Emanuel Dejung:

Resultate der kritischen Gesamtausgabe von Heinrich Pestalozzis Werken und Briefen (1977)

Christoph Dejung

Der 150. Todestag Heinrich Pestalozzis am 17. Februar 1977 ist wohl ein gegebener Anlass, sich auf die Ergebnisse der kritischen Edition zu besinnen, auch wenn dieses Unternehmen noch nicht ganz zum Abschluss gekommen ist. Seit 1923 in Vorbereitung, war vor genau 50 Jahren, zum 100. Todestag der erste Band der sämtlichen Werke erschienen. Eine erste Planung hatte etwa 20 bis 25 Werkbände und 8 bis 10 Briefbände vorgesehen. Durch mancherlei Umstände und Hindernisse verzögert, hat die Gesamtausgabe bis Ende 1976 zusammenfassend 39 Bände veröffentlichen können; die letzten fünf Bände der Schriften sollen bis 1980 fertiggestellt werden.

Die wechselvolle Geschichte der wichtigen Edition von Artur Buchenau, Eduard Spranger und Hans Stettbacher, welche das Werk begründeten, mit Walter Feilchenfeld Fales bis 1938 als Redaktor, wird vielleicht nach dem Abschluss in einem Ergänzungsband zu schildern sein. Hier möchten wir nur in kurzen Hinweisen und Andeutungen dartun, welche Hauptergebnisse bisher vorliegen, vor allem auch ihre Bedeutung für das Lebensbild, für die Gedanken Pestalozzis; dazu sollen auch Erläuterungen für die Einreihung seines Schaffens in die allgemeine Geistesgeschichte geboten werden.

I

Zahlreich sind schon bisher die Publikationen, welche eine Biographie des berühmten Pädagogen und Menschenfreundes oder mindestens Teilaspekte dazu zu geben versucht haben. Viel Stoff liegt jetzt vor, der noch in keinem Lebensbild enthalten ist: Die neue Werkreihe hat schliesslich neben 160 bekannten Schriften deren gegen 150 unbekannte zu drucken, während die Korrespondenz neben den bisherigen 1050 Briefen nunmehr rund 6300 Schreiben umfasst.

Von der Herkunft und der Berufswahl Pestalozzis bis zu seinem Lebensende sind Retuschen und Änderungen in der Biographie nötig, wenn eine heutigen Ansprüchen genügende wissenschaftliche Gesamtdarstellung versucht werden soll. Deutlicher als früher tritt in Erscheinung, dass die übergrosse Bescheidenheit und Güte sich für sein Verständnis eher schädlich ausgewirkt hat, indem er selbst seine Leistungen öfters untertrieben hat. Dazu kommt, dass die Ergebnisse der im Erscheinen begriffenen Edition noch vielfach nicht in die Literatur eingegangen sind, so dass frühere Publikationen in manchen Teilen sich als überholt erweisen. Überhaupt kann eine neue fundierte Biographie erst nach dem Abschluss der kritischen Ausgabe geschaffen werden, sobald auch eine neue, stark ergänzte Literaturzusammenstellung die wechselnden Auslegungen zugänglich macht. Einige Beispiele mögen die Resultate der neuen biographischen Grundlagen dartun.

Der Zusammenbruch von Pestalozzis erster Anstalt auf dem Neuhof, 1780 erfolgt, wurde bisher in üblicher, aber unrichtiger Weise seiner Unbrauchbarkeit zugeschrieben; das Scheitern wurde aber von seinem Bruder Baptist verursacht, indessen Heinrich Pestalozzi angelastet. Eine entscheidende Wendung in Pestalozzis politischer Haltung wurde im Stäfner Handel von 1795 und in dem philosophischen Hauptwerk "Meine Nachforschungen" 1797 angebahnt. Diese wird aber erst ganz verständlich, wenn auch in bisher unbekannten Schriften Erlebnisse vom Frühjahr 1798 beigezogen werden. Danach hat der vermittelnde Staatsreformer, in der Stadt Zürich und am Zürichsee persönlich bedroht, wegen Lebensgefahr es vorgezogen, für einige Zeit nach Liestal auszuwandern. Der nächtliche Unfall bei Cossonay 1804 hatte wichtige psychologische Folgen, die bisher nicht voll erkannt wurden.

Die tragische Altersperiode des grundgütigen Pädagogen kann erst nach Beizug aller jetzt erstmals gedruckten Quellen begriffen werden. Nicht in erster Linie der Hader zwischen Lehrern, sondern der Widerstand von Mitarbeitern gegen Pestalozzi selbst löst, jetzt dokumentarisch belegt, das psychologische Rätsel dieser letzten Jahre. Die von J. Niederer überarbeitete Lenzburger Rede von 1809 hat zu einer noch heute schwebenden Interpretationsfehde Anlass gegeben. Pestalozzis Ansicht wird aber erst deutlich erkennbar, wenn man auch die Ursachen und Auswirkungen der spätern, jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Haus Niederer kennt. Erst jetzt wird plausibel, wie dieser seit 1803 wirkende Mitarbeiter zehn Jahre nach Pestalozzis Tod dazu kam, die Autorschaft für dessen neue Lehrweise für sich zu beanspruchen; die originale Methode war in Druckwerken ("Wie Gertrud", "Die Methode") schon 1801 aller Welt bekannt geworden. Bisher kaum beachtet wurde auch das Faktum, dass ein vorgeschobener junger Lehrer E. Biber 1827 Pestalozzi in seiner Streitschrift aufs heftigste anfocht, sich jedoch nach wenigen Jahren in England zum Apologeten des Bekämpften wandelte.

Es versteht sich aus den neuen Voraussetzungen ohne weiteres, dass keine bisherige Biographie mehr wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, sondern nach 1980 ein Lebensbild aus dann zur Hälfte erstmals gedruckten Quellen aufbauen muss. Vorläufig hat man sich mit überholten, wenn auch manchmal höchst trefflichen Lebensdarstellungen abzufinden, bis alle Quellenunterlagen und die zugehörige Bibliographie zur Verfügung stehen. Diese Rücksichtnahme auf die Forschung gilt nicht nur für das Lebensbild, sondern auch für die volle Erfassung von Pestalozzis Gedankenwelt.

II

Auch Pestalozzis Ideengang hat in früheren Werken mehrfach zu verschiedener Interpretation Anlass gegeben. Wir möchten nur in Hinweisen zu einigen Teilgebieten wie Religion und Philosophie, Politik und Erziehung sowie zu Einzelfächern darlegen, in welcher Weise schon heute das Verständnis Pestalozzis verbessert ist, wenn man die Mühe nicht scheut, die neu dargebotenen Schriften und Briefe diesbezüglich zu studieren. In deren mächtig angeschwollenem Umfang mag auch gelegentlich die Ursache liegen, dass man sich mit der Lektüre des bisherigen, ungenügenden Quellenstoffes begnügt.

In Sachen Religion ist der Zürcher Pädagoge schon zu Lebzeiten mehrfach angegriffen worden, so durch Karl Ludwig von Haller aus politischen Gründen, durch Pfarrer J. Niederer aus persönlichem Anlass. Noch in unserm Jahrhundert haben Darstellungen wie diejenige von Karl Würzburger 1941 und Karl Müller 1952 wegen zu einseitiger Auffassung, ohne Kenntnis unbekannter Schriften Pestalozzis, nicht vollen Beifall gefunden. Aus der Gesamtausgabe möchten wir nur etwa "Sieben Tage bei Pfarrer Samuel", 1799, und "Geist und Herz in der Methode", 1805, als fernere Grundlagen erwähnen sowie die Schriften von 1805 bis 1807 zur sittlich-religiösen Bildung.

Aufbauend auf der Reformation Ulrich Zwinglis, stand Pestalozzi durch die mütterliche Familie dem Pietismus nahe, was schon 1780 in der "Abendstunde" zum Ausdruck kam, als Neigung zu einer innerlichen Religion, im Gegensatz zur verstandesmässig konservativen Kirche seiner Zeit. Doch kam schon früh auch ein rein humanitäres Christentum bei ihm zur Geltung, bis sich nach einer Periode eines starken Pessimismus, in der Notzeit des Neuhofes, eine endgültige Klärung seiner Gedanken einstellte. Pestalozzi verschmolz in genialer Synthese zwei Tendenzen, die man sich häufig wie Feuer und Wasser als unvereinbar vorstellt. Diese vereinigt, vielleicht beruflich bedingt, seine Zuneigung zu biblischer Tradition mit einer religiösen Haltung, die sich durch Betätigung, nicht durch Dogmen und unfruchtbare Diskussion bewähren möch-te. Das Herz, das Gemüt hat er damit gegenüber der intellektuellen Schulung in den Vordergrund gestellt.

Zum Thema Philosophie sind die auseinandergehenden Ansichten noch nicht ganz abgeklärt worden, weil auch die entscheidende "Lenzburger Rede" Pestalozzis, 1810 erstmals gedruckt, als Umarbeitung Johannes Niederers, in der kritischen Ausgabe erst 1979 erscheinen wird. Paul Natorp vertrat ab 1905 eine einseitig verstandesmässige Auffassung, die sowohl überweltliche wie unhistorische Darlegung bedeutete, den gedanklichen Realismus Pestalozzis verkannte. Neuere Forschung hat den Parallelismus wie auch seine teilweise Gegensätzlichkeit besonders durch Arthur Stein in Beziehung auf Kant untersucht. Seine Lehre vom Menschen, seine anthropologische Auffassung wird für Pestalozzi noch eine Weile Stoff zu näherer Untersuchung abgeben.

Zur Politik Pestalozzis verhilft, wie schon oben ausgeführt, nur diejenige Erforschung zu einem klaren Entscheid, die nicht mit den Gedanken und Schriften Pestalozzis sich begnügt, sondern auch sein eigenes Erleben und die Landes- wie Erdteilsgeschichte mit einbezieht. Sieht man einäugig im jugendlichen Pestalozzi nur den Revolutionär, im alten nur den Konservativen, so ist ein unrichtiges Urteil unvermeidbar. Durch seine Herkunft zum vermittelnden Politiker geboren, stand der Pädagoge und Sozialhelfer zeitlebens, mit Ausnahme der Helvetik 1798 bis 1803, im Gegensatz zu den herrschenden Mächten, in innerer Emigration, was ihn aber nicht hinderte, durch persönliche nahe Verbindung auf seine Landsleute einzuwirken, wie auch im entscheidenden Augenblick 1802 beim Diktator Napoleon, wie zur Zeit des Wiener Kongresses beim russischen Zaren und beim preussischen König sich für sein Vaterland einzusetzen.

Im politischen Alterswerk "An die Unschuld" von 1815 prägte Pestalozzi den Satz: "Der Anfang und das Ende meiner Politik ist Erziehung." Auch hier hat sich mehr als eine Diskussion über die naturgemäss sich im Lauf des Lebens ändernde Haltung eingestellt. Wir begnügen uns mit einem markanten Beispiel. Friedrich Delekat hat in seinem Pestalozzi-Buch in erster Auflage 1926 von einer veränderten Auffassung des Pädagogen Ausdruck gegeben, die er in der dritten Auflage 1968 widerrufen hat: "In der ersten Auflage dieses Buches habe ich von einer "Umorientierung" Pestalozzis gesprochen, die mit den "Ansichten und Erfahrungen" (1805-1807) einsetze und derzufolge er in seinen Spätschriften anstelle der "Anschauung" die "Liebe" zum Fundament der ganzen Methode habe machen wollen. Dem hat Theodor Wiget in den Pestalozzi-Studien, III, Berlin 1932, mit Recht widersprochen. Eine "Umorientierung" liegt nicht vor. Wohl aber hat Pestalozzi unter dem Eindruck zeitgenössischer Polemik im Alter die sittlich-religiöse Bildung stärker in den Vordergrund geschoben; in "Wie Gertrud" klappt sie gleichsam nach."

F. Delekat hat in seinem Werke 1968 die Bände der kritischen Edition für die Alterszeit noch nicht zur Verfügung gehabt. Diese belegen ein vermehrtes Gewicht auf der Wohnstubenerziehung Gertruds, gegenüber dem Leutnant Glüphi der frühern Fassung, wie auch, gerade in der Proklamierung der Armenschule von 1818, ein mehr soziales Bildungsziel, im Gegensatz zur allgemeinen Menschenbildung, wie sie vornehmlich vorher J. Niederer verkörpert hatte. Ein gesamter Überblick dieser Fragen wird erst nach Abschluss der kritischen Ausgabe möglich sein.

III

Um einen Massstab dafür zu gewinnen, welche Bedeutung der kritischen Gesamtausgabe zukommt, ist einerseits noch ein Hinweis auf die Fächer notwendig, welche durch sie besonders gefördert wurden, und zugleich eine kurze Darstellung der Rolle, die sie sowohl im Rahmen der frühern Editionsgeschichte, wie innerhalb der sie begleitenden Auswertung der Forschung einnimmt.

Man hat schon früher Pestalozzi als Hauptverdienst die Begründung einer neuen Bildungsweise bzw. Methode zugeschrieben. Schon zu Lebzeiten waren seine Lehrbücher von 1800 bis 1804 allgemein bekannt, deren Einseitigkeit freilich dem Verfasser den Vorwurf des Intellektualismus eingetragen hat. Die Schriften zur sittlich-religiösen Bildung, meist 1805 bis 1807 geschaffen, sind zum Teil erst durch die kritische Gesamtausgabe bekanntgeworden, wie auch die Arbeiten zur physischen und beruflichen Seite, 1806 bis 1809, erst jetzt dem Leser zugänglich wurden. Haben H. Krüsi und J. Niederer bei den Lehrbüchern mitgewirkt, so hat sich ein junger Lehrer, Joseph Schmid, um 1808 bis 1810 in den Fächern Mathematik und Geometrie besonders ausgezeichnet.

Dem Übergewicht der mathematischen Ausgestaltung der Methode hat Pestalozzi selbst seit 1813 entgegenzuwirken gesucht, indem er sich vor allem um die Sprache bemühte. Man kennt bis heute diese Anwendung der neuen Lehrart wenig, vielleicht auch darum, weil sich nicht alle Unterlagen erhalten haben. In zwei Richtungen zielte dabei seine Bemühung. Wir können hier nur seine Dichtwerke andeutungsweise erwähnen, wie die Prosahymne an Frau von Hallwil, von 1808, rund 100 Druckseiten stark, und den als Psychotherapie für sich selbst geschriebenen Trostgedichte-Zyklus vom Sommer 1817. Die auf die Praxis gerichtete Tendenz liess auch die "Deutschen Sprachübungen" von 1817/18, ähnlich wie "Der natürliche Schulmeister" von 1803 bis 1804, sowohl in grammatikaler Eigenart, wie in einigem dichterischem Glanz in Erscheinung treten. Die spätern Bestrebungen um die Förderung des Sprachunterrichts, die sowohl der Muttersprache als auch den alten Idiomen galten, gingen als Manuskript teilweise verloren. Sie sind aber noch erkennbar in Arbeiten von Mithelfern wie K. H. Marx, W. Stern, besonders aber von St. L. Roth und J. Hirt. Wohin Pestalozzis Zielsetzung ging, lässt sein Lebensrückblick "Mein Schwanengesang" noch ahnen.

Immer ist sich der Leiter von Burgdorf und Yverdon bewusst gewesen, dass er nur durch seine Lehrer dazu gelangte, den genialen Wurf seiner neuen Lehrweise auf die Einzelfächer anzuwenden. Deutlicher als bisher treten durch die Gesamtausgabe einige Persönlichkeiten in Erscheinung, wobei wir, nur in Andeutung und mit Lücken, Vertreter namhaft machen können. Waren in Sprache und Religion zunächst H. Krüsi und J. Niederer bedeutsame Mithelfer, so kamen nach der Mathematik mit J. Schmid für Geographie zur Geltung: G. Tobler, W. M. Henning, für Geschichte Th. Schacht. Die musischen Fächer wurden von bekannten Persönlichkeiten bearbeitet, so die Musik von H. G. Nägeli und M. Pfeiffer, das Zeichnen von J. Schmid und J. Ramsauer sowie besonders in der Spätzeit von J. M. Perrier. Lebensbilder von allen wichtigen Lehrern werden für das Verständnis Pestalozzis sich als unentbehrlich erweisen.

Die Kenntnis von Pestalozzis Leben und Werk ist im Schweizervolk stark verbreitet, besonders bei Vertretern der Volksbildung, bei den Pädagogen der Volksschule. Hier herrscht noch vielfach das von Jugend auf eingewurzelte Vorurteil: Wir kennen doch Pestalozzi! An der Auswertung der kritischen Gesamtausgabe mit ihrem vielen biographischen und methodischen Stoff hapert es noch häufig, wegen zwei Lücken, die mit der Editionsgeschichte des Zürcher Pädagogen zusammenhängen. Ein Rückblick auf die letzte grosse Ausgabe und ihre Folgewerke kann dies erläutern.

In zwölf Bänden hatte die Pestalozzi-Ausgabe von L. W. Seyffarth (2. Auflage) 1899 bis 1902 das Geistesgut des universellen Schriftstellers erschlossen. Im Anschluss daran erschienen zwei ergänzende Werke, die heute noch fehlen. A. Israel bot 1903 bis 1904 in drei Bänden eine kommentierte Literaturübersicht, mit dem Fremdwort Bibliographie bezeichnet. Dieses Werk des sächsischen Seminardirektors war nach dem Stand der damals greifbaren Unterlagen ausgezeichnet gestaltet, ist aber heute vielfach zu berichtigen und weist auch häufig Lücken auf. Die jetzige Sammlung von Titeln weist gegenüber dem Stand vor 70 Jahren mit knapp 4000 Nominationen, einen auch für das 19. Jahrhundert ergänzten Bestand von über 12'000 Zetteln auf.

Schon vor dem Erscheinen von Seyffarths Ausgabe und Israels Bibliographie hatte H. Morf eine vierbändige gründliche Biographie geschaffen, die auch heute noch lesbar ist. Unmittelbar nach Seyffarth folgte der Versuch eines wissenschaftlich fundierten Lebensbildes durch Paul Natorp, in Gresslers Klassikern der Pädagogik, Band 23, 1905. Ihm entsprechend, mit viel unterrichtlichem Anklang, schrieb Alfred Heubaum 1910 eine vortreffliche Biographie, in dritter Auflage 1929 erscheinend. Beide boten bleibende Werte, müssen aber als überholt bezeichnet werden, weil die viel reichern Unterlagen der Jahrzehnte seit 1927 Lücken und Irrtümer namhaft machen.

Beim Fehlen der letzten Bände und des Nachtragsbandes der kritischen Ausgabe sind auch neuere Publikationen über Pestalozzi der Gefahr ausgesetzt, nur eine Vorstufe zu einer wissenschaftlichen Biographie darstellen zu können. Die zahlreichen Bücher von Alfred Rufer und das fünfbändige Sammelwerk von Herbert Schönebaum, 1927 bis 1954, bleiben unentbehrliche Hilfsmittel für die Kenntnis und das Verständnis des Zürcher Schriftstellers. Wirkliche Fortschritte neben dem Gang der Gesamtedition bedeuten: durch gedankliche Verarbeitung das Buch von Ernst Otto, Berlin 1948, das in mehrere Sprachen übersetzte Werk von Käte Silber, Heidelberg 1957, und das vertiefte Buch von Friedrich Delekat, zuerst 1926 herausgekommen, in dritter Auflage mit ganz verändertem Inhalt 1968 gedruckt. Während zahlreiche populäre Lebensbilder und Einzelforschungen, zu Ländern und Landesteilen, zu Mitarbeitern Pestalozzis stets möglich sind, ist für eine wissenschaftliche Biographie das Erscheinen aller vorhandenen Unterlagen bis 1980 abzuwarten.

IV

Was bedeutet Pestalozzi in seinem innern Werte an sich, für die Gegenwart und Zukunft? Mit einem Blick auf die Geistesgeschichte seit dem 18. Jahrhundert möchten wir Leben und Werk des Zürcher Schriftstellers gesamthaft auszudeuten versuchen.

Im 18. Jahrhundert erlebte Pestalozzi eine Zeit der Unterdrückung durch Monarchen und Regenten, dann eine Periode der Volkserhebung mit anschliessend zwei Diktaturen, endlich eine Restaurationsepoche der alten Mächte unter Führung Metternichs, zugleich das beginnende Industriezeitalter. Als Zeitgenosse von Kant, Fichte und Hegel hat er eine philosophische Lehre vom Menschen entwickelt, die in entscheidenden Punkten von den frühern idealistischen und autokratischen Tendenzen, wie von den mit Marx aufkommenden naturalistischen Thesen abwich. Er ist nicht nur der grosse praktische Erzieher und Methodiker, nicht nur der Armenfreund und Vorkämpfer des untertänigen Volkes, sondern darüber hinaus ein tiefer Denker, mit einer für uns barock wirkenden, zähflüssigen und grüblerischen Schreibweise, der immer wieder um die allgemeinen Fragen des Menschseins und der Kultur rang.

Mit seiner Wohnstubenerziehung, seiner harmonischen Bildung von Kopf, Herz und Hand, wobei sich ihm das Gemüt als existenzielles Zentrum erwies, hat er grundlegend die Hauptfragen von Erziehung und Unterricht weiter gebracht. Sein realistisches, experimentierendes Vorgehen wurde zum Fundament der modernen Erziehung; er wirkt erstaunlich modern, auch wenn seine Ideen erst in unserm Jahrhundert vollständig bekannt wurden, und seine Richtlinien kaum schon irgendwo ganz zur Anwendung gekommen sind.

Die politische Unsicherheit der damaligen Umbruchszeit, die Gefährdung des Individuums durch den übermächtigen Staat unter Robespierre und Napoleon I., sodann das allmählich von der Technik beherrschte Bildungswesen wirken für unser heutiges Leben merkwürdig aktuell. Seine Zeit mit Feudalismus, Revolution und Restauration entfaltete zwar oft gegensätzliche Grundzüge, so dass er meist in innerer Emigration leben musste. Aber erst teilweise ist heute der Wunsch dieses demokratischen Schweizers erfüllt, dass allen Menschen eine genügende Ausbildung gegeben werden möchte.

Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die ganze Welt durch eine Gefährdung der menschlichen Existenz stärker als je bedroht. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts registriert zugleich eine zunehmende Abkehr vom Staat, eine Kulturrevolution mit der Verneinung vieler bisheriger Einrichtungen, einen Negativismus mit Verzicht auf jedes überpersönliche Streben, damit einen vielfachen Rückfall in Egoismus und Bestialität. Darauf hinaus lenkt Pestalozzis Mahnung in seinem politischen Alterswerk von 1815: "Lasst uns Menschen werden, damit wir wieder Bürger, damit wir wieder Staaten werden können!" Der Technik, die 1945 ins Atomzeitalter münden sollte, kommt bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle zu.

Die technisierte Zivilisation hat bisher keine Ethik hervorgerufen, welche den inhumanen Rückfall bändigen, die innern Massstäbe einer echten Menschlichkeit zur Geltung bringen könnte. In einer nur materiell und ökonomisch eingestellten Massengesellschaft ist der Einzelmensch oft ganz sich selbst überlassen. Das atomare Zeitalter raubte seit 1945 gerade auch den besten Jugendlichen viele Hoffnungen, manche Ideale. Beim genialen Pestalozzi, dem grundgütigen und erzgescheiten Menschenfreund, kann jung und alt wieder innerliche Hilfe finden, wenn auch seine Gedanken von vielen unserer Zeitgenossen noch entdeckt werden müssen.

Schon immer berühmt durch sein Mitgefühl für das Kind, die Armen und Schwachen, hat Pestalozzis Herz früh die Mitmenschen und die Nachwelt ergriffen. Langsamer dringen seine Gedanken, seine zukunftsweisende, gewaltige Ideen-welt in unser Zeitbewusstsein ein, werden dafür über unser Jahrhundert hinaus wirksam bleiben. Wir möchten mit einem Mahnruf schliessen, den der Dichter Hermann Hiltbrunner am Vorabend des Weltkriegs vor dem Denkmal Pestalozzis in Yverdon geäussert hat:

"Wir kennen unsern Besten nicht. Nach dem grössten Schweizer rufen wir. Aber der Beste, den wir haben und doch nicht haben, den kennen wir nicht!"

Denkspruch etwa um 1800 - 1805

Ich habe keinen Kopf, ohne mein Herz wäre ich ein Narr; und wo ich meinem Herzen nicht getreu bin, da bin ich es würklich. Sagen Sie den Weisen, die ohne ein Herz, bloss durch den Kopf Menschen zu bilden möglich glauben, ich glaube hingegen, der liebe Gott würde das selber nicht können.

Pestalozzi

Autograph, Bayerische Staatsbibliothek München, Werkband XVII A, S. 228 und S. Vl.