wobei offen bleibt, ob seine Stellungnahme zum Bericht der Tagsatzungs-Kommission wirklich den Landammann D'Affry in Freiburg erreicht hat. Als sich der gedruckte Bericht von Pater Girard über Yverdon negativ auswirkte, indem er Gegner zur Kritik ermunterte, wie Halls, Hottinger, Bremi, griff er auch öffentlich in die Diskussion ein.

Die Anstaltssorgen drückten umso mehr, als auch Frau Anna Pestalozzi dauernd kränklich blieb. Dem alten Mitarbeiter und Freund E. Mieg konnte er am 27. September 1811 den folgenden Stand melden:

Schon im Januar 1811 zuvor hatte er dem alten Freund, Staatsrat J. Nicolovius in Berlin, von seinem Ergehen Mitteilung gemacht. Nicht nur durch vermehrten Einsatz im Institut, sondern auch in schriftstellerisch ergänzender Tätigkeit fand er wieder Genesung und neuen Aufschwung: ... Ich arbeite jetzt an einer zweiten Darstellung meiner Ideen, die ich für wichtiger halte als meine [von Niederer überarbeitete, nicht ganz befriedigende] Lenzburger Rede, und bin ganz in Staunen über diese Arbeit vergraben. Das Abnehmen meiner Kräften durch mein Alter zeigt sich vorzüglich dadurch, dass ich mich gleichsam von der ganzen Welt scheiden muss, wenn ich einen auch nur unbedeutenden Gegenstand in seiner Umfassung festhalten will. So stark alte ich, aber ich danke Gott, dass ich es noch vermag, und bitte ihn um ruhige Stunden, ohne die mein Leben ein blosser Wirbel würde, der zu nichts mehr frommte." Pestalozzi konnte nicht ahnen, dass seine Altersperiode durch vielfache Störungen gekennzeichnet war, zunächst durch einen Unfall, sodann durch Auseinandersetzung mit ältern Lehrern im Hause; dieser langjährige Streit mündete in eine Alterstragödie aus.

Lit. Briefband VII, S. 198f., 331. - Werkband XXIII, S. 399. - Pestalozziblätter 1902, S. 15f., 21f. - H. Schönebaum, Kennen, 1937, S. 29-30. - Zentralbibliothek Zürich, Mscr. Pestal., Briefumschlag 1 und 4.

Augenschwäche

Als Pestalozzi im Alter von gegen 70 Jahren stand, hören wir von einem Augenleiden, das sich zunehmend bemerkbar machte. An seine Frau Anna, sowie zugleich an Lisabeth Krüsi-Näf, die wegen der Finanznot seit dem Frühjahr 1814 auf den Neuhof verbannt waren, richtete Pestalozzi tröstende Briefe. Er betonte darin, dass er sich die Hausgewalt in Yverdon nicht länger rauben lasse, nachdem ein Interimsregiment eines Verwalters und einer Haushälterin, durch das Ehepaar Niederer eingesetzt, sich sehr schlecht bewährt hatte.

In diesem Sinn schrieb er um Mitte Januar 1815 den beiden Frauen: "Meine Augen nehmen ab, aber ich bin nicht blind; ich sehe und wünsche, dass ihr bald wieder by mir. Es ist wunderbar, dass man mir jez auch wieder vorwirft, ich gebe denen, die regieren sollen, die nöthige Gewalt nicht. Ich werde es nie thun, denn ich will immer und auch jez selbst regieren, und umso mehr, weil es jez besser geht als je... Alles sehnt sich nach Euerer Rükkomfft. Ich bin sehr gesund und mehr als je voll Hoffnung und lasse den Gewalt gewüss nicht ausser meinen Handen."

Auch in der Neujahrsrede von 1815 beklagte sich Pestalozzi über mangelnde Unterstützung durch manche Lehrer, worüber besonders das Ehepaar Niederer unwillig wurde. Bezug nehmend auf seine abnehmende Sehkraft, hat der nunmehr 70 Jahre alte Greis sich in einem Schreiben ungefähr vom Januar 1816 wiederum über fehlende Hilfsbereitschaft von Mitarbeitern beklagt, womit in erster Linie der Briefempfänger, der Hauptlehrer Johannes Niederer, gemeint war:

Nachdem die früheren Lehrer Krüsi, Niederer und andere sich aus ihrer Tätigkeit bei Pestalozzi zurückgezogen hatten, nachdem sich durch sie Konkurrenzinstitute in Yverdon entwickelten, liess der Leiter durch seinen Enkel Gottlieb Pestalozzi-Schmid auf dem Neuhof ein Gebäude ausbauen, worin er einen Teil seiner Anstalt abzweigen und ansiedeln wollte. Freudig berichtete der Enkel vom Ausbau des neuen geplanten Heims, dessen Fertigstellung sich freilich lange hinauszögerte. Mit dem Blick auf höhere Wirksamkeit, für schöne Wohnlichkeit wenig Interesse zeigend, antwortete ihm Pestalozzi am 7. Dezember 1822:

Wenn man 80 Jahre alt und bynahe halb blind ist, und in Neuenhoff so lang in allem Kath und Dreck gelebt hat, so achtet [man] eine schöne Stube nicht mehr für gar viel.

Aus Paris liess sich Pestalozzi in diesen Jahren eine neue, stärkere Brille kommen, die nachher aus dem Nachlass Henning an das Pestalozzianum zurückkam. Doch war die Hilfe dadurch nur beschränkt wirksam, weil der sehr viel mit den Schreibarbeiten Beschäftigte wohl sein Augenleiden mindern, aber nicht beheben konnte. Ohne dass wir Genaueres wissen, ist doch festzustellen, dass eine starke Sehbehinderung vorhanden war, die sich dauernd auswirkte. Im Anhang unserer Arbeit drucken wir teilweise graphologische Gutachten ab, denen wir Reproduktionen von Schriftstücken beigeben, welche die Abnahme des Augenlichts drastisch dartun.

Im Unterschied zu vielen Altersgenossen bewahrte Pestalozzi auch in der Spätzeit ein gutes Gehör. Doch häufen sich gerade nach den Aufhebung seines Instituts im Frühjahr 1825 seine Klagen über der schlechten Augen. Der noch mit einer Anzahl Schülerinnen in Yverdon zurückgebliebenen Lehrerin Marie Schmid gab er im April 1825 seine Weisungen und fügte bei:

Noch im selben Sommer entsandte er seinen Hauptlehrer Joseph Schmid ins Ausland, damit er ihm in Frankreich und England den Boden für eine Fortsetzung oder Auswirkung seiner Methode daselbst bereite. Er fügte am 28. Juli einem Brief an den in London befindlichen Schmid bei:

[Zitat fehlt]

Auf dem Neuhof, wo Pestalozzis seine beiden letzten Lebensjahre verbrachte, genoss er die Hilfe seines langjährigen Sekretärs A. Steinmann weiter. Falls der Greis etwas selber niederschreiben wollte, musste er dabei sitzen und den Schreibenden mahnen: Tupfen! Tupfen! weil der Halbblinde manchmal nicht achtete, dass seiner Feder die Tinte ausgegangen war. Die letzten Zuschriften an Ph.E. von Fellenberg und Eduard Biber, in Werkband XXVIII erstmals gedruckt, sind denn auch heute nicht gänzlich entzifferbar.

Dem befreundeten Bürgermeister J. Herzog in Aarau fügte Pestalozzi im Schreiben vom 16. Dezember 1825 die Nachschrift bei:

Einem ganz kurzen Brief an den frühern Eleven J.W.M. Henning in Norddeutschland, den er noch eigenhändig abfasste, fügte er am Schluss bei:

Lit. Briefband IX, S. 221. - X, S. 27. - XII, S. 369. - XIII, S. 300, 315, 327, 521. - Nachtragsband Brief 6125a (noch nicht erschienen). - Werkband XXIII, S. 309ff., 458ff. (Neuijahrsrede 1815). - XXVIII (Schriften 1826/27, noch nicht erschienen). - H. Morf, Pestalozzi, Band IV, 1889, S. 383f.

Die Ohrverletzung von 1812

Nach den mannigfaltigen Störungen des Befindens, im Zusammenhang mit der Anstaltsprüfung vom November 1809, trat im Lauf des Jahres 1811 wieder eine Beruhigung ein. Ein anonymer Bericht im Morgenblatt für gebildete Stände, Stuttgart, vom September dieses Jahres weiss zu erzählen: "Pestalozzi baut wieder Felsen auf seine Gesundheit und sagt, er habe sie nie so gefühlt. Er hat, wie man mir sagte, wieder einen gesunden Schlaf, erträgt kleine Excesse in der Nahrung und grosse im Arbeiten. Nach fünf Uhr - er isst spät zu Mittag - bringt er einen Theil des Abends bei Herrn T[ransehe] aus Russland zu, den er unendlich zu lieben und zu schützen scheint."

Auch die Neujahrsrede von 1812 brachte zum Ausdruck, dass ein Kampf zur Rettung seines Werkes in der Kriegszeit gelungen sei. Unmittelbar nach dem Geburtstag wurde Pestalozzi Opfer eines Unfalls, dessen Folgen sich lange hinauszogen und sogar lebensgefährliche Form annahmen. Mit einer Stricknadel im Ohr bohrend, verletzte er sich durch Anstossen an einem Ofen gefährlich. Die anschliessende Entzündung wollte lange nicht heilen, sodass die besorgte Umwelt ein Gutachten der Ortsärzte Olloz und Flaction am 30. Januar an Dr. Rengger in Lausanne und Dr. François Isaac Meyer in Genf abgehen liess; der letztere kam sogar am folgenden Tag nach Yverdon und gab beruhigende Auskunft.

H. Krüsi, der sich wie eine Kindbetterin des Kranken annahm, hat einen ausführlichen Bericht hinterlassen. Wir zitieren daraus einige Stellen, so vom 30. Januar: "Anfangs machten wir uns nicht viel daraus, denn er selbst spasste darüber, und wir desgleichen. Nach mehreren Tagen aber verstärkten sich die Schmerzen in dem verletzten Ohr und in der ganze Seite des Kopfs. Auch eitert die Wunde immer, und das Schlimmste daran ist, dass man nicht dazu kommen und also auch nicht wissen kann, welche Theile verwundet seien und in welchem Grade..."

Dem Bericht vom 24. Hornung entnehmen wir folgende Aussage Krüsis: "Noch geht es unserm geliebten Vater nur wenig besser. Das Ohr fliesst fortwährend, und die Kräfte erhöhen sich nicht. Gestern und vorgestern hatte er zwei gute Tage, und heute schlummert er oft. Von Zeit zu Zeit stellen sich auch die Schmerzen wieder ein, doch weniger heftig wie ehedem..."

"Sein Gemüth ist weit ruhiger und geduldiger, als ich erwarten durfte. Mitunter spasst er mit seiner gewöhnlichen Heiterkeit. Gesprochen darf um ihn her nicht viel werden; es wird ihm gleich lästig, indem ein Ohr kein Geräusch ertragen mag. Ruhe ist sein grösstes Bedürfnis... Unser Vater ist auch in seiner Krankheit merkwürdig. So wie er einen bessern Tag hat, glaubt er sich schnell hergestellt; wenn aber die Schmerzen wieder eintreffen, kömmt ihm sein Zustand über die Massen bedenklich vor. Er wünscht sehnlichst, bald wieder gesund zu werden, um mit erneuerter Kraft seinem Werke leben zu können. Doch sieht er auch dem Tode ruhig ins Angesicht."

An den bessern Tagen suchten die Lehrer ihren Meister durch Vorlesen über die Langeweile wegzubringen. Krüsi las ihm Goethes Götz von Berlichingen vor, wozu Pestalozzi geistreiche Bemerkungen beifügte. Von dem satirischen Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg vernahm er die Fragmente über sein Leben. Niederer meinte, Pestalozzi lese jetzt so viele Romane und Komödien, er werde wohl bald den Roman seines Lebens schreiben, auf die Neigung zu autobiographischen Aufzeichnungen anspielend.

In einem Schreiben vom 21. März äusserte sich der Verwalter L.J. Custer gegenüber D. Esslinger in Zürich zuversichtlich: Doch trat das Leiden noch einmal in eine kritische Phase.

Um einen chirurgischen Eingriff vornehmen zu lassen, reiste Pestalozzi am 28. März nach Lausanne und wollte drei Tage dort bleiben; doch durfte er erst am 10. April heimkehren. L.J. Custer gab darüber an M.A. Jullien Nachricht: "Il est actuellement pour quelques jours à Lausanne, les médecins de cette ville que l'on avoit consultés, désirent eux-mêmes l'observer pendant ce temps. Malgré le mauvais temps survenu il s'y est transporté sans en avoir ressenti aucun mauvais effet; et comme il reprend tout doucement et sans inconvéniant ses occupations accoutumées, nous espérons bientôt le voir libéré de toute affection douloureuse, quoique la fluction, suivant les conjectures des médecins, ne discontinuera pas encore à quelque temps."

Die gefährliche Erkrankung Pestalozzis bewog auch seine Schwester, Frau Anna Barbara Gross in Leipzig, ein einziges Mal in ihrem Leben noch in die Schweiz zurückzukehren, nachdem sie ihren Bruder seit 1792 nicht mehr gesehen hatte. Sie traf im Juni in Begleitung ihrer Tochter Lotte in Yverdon ein und blieb dort gegen drei Monate, bis sie sich am 2. September zur Heimreise aufmachte.

Wahrscheinlich im Mai hatte noch J.W.M. Henning dem preussischen Minister Süvern vom Gesundheitszustand Kenntnis gegeben und zugleich einige interessante Einzelheiten mitgeteilt, welche ergänzend die Krankheit beleuchten:

[Zitat fehlt]

Während annähernd fünf Monaten musste Pestalozzi die Last schwerer Krankheit ertragen, die lebensgefährlich hätte ausgehen können. Doch erfreute er sich hernach eines richtigen Wohlbehagens, zumal das Leiden, wie es in einem Brief H. Krüsis an J. von Muralt vom 1. September 1812 heisst, keine Spur, nicht einmal einen Wettervogel zurückgelassen habe.

Noch während seiner Krankheit, wahrscheinlich im Mai, hatte Pestalozzi zu einer neuen Schrift angesetzt, welche die wegen J. Niederers Umarbeitung nicht mehr ganz befriedigende Lenzburger Rede ersetzen sollte. Er gab dem neuen Opus auch eine bezeichnende Überschrift, wie er seinem alten Mitarbeiter J. von Muralt in Petersburg am 9. Mai 1812 bekannt machte: "Auch von mir kriegst Du bald etwas, das den Titel hat... . Ich habe es während meiner Krankheit geschrieben. Mein Kopf war über diese ganze lange Zeit unbegreiflich heiter; ich konnte, wenn mich nicht Schmerzen untergrabten, arbeiten wie gesund. Das war ein grosses Glück für mich. Wirklich glaube ich, diese Schrift, die in vielen Stellen das Gepräge des Fiebers hat, in dem sie geschrieben worden, seye eine von den besten, die aus meiner Feder geflossen."

Aus dem schon erwähnten Schreiben H. Krüsis an J. von Muralt geht hervor, dass die neue Schrift sich zu einer eigenen Arbeit auswachse. Leider ist uns nicht mehr die ganze Arbeit erhalten geblieben; nur die Aufmerksamkeit Hennings hat einen Teil davon der Nachwelt überliefert.

Noch kann auf eine Auswirkung dieses Werkes im späten Schrifttum Pestlozzis hingewiesen werden. In der Tat ist, wie A. Israel sagt, . Die genannten beiden Schriften sind auch, wie jetzt allgemein angenommen wird, in das Spätwerk von 1826 eingegangen. Doch geht Israels Annahme fehl, er habe den ganzen Teilinhalt nicht mehr in der Zeit verfasst, . Auch wenn einzelne Forscher diese Ansicht übernommen haben, steht doch jetzt fest, dass die Übernahme in den nur in starker Umarbeitung erfolgte, welche eine richtige Geistesfrische Pestalozzis voraussetzte. Gerade die späten Änderungen beweisen, dass der Verfasser durchaus über die nötige Spannkraft verfügte, um die Jugenderinnerungen aus in sein Spätwerk einzuschmelzen.

Lit. H. Morf, Pestalozzi, Band IV, 1889, S. 306, 322, 463, 547. - Pestalozziblätter 1891, S. 57-62. - Ausgabe Seyffarth, Band X, 1901, S. 609f. - A. Israel, Pestalozzi-Biographie, Band I, 1903, S. 463 f. - Pestalozzistudien, Band VI, 1901, S. 157. - K. Riedel, Pestalozzis Bildungslehre, Dresden 1928. S. 208f. - L. Utz, Niederer und Pestalozzi, Diss. Tübingen 1929, S. 100. - Morgenblatt für gebildete Stände V, 1811, S. 222. - Briefband VIII, S. 92f., 384f., 404. - Werkband XXIII, S. 213ff., 448ff. - H. Schönebaum, Ernte, 1942, S. 7.

Typhus

Kurz vor dem Jahresende 1813 hatten die Truppen von Russland und Oesterreich die Schweiz besetzt, und gleich darauf wollte der Führer der österreichischen Armee das Schloss in Yverdon besetzen, um darin ein Lazarett für an Nervenfieber erkrankte Soldaten einzurichten. Pestalozzi hätte das Gebäude räumen, seine Anstalt zeitweise oder ganz auflösen müssen, womit sehr fraglich wurde, ob Eltern und Vormünder nachher bereit gewesen wären, das von infektuösen Typhuskranken belegte Schloss wieder mit ihren Kindern zu besiedeln. Zusammen mit einer Delegation des Stadtrates von Yverdon reiste daher Pestalozzi im Januar 1814 zum Zaren Alexander I. nach Basel, um Einspruch zu erheben. Es gelang ihm, sein Institut vor der Wegweisung zu bewahren, im nahen Grandson am Neuenburgersee fand das Lazarett seine Unterkunft.

Vom Militärspital in Grandson aus verbreitete sich die Typhuskrankheit sporadisch in der Umgebung. Es darf angenommen werden, dass die sanitarischen Verhältnisse ungünstig lagen, auch bei den desorientierten Soldaten ungenügende Hygiene hinzukam. Wir wissen nicht viel, aber doch wohl Entscheidendes über den Zugriff des Nervenfiebers (die alte Bezeichnung für Typhus) auch in Yverdon.

Seinem Freund H.G. Nägeli in Zürich liess Pestalozzi am 5. Juli 1814 ein Schreiben zukommen, das den dort befindlichen J. Niederer von der Hochzeitsreise in die Waadt zurückrufen sollte. Wahrscheinlich hatte auch Pestalozzi damals den Anfall einer Typhuserkrankung, wenn auch in leichterem Masse, zu bestehen. So konnte er an Niederer von seiner unentwegten Pflichthaltung auch bei schwerem Ansturm der Krankheit berichten: "Lieber! Der Krankheitsangriff war sehr stark, ich hette ihm unterliegen könen und bin in Rücksicht auf das Eisenfeste meiner Gesundheit jez avisiert. Ich habe mein Alter und seinen Einfluss auf die Unsicherheit meines Daseyns noch nie so empfunden. Für einmal ist alle Gefahr vorüber, und ich gehe heute nach Neuenburg; by meiner Rükkomft hoffe ich auf Briefe, die den Tag und die Stunde Deiner Ankonft bestimmen."

Es war zweifellos ein kaum zu rechtfertigendes Wagnis, wenn sich Pestalozzi, kaum genesen, zu einer Reise aufraffte, auch wenn sein Weg nicht weit führen sollte. Er hatte aber triftige Gründe, den König von Preussen, Friedrich Wilhelm III., und seinen Minister von Hardenberg in Neuchâtel zu sprechen, wollte politische und pädagogische Ziele erreichen. Das Fürstentum am See, den auch Yverdon berührte, war in den Jahren 1806 bis 1814 französischer Besitz gewesen, und der König wollte die zu Preussen zurückkehrenden Untertanen mit seiner Anwesenheit beglücken. Pestalozzi mochte von dem Monarchen vielleicht einen Einfluss auf die Verfassungsberatungen in der Schweiz und ihren Kantonen erhoffen, noch wichtiger aber war ihm, Preussen ganz und gar auf die Dauer für sein Institut zu gewinnen. Der Lehrer J. Ramsauer hat in seinen Lebenserinnerungen 1846 von der gemeinsamen Reise eindrücklich erzählt:

Wegen allzu vieler Festlichkeiten, wohl auch wegen seiner geschwächten Gesundheit kam Pestalozzi in Neuenburg nicht recht ins Gespräch. Vielleicht hat auch konservative Gesinnung den König davon abgehalten, sich mit dem als demokratisch geltenden Schweizer in eine weiterführende Diskussion einzulassen. Pestalozzi musste unverrichteter Dinge nach Yverdon zurückkehren, und einen Widerhall seiner kurzen Unterredung dürfen wir vielleicht einem Briefe Niederers an Professor Michaelis vom 2. August 1814 entnehmen: "Schade, dass der König von Preussen bei seinem rechtlichen Charakter nicht die durchgreifende Kraft und die Kenntnisse eines Napoleon verbindet. Seine Reise hätte uns [Schweizer] sonst in Ordnung gebracht, oder würde es noch; man soll ihm ja von Seite eines hohen Standes die Souveränität angeboten haben."

Es ist gewiss verständlich, dass der gesundheitlich geschwächte Pestalozzi sich 1814 die Wegweisung von Anna Pestalozzi und Lisabeth Krüsi nach dem Neuhof gefallen liess, der er sich einem Verwalter und einer Haushälterin unterzog, wenn auch mit innerlichem Widerstreben. Die Monate wurden ihm mehr und mehr zu einem Jahr des Schreckens und der Sorge, als ihm in seiner frühern Schwiegertochter auch noch die letzte Stütze im Haus entrissen wurde.

Anna Magdalene geb. Fröhlich hatte sich in zweiter Ehe mit Laurenz Jakob Custer vermählt, der als Verwalter im Institut Yverdon sich betätigte. Die Eltern mit ihren drei Töchtern hatten die Sommerferien im Dorfe Bullet auf dem Jura verbracht. Sie erkrankte nach der Rückkehr an Typhus und starb am 14. September 1814 weg, womit die begonnene ökonomische Sanierung der Anstalt aufs neue schwer gefährdet war. Die finanzielle Krise als Kriegsfolge drückte den Leiter darnieder, und auch eine städtische ökonomische Kommission wurde nicht zu einer Hilfe, trotz guten Willens. In welcher Stimmung er sein unerträgliches Los aufgenommen hat, zeige ein Ausschnitt aus seiner Neujahrsrede von 1815: "Tausendmahl sprach ich es aus: Könte ich doch sterben, oh alles verlohren! Mein Gefühl ruffte den Tod, meine Nerven waren erschüttert, ich fand keine Ruhe weder Tag noch Nacht, und doch konte ich nicht sterben! Ich sollte nicht sterben, aber ich beneidete den, der starb, ich beneidete, wen ich ins Grab tragen sah! Ich folgte dem Leichnam meiner [Schwieger-]Tochter wie ein Verwirrter, dessen Seele nicht mehr da ist, sie war nicht mehr da. Ich war nicht mehr by mir selber, ich verstand nicht mehr, was sie im Tod, im Sterben zu mir sprach: Gott hat alles wohl gemacht!"

Nur in der Rückkehr seiner Frau vom Neuhof sah Pestalozzi schliesslich den Anfang einer Lösung, und in der Rückberufung des wirtschaftlich tüchtigen Mathematikers aus dem Vorarlberg seine endgültige Rettung. In dem Buch (Band XXVII, noch nicht erschienen) hat der bedauernswerte Leiter 1826 von seinem Schicksal in den Jahren 1814/15 Zeugnis abgelegt:

[Zitat fehlt]

Gemeinsam haben Pestalozzi und Niederer im Frühjahr 1815 den weggezogenen J. Schmid aus Bregenz in die Anstalt zurückberufen. Mit gewaltiger Naturkraft fand dieser den Weg zur Rettung, erregte aber durch seine rücksichtslosen Notmassnahmen den Widerstand vieler Lehrer. Ein Abbau der Besoldung, die die Pädagogen neben Kost und Logis bezogen, um fünfzig Prozent, war gerade für kinderreiche Familien eine zu radikale Lösung, und es ist nicht zu verwundern, dass nach dem Lohnabbau zuerst der älteste Mitarbeiter, H. Krüsi, dann auch weitere Kollegen das Institut verliessen. Dass Pestalozzi in seiner Bedrängnis den nunmehrigen Hauptlehrer ohne Vorbehalt schalten und walten liess, trug ihm den Vorwurf der Senilität ein, wenn er auch mit einem gewissen Recht und ironisch entgegnen konnte, dass ihm nach jahrelangem vergeblichem Versuch nichts als eine solche Radikalkur mehr möglich geblieben sei.

Als sich auch der bisherige Hauptlehrer J. Niederer von seinem Meister abzuwenden begann und Schmid zu befehden anfing, trug ihm Pestalozzi am 5. Februar 1816 seine Situation im Lehrerstreit, die fast unüberwindliche Notlage vor, mit sarkastischen Worten, die Verständnis wecken sollten:

[Zitat fehlt]

Lit. Briefband IX, S. 154, 403, 431, 435. - X, S. 48, 497. - Werkband XXIII, S. 314-315, 458. - XXVII (Entwurf zu: Meine Lebensschicksale, 1826, noch nicht erschienen).

Die Gemütskrankheit von 1817

Nach der finanziellen Sanierung von Pestalozzis Anstalt, welche durch das fast übereifrige Wirken von Joseph Schmid erreicht werden konnte, entwickelte sich das Unternehmen im allgemeinen sehr günstig. Es ist unrichtig, wenn auch verständlich, dass man den Weggang einer Anzahl Lehrer als Verfallserscheinung deklarierte, lag doch im Wesen der Betriebsorganisation der häufige Wechsel im Lehrpersonal, mit den vielen Eleven und den als Unterlehrern verwendeten ältern Schülern. Das gesamte Werk erfuhr aber in den Jahren nach 1818 bedeutende Erfolge.

Im September 1818 ging der vielseitige Wunsch Pestalozzis nach einer Armenanstalt in Erfüllung, seit 1819 erschien im Verlag Cotta die erste Sammelausgabe der Werke, und ebenfalls seit 1819 bis 1822 weilte eine grosse Gruppe von englischen Schülern und Lehrern im Institut. Von einem Niedergang in diesem Zeitraum kann nicht die Rede sein, auch wenn der Verlust wichtiger Lehrer von Pestalozzi nur mit grossem Bedauern aufgenommen wurde.

Als 1817 der Subskriptionsplan für die Cotta-Ausgabe herauskam, wurde er von böswilliger Seite als Bettelbrief erklärt, unter der Würde, die er sich selbst, seinem Werk und seinem Vaterland schuldig sei. In einer Erklärung in der Presse betonte nun Pestalozzi, dass von einer Privatnot nicht die Rede sein könne, dass aber eine unglaubliche schiefe Auslegung des Plans ihn zwinge, öffentlich auszusagen:

[Zitat fehlt]

Noch im Jahr 1817 aber verfiel Pestalozzi einer Gemütskrankheit, veranlasst durch die Trennung von dem bisherigen Hauptlehrer J. Niederer und seiner Frau Rosette geb. Kasthofer. In einer finanziellen Krisenzeit hatte er sein Töchterinstitut der Leiterin schuldenfrei geschenkt, um sich von Arbeit zu entlasten, unter der Voraussetzung einer dauernden Zusammenarbeit. Im Frühjahr 1814 vermählte sich diese mit dem Pfarrer J. Niederer, was von Pestalozzi mit überstarkem, fast beschwörendem Jubel begrüsst wurde. Als dann J. Schmid die Rettung der Anstalt von ihrer Schuldenlast durchführte, schien das gemeinsame Wirken verschiedener Kräfte unter dem genialen Meister gesichert: der theoretische Philosoph sollte die Ausbildung der Methode fördern, während der praktische Mathematiker die ökonomische Basis abzusichern, auch für die Gründung einer Armenanstalt zu sorgen hatte.

Nun sagte sich J. Niederer in einer Konfirmationspredigt am 25. Mai 1817 von der Kanzel herab endgültig von Pestalozzi los, der ihm nicht die zukünftige Leitung der Anstalt übertragen wollte. Er überschüttete den vor ihm sitzenden Greis mit Vorwürfen und nannte ihn den Vernichter alles Guten, der seine eigenen grossen Ideen zu Grabe trage. Die zwei Probleme: die Nachfolge als Leiter und die moralische (nicht rechtliche) Verpflichtung zu dauernder Mitarbeit haben Niederer zu seinem Rücktritt bewogen, der in unqualifizierbarer Weise geschah und auch Frau Niederers Trennung mitbewirkte.

Aufs tiefste erschüttert verfiel Pestalozzi in Verzweiflung, sass während Nächten auf einem Stein am Neuenburger See (später der Heinrichstein benannt) und haderte laut einem Bericht des deutschen Lehrers E.W. Kalisch mit Gott, seinem Schicksal und seinen Mitmenschen. Pestalozzi selbst hat in seiner Rede vom 12. Januar 1818 sich dazu geäussert: "...ich rasete, ja ich rasete in dieser Zeit vor Liebe zu denen, die mich jetzt verliessen, und vor Kummer für dich, gutes Werk meines Lebens, das man jetzt bald in meinen nächsten Umgebungen in meiner Hand als in der Hand eines verlornen, und, ich muss fast sagen, als in der Hand eines unwürdigen, eines verworfenen Mannes ansah und behandelte."

Nicht egoistische Triebhaftigkeit, auch nicht etwa Gewissensbisse gegenüber dem Ehepaar Niederer haben Pestalozzi in Raserei versetzt, sondern eine übergrosse Empfindlichkeit, in unermesslicher Sorge um das Gedeihen seines Werkes. In der Kampfschrift von E. Biber von 1827 ist eine solche Schilderung von Pestalozzis von böswilliger Seite eingerückt, die sicher von Niederer inspiriert war:

"Tierisches Brüllen, von heftigem Ausspützen des Speichels begleitet ...; wenn der Kranke auf ist, Hin- und Herrennen, Stampfen mit den Füssen, Laufen nach der Tür, als ob er sich entfernen wollte, dann aber schnelles Besinnen und plötzliches Zurückkommen mit erneuerter Wut; im Bette hingegen öfteres In-die-Höhe-Fahren mit dem ganzen Leib, - in beiden Fällen beständiges Umsichschlagen der Arme mit geballten Fäusten, die dann zuweilen mit grosser Gewalt auf den Tisch, auf die Bettdecke, auf die Türschnalle usw. fallen; dabei heftige Verzerrung der Gesichtsmuskeln, besonders an den Kinnladen, bis zum Grinsen; Hinaufziehen der Nasenflügel, wildes Rollen der Augen und dann wieder stieres Hinblicken auf eine Person... Das Brüllen wird nach kurzer Zeit von vernehmbaren Sprachlauten unterbrochen; die Stimme bleibt immer tobend, so dass der Kranke von drei zu drei Worten wieder Atem schöpfen muss. Der Inhalt der Rede sind meist in wilder Begeisterung ausgestossene Schimpfwörter, mit Drohungen untermischt... Ganz eigentümlich aber ist der Zustand scheinbarer Ruhe vor oder nach den heftigsten Symptomen; der Kranke reicht dann liebreich die Hand hin, blickt mit gutmütiger Freundlichkeit ins Gesicht, klagt über grosse Schwäche und spricht viel davon, dass es bald mit ihm aus sein werde..."

Dieser verzerrten, entstellenden Darstellung Bibers kann gegenübergestellt werden, was Pestalozzi selbst in seinem Buch 1826 aussagte. Man hatte ihn zuerst ins Bad Leuk im Wallis bringen wollen, nach seinem alten Wunsch. Doch zog dann J. Schmid als verantwortlicher Leiter das nahe Dorf Bullet vor: "Sogleich am Morgen, nachdem am Abend vorher mein zerrütteter Seelenzustand sich in schrecklichen Äusserungen zeigte, brachte er (Schmid) mich auf den Jura, dessen kühlende Höhen auf meinen gefährdeten Nervenzustand unbegreiflich schnell eine heilsame Wirkung ... hatten, dass die Gefahr einer gänzlichen Geisteszerrüttung und Sinnlosigkeit soviel als möglich verschwand, hingegen aber der Zustand der Geistesschwäche oder vielmehr Geistesabwesenheit, verbunden mit einem hohen Grad von Ängstlichkeit und Mutlosigkeit, diesen gewohnten Nachwehen eines sich zu mindern anfangenden Verzweiflungszustandes, anhaltend fortdauerte."

Wenn man diese offene Schilderung Pestalozzis und die hässliche Verzerrung bei Biber einander gegenüberstellt, so muss begefügt werden, dass auch J. Niederer nie an der Haltung Pestalozzis in dem Umfang Anstoss genommen hätte, um sich deswegen von ihm zu trennen. Nie hat man gehört, dass der Angefochtene in seiner Verzweiflung den Gedanken an Freitod erwähnt hätte. Vielmehr suchte er in Gottergebenheit, in ruhiger Erholung und in ablenkender Arbeit einen Ausweg. Seine Eigentherapie bestand zunächst aus längerer Abwesenheit vom Schauplatz der Kämpfe, mit vielen Besuchen von Lehrern und Eleven, sodann in literarischer Tätigkeit, in Unterhandlung wegen anderer Organisation der Anstalt. Wir können auf die Einzelheiten der Selbstheilung nur in gekürztem Masse eingehen; Näheres darüber findet sich im Werkband XXV.

Um mit seiner psychischen Krankheit erfolgreich fertigzuwerden, verfasste Pestalozzi in Bullet einen Trostgedichte-Zyklus, von dem Unterlagen auf heute 52 Druckseiten sich erhalten haben. Teile davon hat der Verfasser auch an van Muyden in Diemerswil und an Frau Consentius in Königsberg verschenkt. Zunächst in der Natur, dann in der Menschenseele allgemein und schliesslich in friedlicher Auseinandersetzung mit seinen Gegnern hat er das verwundete Gefühl selbst zu heilen gesucht, was ihm auch nach einigen Wochen gelang. Bei seiner starken Gemütserregung ist dabei auffallend, dass keine Anzeichen von geistiger Umnachtung vorhanden sind, wie solche in gewissen Gedichten Hölderlins nachweisbar sind. Die Dichtkunst in eher formloser Gestaltung ist für Pestalozzi ein wichtiges Mittel, durch eigene Bemühung die Geistesstörung zu überwinden, welcher er durch den Gang des Lehrerstreits anheimgefallen war.

Mehr schon wieder lenkte Pestalozzi durch weitere dichterische Form in den deutschen Sprachübungen der bisherigen Institutionstätigkeit zu. Um sich in diesen Jahren vorzugsweise dem Sprachunterricht zu widmen, als Ergänzung zum besonders hervortretenden Rechenunterricht Schmids, suchte er in grossem, wenn auch unfertig bleibendem Umfang langweilige grammatische Übungen durch teilweise gereimte Verse aufzulockern, wobei Humor und Lebensweisheit zugleich zu ihrem Rechte kamen.

Auch als Pestalozzi im Oktober nach Hofwil reiste, um mit dem Pädagogen Ph.E. von Fellenberg über eine allfällige Vereinigung ihrer beiden Anstalten zu verhandeln, und anschliessend im nahen Diemerswil von Mitte September bis ungefähr Mitte Oktober Erholung suchte, setzte er seine dichterischen Bemühungen fort.

Nach der Rückkehr an seinen Wirkungsort konnte Pestalozzi am 21. Oktober 1817 an den preussischen Gesandten J. von Gruner in Bern folgenden aktuellen Bericht geben:

[Zitat fehlt]

Im Unterschied zu vielen seiner andern Krankheiten sollte sich am Lebensende sein hier skizziertes Leiden wiederholen. Die Frage der Opposition ausgetretener Lehrer wie J. Niederer, H. Krüsi, J.K. Näf u.a. zuerst gegen den neuen Hauptlehrer J. Schmid, allmählich auch immer stärker gegen Pestalozzi selbst schwelte zunächst im Geheimen. Doch gingen die drei erwähnten Personen im März 1821 zur offenen Befehdung über, woraus sich eine Anzahl Prozesse ergaben. Sie ruhten nicht, bis Schmid im Frühjahr das Waadtland verlassen musste und sich in Frankreich ansiedelte.

Schon vorher ergingen schlimme Gerüchte von Yverdon aus, welche von Zerfall in Pestalozzis Anstalt sprachen, während er selbst bis ans Ende einer beruhigenden Zuversicht Ausdruck gab. Um diesen Zwiespalt zu ergründen, reiste der Seminardirektor Bernhard Gottlieb Denzel aus Esslingen in Württemberg 1820 in die Schweiz. Er verfasste hernach einen Bericht, den J. Schmid in H. Zschokkes Zeitschrift , Jg. 1821, S. 58-63, zum Druck brachte. Denzel äusserte sich u.a. wie folgt:

"Es ist unglaublich, wie lange dieser [verwirrte] Zustand dauern konnte. Pestalozzi war durch das Einsetzen desselben auf das äusserste und auf den Punkt gebracht, völlig ein Narr zu werden. Aber sein Wahnsinn, von dem ich jetzt bestimmte Tatsachen in Händen habe, ward im Haus mit Sorgfalt verschwiegen." Denzel beteuerte die übertriebene Güte Pestalozzis gegenüber den widerwilligen Gegnern, und sein Schlussatz ging dahin:

Der Besuch Denzels in Yverdon hatte noch ein Satyrspiel zur Folge, das deutlich zeigt, wie versteift die Gegensätze waren. Da sein Artikel nur mit gezeichnet war, drohte das Kollegium Niederer-Krüsi-Näf den Einsender Schmid wegen Beleidigung mit einer Klage zu verfolgen. Die Forschung hat aus dem vorläufigen Rätsel den Schluss gezogen, dass sowohl Schmid wie Pestalozzi die Unwahrheit gesagt hätten, als sie die Verfasserschaft bestritten. Die Affäre war ein Vorspiel für spätere, viel härtere Auseinandersetzungen.

In seinen Lebenserinnerungen, die 1826 unter dem Titel: erschienen, hat Pestalozzi die schlimme Situation des Winters 1814/15 nochmals geschildert. Wenn die verantwortlichen Lehrer wie Niederer, Krüsi und andere, die während Pestalozzis Krankheit eigenmächtig Buchhandlung und Buchdruckerei ausgebaut hatten, die finanzielle Notlage zuletzt nicht bewältigen konnten, hatten sie kein Recht, alle Schuld am schlimmen Zustand ihrem Meister zuzuschreiben. Noch in der Rückschau hat dieser, ohne Einzelheiten zu geben, sich der Verantwortung entschlagen und die arge Rückwirkung auf seine Gesundheit auch nur angedeutet:

[Zitat fehlt]

Lit. Briefband X, S. 573f., 583, 586f., 600. - XII, S. 467f. - Werkband XXV, S. 76, 334f., 424-427, 431, 433-437. - XXVII, S. 284. - A. Israel, Pestalozzi-Biographie, Band I, 1903, S. 530ff. - Überlieferungen zur Gewschichte unserer Zeit, gesammelt von Heinrich Zschokke, Aarau 1821, S. 58-63. - E. Biber, Beitrag zur Biographie Heinrich Pestalozzis, 1827, Anmerkung zu S. 184f. - F. Delekat, Pestalozzi, 3. Auflage, 1968, S. 86ff.

Die Magenkrankheit um 1822

Der Lebenslauf Pestalozzis ist in Bezug auf Krankheit dahin gekennzeichnet, dass ihn fast jedes Mal eine gesundheitliche Störung befiel, wenn er starken Emotionen ausgesetzt war. Die bisherigen Lesefrüchte lassen daher voraussehen, dass er in seiner Altersperiode, vielen Angriffen ausgesetzt, ebenfalls von Krankheit befallen war, der er schliesslich unterlag. Schon die Liste der Prozesse, denen er ausgesetzt war oder die er selbst begann, ist dafür ein Indiz.

Mit der Stadtbehörde von Yverdon (Munizipalität) hatte er schon seit 1819 Differenzen wegen der beanstandeten Koedukation von Töchtern und Knaben im Schloss. Als der Stadtrat sich 1821 weigerte, gemäss Abkommen beim Antritt des Gebäudes, grössere bauliche Renovationen durchzuführen, zitierte ihn Pestalozzi vor Gericht. Nachdem Niederer, Krüsi und Näf im März eingegriffen hatten, mit einem öffentlichen Angriff gegen den vorgesehenen Nachfolger J. Schmid, verzichtete Pestalozzi im Juli auf die Fortführung, weil er auch bei einem Obsiegen kein nützliches Zusammenarbeiten mit der Stadtbehörde mehr erwarten durfte. Einen zweiten Prozess hatten Schmid und Pestalozzi gegen die Institutsleiter Niederer, Krüsi und Näf zu führen wegen einer Pressefehde. Das Urteil des Obergerichts in Lausanne fiel 1822 zugunsten von Pestalozzi und Schmid aus. Die 1821 von J. Niederer in die Allgemeine Zeitung gebrachte Streitfrage wegen gegenseitiger Entschädigung führte zu längerer gerichtlicher Auseinandersetzung. Der Strafprozess wegen Verleumdung wurde zuletzt eingestellt, der Zivilprozess von Herr und Frau Niederer wurde nach langen Verhandlungen durch einen Schiedsspruch, den die Regierung veranlasste, in der Hauptsache zu Gunsten Pestalozzis, aber erst am 30. November 1824, entschieden.

Schon am Geburtstag, dem 12. Januar 1821, wallte Pestalozzi das Blut über seine Gegner auf, und in einer bittern Erklärung gab er der Behörde alle Vorwürfe wieder, denen er von Seiten der Feinde ausgesetzt war:

[Zitat fehlt]

Ein Magenleiden, das Pestalozzi vielleicht auch schon 1809 plagte, ohne dass wir Genaueres wissen, machte ihm gegen Ende 1821 zu schaffen. Auch diesmal fehlen uns Nachrichten vom akuten Verlauf der Beschwerden, doch hat sich der Kranke nachher in einigen Briefen darüber geäussert, vor allem gegenüber der Schwester in Leipzig, Frau Barbara Gross. Ihr schrieb er am 2. Februar 1822:

[Zitat fehlt]

Später fügte er, gelassen und mit gewohnter Spasshaftigkeit, diesen Worten noch hinzu: "Du wirst Dich wunderen, wie ich in meiner Krankheit so geschwäzig geworden, und ich denke vast, Du meinest, das Gewüssen sy mir wegen meiner unverantwortlichen Liederlichkeit im Briefschreiben an Dich endlich einmahl aufgewacht. Aber die Wahrheit ist, ich bin als Rekonvalescent noch nicht wie vorher mit Geschefften überladen und habe jez Zeit zum Briefschreiben wie sint langem noch nie."

Auch in einem Briefe an Frau Gross vom 19. März 1822 kam Pestalozzi noch einmal auf die überwundene Krankheit zurück, dachte sogar an einen Besuch im fernen Leipzig. "Meine Gesundheit ist auf eine Weise hergestellt, dass ich bestimt sagen kann, ich fühle mich seit vielen Jahren nicht so kraftvoll, als ich es jezo bin. ... Ich möchte Dich herzlich gerne in meinem Leben noch einmal sehn, und bleiben wir beyde gesund und bey Leben, so geschieht es gewiss noch."

Auch in einem Brief an die entfernt verwandte Frau Provisor Imhof, geb. Fröhlich, in Burgdorf vom 12. Februar 1822 bestätigt Pestalozzi den guten Befund seines Genesens:

Merkwürdig erscheint, wie sich die Ereignisse in Yverdon auf die in aller Welt zerstreuten Lehrer und Schüler Pestalozzis ausgewirkt haben. Je nach der Orientierung von der einen oder anderen Seite haben sie Stellung bezogen. Sogar wenn sie in die Schweiz zurückkehrten, gewannen sie nicht unbedingt ein klares Bild von den bestehenden Gegensätzen.

Im Jahre 1822 kehrte der frühere geschätzte Lehrer Johannes von Muralt, ein Zürcher Bürger, aus Petersburg zu einem Besuche in die Heimat zurück. Er hatte dort seit 1810 als Pfarrer und Schulmann gewirkt, war durch eine dauernde Korrespondenz eng mit dem Ehepaar Niederer verbunden geblieben. So nahm er deren einseitige Stellungnahme als richtig an, konnte in einem Briefe enttäuscht sich von dem ehemaligen Meister abwenden: "Pestalozzi ist gereizt. Ich überzeuge mich, dass er ebenso nachteilig auf Schmid, wie dieser auf ihn wirkt. Schmid hat sich in Pestalozzis Herz wie eine Polype verwachsen, sodass es ihn zu tilgen unmöglich ist, ohne Pestalozzi, so wie er jetzt ist, zu vernichten." Nach seiner Rückkehr nach Russland hat sich von Muralt deutlich vom Erzieherberuf abgewendet und sich auf das Wirken eines Seelsorgers beschränkt.

Sein Verhalten, wie das vieler anderer Zeitgenossen, darf nicht erstaunen, als keinem von ihnen die Unterlagen zur Verfügung standen, die jetzt durch die kritische Gesamtausgabe erschlossen und lesbar geworden sind. Auch in der Forschung haben sich, wenn einseitig und unkritisch gearbeitet wurde, solche Fehlschlüsse ergeben. A. Israel hat in seiner Bibliographie (Band I, S. 578ff.) behauptet, der Schiedsspruch im Prozess sei 1824 zu Gunsten Niederers ausgefallen, während er zwei Seiten danach zugeben muss, dass Niederer und seine Frau dadurch zu einer Zahlung an Pestalozzi verpflichtet wurden. Da auf beiden Seiten Biographien von J. Niederer und J. Schmid fehlen, da die umfangreichen Unterlagen widersprechend lauten, zeigt sich erst, wie nötig ein neutrales Urteil auf Grund aller Dokumente ist.

Wir zitieren aus diesen Jahren zwei Zeugnisse, welche die Situation zu beleuchten geeignet sind. In einem Schreiben an den frühern Lehrer S. Hopf von 27. Oktober 1822 äussert sich J. Niederer zu seinem Prozess gegen J. Schmid wegen dessen Buch: : "Rücksichtlich Pestalozzis nimmst Du die Sache pathologisch und hast Recht. Je mehr die Thatsachen von Pestalozzis Unrecht empören, desto mehr erregen sie Mitleiden für ihn. Aber eben dieses, ohne Einsicht und Sittlichkeit, hat von jeher alles verdorben und Pestalozzi zu Grund gerichtet. Es ist nicht nur seiner unwürdig, sondern sein Unglück."

J. Niederer konnte es nicht verwinden, dass sein früherer Meister ihm einen andern Nachfolger vorgezogen hatte, auch wenn Pestalozzi während Jahren immer wieder eine Zusammenarbeit beider Helfer herbeiführen wollte. Verbohrt in sein Bestreben, J. Schmid von Yverdon wegzubringen, wagte er es, Pestalozzi Einsicht und Sittlichkeit abzusprechen. Er klagte ihn an, in völliger Abhängigkeit von Schmid zu sein, nannte ihn zugleich senil und schlecht, weil er ablehnte, sich durch Niederer wieder zur geistigen und sittlichen, d.h. zur richtigen pädagogischen Höhe erheben zu lassen:

Wer die Briefe und die Schriften Pestalozzis aus dieser Zeit denkend durchliest, kommt freilich zu einem ganz andern Urteil. Fritz Medicus, Professor der Pädagogik in Zürich, bekennt in seiner Biographie Pestalozzis 1927: "Pestalozzis schriftstellerische Tätigkeit im Beginn der zwanziger Jahre ist der strahlende Gegenbeweis gegen Niederers Behauptung, dass der Greis in schmachvoller geistiger Abhängigkeit von Schmid sein besseres Ich verloren habe und im Zeitlichen versunken sei."

Lit. Briefband XII, S. 143, 245ff., 249, 267, 448f., 463, 467f. - Pestalozziblätter 1884, S. 90f., 94. - H. Schönebaum, Ernte, 1942, S. 21. - F. Medicus, Pestalozzis Leben (Wissenschaft und Bildung, 233/234), Leipzig 1927, S. 207. - Zentralbibliothek Zürich, Mscr. Pestal. 605, S. 284.

Die Auflösung des Instituts Yverdon

Wie ein Blitz aus umwölktem Himmel musste der Beschluss des Staatsrates vom 6. Oktober 1824 für Pestalozzi erscheinen, als sein Hauptlehrer J. Schmid aus dem Kanton Waadt ausgewiesen wurde. Als Grund wurde angegeben, dass dieser verdächtigt worden sei (aus Yverdon, mit unbekannter Quelle), ; eine folgende Untersuchung durch den Friedensrichter Fatio, sowie spätere Aussagen des Lehrers Theodor Franke hätten ergeben, dass Schmid . Auf Wunsch von Pestalozzi wurde die Ausweisung bis zum 1. März 1825 aufgeschoben.

Es ist nötig, darauf hinzuweisen, dass der Denunziant in dieser Affäre nirgends erwähnt wird; man dürfte Pestalozzis Vermutung, Niederer wäre es gewesen, nicht abwegig finden, hatte dieser doch unentwegt auf das nun erreichte Ziel hingearbeitet. Die Untersuchung durch Fatio wurde ohne Anhörung von Schmid durchgeführt, wobei der Friedensrichter ausdrücklich noch die Weisung erhielt, Pestalozzi aus Schonung nicht darüber zu orientieren. Hauptzeuge war zudem der Lehrer Theodor Franke, der wenige Monate vorher fristlos aus dem Institut Pestalozzis entlassen worden war.

Man kann sich die Aufregung denken, in welche Pestalozzi durch diese Affäre versetzt wurde. Nur im Zeitalter Metternichs war eine solche Rechtssprechung möglich, welche sich die Regierung erlaubte. Staatsrat Monod erzählt, dass Pestalozzi darüber ganz den Kopf verloren habe. Auch Schmid wurde von Monod empfangen, der ihm seine Vergehen vorgehalten haben soll. Eine richtige Untersuchung fand nicht statt; dass der Kronzeuge Franke ein befangener Mann war, wurde geflissentlich übersehen. Auch an Laharpe appellierte der Greis vergeblich; dieser äusserte nur Mutmassungen und half nicht.

Staatsrat Henri Monod aber schrieb an Paul Usteri in Zürich: "L'ordre a été donné a Schmid de partir, là-dessus de longues jérémiades de ce pauvre Pestalozzi, qui prétend qu'on lui arrache la vie, et qu'il peut si peu s'en passer qu'il est obligé de le suivre. Je l'ai vu une couple de fois, il n'y est vraiment plus et il est impossible de lui faire entendre raison, mais il fait vraiment pitié. ... Quoiqu'il en soit, cette affaire nous fait peine pour ce brave homme - qui paroît très résolu à s'en aller aussi, et qu'on a quasi l'air de persécuter. Mais d'après les vilainies, qu'on a apprises, il ny a pas moyen de révoquer l'ordre donné à Schmid."

Noch am 15. Februar 1827 suchte Schmid beim Staatsrat ein gerechtes Verfahren zu erlangen; später sandte er eine Abschrift von Pestalozzis Testament, auch anerbot er bei Schuldigsprechung freiwillig eine grössere Geldsumme für ein wohltätiges Unternehmen. Die Geheimdiplomatie feierte aber ihre Triumphe, indem der Staatsrat, wohl ziemlich schlechten Gewissens, nach acht Monaten des Schweigens am 12. Oktober 1827 beschloss, Schmids Brief zu den Akten zu legen.

Jedermann musste sich doch klar sein darüber, dass der 78jährige Greis ohne bewährte Hilfe seine Anstalt nicht länger führen konnte, und Anfang März 1825 zogen Pestalozzi und Schmid nach der Auflösung mit wenigen Kindern nach dem Neuhof weg. Daselbst erstrebten sie eine neue Anstalt, zudem zog Schmid bald weg, um für die Methode seines Meisters Anhänger in Frankreich und England zu gewinnen.

Während Niederer über das harte Urteil frohlockte und unversöhnlich seine schlechte Meinung über Pestalozzi wiederholte, zeigte ein Bericht von Franke an den preussischen Gesandten von Arnim in Bern, wie leichtfertig Entscheide gefällt wurden, denn auch dieser hielt keine weitere Prüfung für nötig, als er die Einstellung jeder Unterstützung für Pestalozzi empfahl. Arnims Bericht enthielt folgenden Passus:

[Zitat fehlt]

Pestalozzi mag auf dem Neuhof aufgeatmet haben, als er der Verfolgungsatmosphäre in Yverdon entronnen war. Nachdem er ein Leben von Widerwärtigkeiten bestanden hatte, hatte er ein hohes Alter mit frischer Kraft erreicht, und verfolgte unentwegt neue Pläne. Hatte er seiner ältern Braut einst geweissagt, dass die ihn überleben werde, so wurde er an die zwölf Jahre älter als sie, nach Seyffarths Urteil:

Auffällig ist das Wohlergehen, dessen sich Pestalozzi nach dem schweren Schicksalsschlag in der Waadt erfreuen durfte. Zeuge davon ist unter andern Seminardirektor J.W.M. Henning aus Köslin in Pommern, der ihn im Jahre 1825 auf dem Neuhof besuchte, worüber er 1846 Bericht erstattete:

[Zitat fehlt]

Auch die eigenen Schilderungen Pestalozzis von seinem Ergehen lauten günstig. An den abwesenden J. Schmid konnte er melden: "Mir ist recht wohl, wenn ich schon nicht mehr in die lebende Welt, sondern unter den Boden gehöre, und jetzt die neue Welt mir Müh und keine Freude mehr macht. Indessen bleibe ich doch noch gern, um zu sehen, wie viel gescheiter man jetzt in dieser neuen Welt man alles macht, als es in meiner alten der Brauch war." Wer so viel fröhliche Selbstkritik und Gelassenheit ausdrücken kann, der ist gewiss geistig noch frisch, nicht irgendwie verkalkt oder stur.

Auch noch die Gesundheitsmeldungen vom Anfang Januar 1827 enthalten zuversichtliche Töne, so an Schmid in Paris: Als Christian Lippe am 12. Januar einen Geburtstagsbesuch machte, sagte er ihm sogar:

Diesen Zeugnissen gegenüber beharrte Niederer auf seiner masslosen Verurteilung Pestalozzis, so noch am 1. April 1827 in einem Schreiben an K.J. Blochmann in Dresden, einen frühern Lehrer in Yverdon:

[Zitat fehlt]

Niederer konnte es nie verwinden, dass ihm J. Schmid als Rechnungsmann gefährlich hatte werden können, dass er ihm als Nachfolger vorgezogen worden war. Dazu sind die Dokumente in den Brief- und Werkbänden der kritischen Ausgabe heranzuziehen, weil sie deutlich machen, wie unbelehrbar und unversöhnlich Pfarrer Niederer seine festgefahrenen Ideen, seine Befehdung auch auf Pestalozzi übertragen hat.

Die These Niederers von Pestalozzis Paranoia in der Spätzeit wird auch durch das unsachliche Urteil des Bibliographen A. Israel bestärkt. Seine einseitige Haltung gegenüber Schmid färbt auch auf die Beurteilung Pestalozzis ab. Gewisse Schwächen muss man diesem Autor zugute halten, als er im nacherlebenden Gefühlssturm seines Abschiedes aus der Waadt das Buch: 1826 verfasste. In zwei Punkten kann ihm altersmässige Gedächtnisschwäche nachgewiesen werden: Als er seine Lehrmittel unrichtig beurteilte (s.u.) und als er den Schiedsspruch vom 30. November 1824 über die Abrechnung mit der Familie Niederer vergass, weil er ihn innerlich nicht akzeptierte.

Nur scheinbar hat Seminardirektor Philipp Nabholz in einem Bericht über Pestalozzis die These Niederers von Pestalozzis Wahnsinn aufgegriffen. In guter Selbsterkenntnis hat Pestalozzi bekannt, dass er beim Zusammenbruch seines Werkes, wegen der impulsiven Gefühlsnatur dem Wahnsinn nahe gewesen sei. Er nahm damals vor Nabholz seine Ablehnung der eigenen Lehrmittel zurück, nicht aber die stillschweigend erfolgte Verurteilung seiner Verfolger. Nabholz veröffentlichte daraufhin in der Presse:

[Zitat fehlt]

Aus guter Kenntnis hat schliesslich ein Nachbar, alt Lehrer Huber in Lupfig bei Birr, Kunde vom Benehmen Pestalozzis in seiner letzten Lebenszeit hinterlassen. Er war auch oft anwesend, als die ärgste Schmähschrift nebst andern Anfechtungen Pestalozzi schliesslich tödlich zusetzte.

Lit. Briefband XIII, S. 200, 250, 369, 433f., 489ff., 496, 506f. 539-541. - Werkband XXVII, S. 452ff. - Allgemeine Schulzeitung, Darmstadt 1828, Nr. 102, S. 812-813. - Seyffarth-Ausgabe, Band I, S. 450. - Pestalozziblätter 1883, S. 64ff.; 1904, S. 17f. - Pestalozzi-Studien, V, 1900, S. 86; VII, 1902, S. 136. - A. Israel, Pestalozzi-Bibliographie, Band I, S. 593f., 596. - H. Schönebaum, Ernte, 1942, S. 78f., 377.

Letzte Erkrankung und Hinschied

Nach einem Leben voll Güte für seine Mitmenschen erlebte Pestalozzi zuletzt die ärgsten Angriffe auf seinen Charakter und sein Werk. Lavater hatte ihn einst getröstet, als er 1798 einer starken Lebensgefahr ausgesetzt gewesen war: Viele Reisende sind es nur, weil ihre Liebe zurückgestossen und ihre Treue verhöhnt worden ist (Briefband IV, S. 2). Auch 1827 hätte Pestalozzi in Raserei verfallen, verbittert werden können. Sein seltsames, fast kindisches Verhalten fiel damals seiner Umgebung auf, ohne dass die Nachbarn wussten, welcher Befehdung er ausgesetzt war.

Lehrer Huber berichtet von einem abnehmenden Gedächtnis, aber auch von schriftlicher Tätigkeit, die er teilweise sogar ohne seinen aus Yverdon mitgebrachten, tüchtigen Sekretär A. Steinmann von Glarus erledigte: "...Wann er aber aus Ermüdung oder in der Aufregung ausser Stande war zu schreiben, so ergriff Steinmann die Feder und schrieb, was ihm sein Herr diktierte und was er sonst Interesse Bietendes von ihm vernahm, indem Pestalozzi gar oft, auch wenn niemand zugegen war, Reden und Gespräche führte, wie wenn jemand ihm gegenüber stände. Solchermassen aufgeregt und belebt war die Phantasie unseres 80jährigen Pestalozzi. Oft nahmen die Gebilde seiner Aufgeregtheit und Träumereien einen derartigen Charakter an, dass die Seinigen meinten, er sei schon oder werde sicher verrückt..."

"Andere Leute wussten nicht, warum er fast auf einmal so schrecklich aufgeregt wurde, sein Antlitz nur Schmerz und Wehmuth verriet, er Tag und Nacht keine Ruhe, keinen frohen Augenblick mehr hatte und in dieser furchtbaren Aufgeregtheit im Hause und um die Häuser herumirrte und dann in seinem Zimmer rastlos zu schreiben anfing. Die Ursache bildete, wie es dann zu Tage trat, eine Schmähschrift [von Eduard Biber], worin das Wirken und die grossen Verdienste seines ganzen langen Lebens, seine edelsten Bestrebungen für die Jugend, für die Armen, für die ganze Menschheit in der geringschätzigsten Weise behandelt und dargestellt wurden."

Schon gegen Ende 1826 war Pestalozzi durch verschiedene Angriffe betroffen worden. Seine frühere Helferin, das Urbild der Gertrud in hatte in Brugg einen Prozess gegen ihn begonnen wegen seiner Unterhaltspflichten (auf wessen Anstiften?). Den Ausgang des Handels erlebte Heinrich Pestalozzi nicht mehr, der Enkel Gottlieb bewirkte die Abweisung der Klage. Auch Ph.E. von Fellenberg hatte in der Presse vor allem Schmid, damit indirekt aber auch Pestalozzi angegriffen, und der Greis hatte zu einer Rechtfertigung angesetzt, die aber nicht mehr veröffentlicht wurde.

Der Starrsinn, die Unversöhnlichkeit Niederers, seine herzlose Leidenschaft und Selbstgerechtigkeit (nach den Worten H. Morfs) mochten Pestalozzi vielfach bedrückt haben. Doch erst das Buch von E. Biber, , im Januar 1827 erschienen, warfen ihn auf das Krankenbett. Sein Entwurf einer Antwort an Biber, persönlich und fast unleserlich geschrieben, hat sich erhalten und wird erst heute, im Werkband XXVIII der kritischen Ausgabe, erstmals veröffentlicht.

Umsonst bat Pestalozzi den schliesslich herbeigerufenen Arzt Dr. Ferdinand Adolf Stäbli aus Brugg (1782-1835), ihm noch eine Frist von einigen Wochen zu verschaffen, damit er seine Entgegnung an Biber vollenden könne. In zwei Briefen an Dr. Paul Ignaz Vital Troxler (1780-1866) in Aarau hat Dr. Stäbli den Verlauf der Krankheit geschildert und den Kollegen um seinen Beistand gebeten. Am 13. Februar 1827 schrieb der Arzt:

"Pestalozzi arbeitete Tag und Nacht, die gewohnte Hilfe seines Sekretärs Steinmann verschmähend, an der Widerlegung der sogenannten Biberschen Schrift, die ich zwar nicht selbst gelesen habe, die aber, seinen Äusserungen nach, sehr feindseligen Inhalts für ihn ist. Entzündung der Augen, Schlaflosigkeit und sogar reichliches Nasenbluten waren die nächsten Folgen dieser Anstrengungen, Anomalien in der Muskularthätigkeit der Harnblase und ihrer Anhängsel, Verstopfung usw. die zweiten. Eine schon frühere Anlage, wohl Folge seines höheren Alters, wurde dadurch, sowie durch einen kleinen Diätfehler, zur wirklichen Krankheit gesteigert."

Um dem Arzte in Brugg näher zu sein, brachte der Enkel Gottlieb, seine Frau Katharina geb. Schmid und deren Schwester, die Lehrerin Marie Schmid den Kranken am 15. Februar nach Brugg. Der Sekretär A. Steinmann gab an diesem Tag der Nichte Pestalozzis, Frau Halder-Schulthess in Lenzburg noch Nachricht:

Marie Schmid hat am Tag nach Pestalozzis Hinschied, der am 17. Februar 1827 erfolgte, der Schlossverwalterin Frau Petitpierre in Yverdon einen bestätigenden und ergänzenden Bericht zugestellt:

[Zitat fehlt]

Noch am 17. Februar 1827 hat der Arzt Dr. Stäbli seinem Kollegen Dr. Troxler in Aarau den Hinschied Pestalozzis geschildert: "...Sein Ende nahete schnell und fruchtbaren Schrittes heran, nachdem ich Ihnen gestern noch sein Schlimmerwerden gemeldet. Auf den Abend schon ward es ruhiger mit ihm... Ein ziemliches Quantum Blut und später reinen Harns floss unter ihm ab. Er nahm nichts mehr an. So verging die Nacht. Am Morgen ward er noch einmal unruhig, zog dann, als ob er fröre, die Bettdecke stark an sich; der Puls und die Athemzüge wurden seltener, zuletzt schloss er die Augen, und die letzte Spur einer waltenden Psyche war verschwunden."

Es gibt ein Oduktions-Protokoll, aber mit alten Formulierungen, aus denen ein medizinischer Laie nicht recht klug wird. Es ist da die Rede von Schrumpfung und Zerstörung der Gallenblase, was auf eine primäre Erkrankung der Gallenblase deuten würde, ferner von einer schmerzenden Verwachsung, was ein Geschwür des Zwölffingerdarms oder ein gefährliches Anwachsen der Prostata bedeuten könnte, und schliesslich dürfte Urämie den Ausgang bewirkt haben. Die Ärzte fanden bei der Untersuchung, dass einzig das Herz von seinen inneren Organen gesund und vollkommen erhalten sei. In einem Nachruf im Schweizerboten vom 22. Februar 1827, wohl aus der Feder von Heinrich Zschokke, hiess es: "Das warme Menschenherz, das nie durch Eigenliebe, aber so oft, ja fast ohne Aufhören, durch die allerwärmste Menschenliebe in Bewegung gesetzt ward, hat zu schlagen aufgehört. Der nie müde Geist, der sich noch in den letzten Tagen ausschliesslich, und ohne durch das körperliche Leiden irre gemacht zu werden, mit seinem höheren Lebenszwecke beschäftigte, hat seine müde Hülle verlassen."

Lit. Briefband XIII, S. 483f., 487ff., 540-541. - Werkband XXVII, S. 457, 462. - XXVIII (Entgegnung auf E. Bibers Buch, noch nicht erschienen). - Pestalozziblätter 1883, S. 33-36 (J.J. Huber, Birrer Erinnerungen) 1904, S. 17-23 (Akten zum Sterbelager). - J.B. Bandlin, Der Genius von Vater Pestalozzi, 1846, S. 392, 396. - H. Morf, Pestalozzi, Band IV, 1889, S. 614. - Hans Ganz, Pestalozzi, 1966, S. 282. - F. Delekat, Pestalozzi, 3. Auflage 1968, 82ff. - Pestalozzianum 1973 Nr. 4 (Heinrich Pestalozzis letzte Worte).