Pestalozzi in China (1908-2008)

Gu, Zhengxiang

Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), der weltweit bekannte Pädagoge aus der Schweiz, der auch „Vater armer Kinder“, „Erzieher des Volkes“ und „Freund der Völker“ genannt wird, hat bereits zu seiner Lebzeit in Deutschland, Russland, auf dem Balkan, in Skandinavien und anderen europäischen Ländern zahlreiche Anhänger gefunden. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelangte der Einfluss seines Werkes über die Atlantik hinaus nach Amerika. Wann und wie aber wurde Pestalozzi in China, einem geographisch so weiten und sprachlich wie kulturell nicht verwandten Land, bekannt?

Nach unserer Recherche fand Pestalozzi dort schon gegen Ende der letzten Kaiserzeit seinen ersten Eingang in die chinesische Diskussion. Im Jahre 1908 steht der Name Pestalozzi erstmals in einem chinesischsprachigen Namenslexikon mit dem Titel „Kurzbiographien weltberühmter Persönlichkeiten“, welches auf die englische Originalausgabe Chambers Biographical Dictionary zurückgeht und bei einem chinesischen Universitätsverlag gedruckt wurde. Darin befindet sich zwar nur ein knapp formulierter Artikel mit fünf, sechs Zeilen, in denen keine detaillierten Lebensstationen und keine Werktitel Pestalozzis genannt werden. Jedoch gab er in einer zusammengefassten Form ein recht treffendes Bild über die Bedeutung seiner Lehre und stellte fest, dass Pestalozzi ein Mann war, der sich grosse Verdienste um die europäische Erziehungswissenschaft erworben habe, von allen Europäern geachtet und als Wegbereiter der Neueren Pädagogik angesehen werde. Besonders interessant ist der komparatistische Aspekt, indem die Lehre Pestalozzis mit der konfuzianischen Philosophie verglichen wird.

世界名人传略 Chambers Biographical Dictionary, [英] 张伯尔原本, 上海山西大学堂译书院译印, 上海: 商务印书馆代印, 1908年出版. 收录“巴斯德罗奇“条目(页14), 开了裴氏在华译介的先河 Titelblatt des chinesischsprachigen Namenlexikons (1908), in dem Pestalozzi erstmals in China Eingang gefunden hat

Acht Jahre später, im Jahr 1916, also vor über 90 Jahren, erschien in Shanghai in einer pädagogischen Reihe des renommierten Verlags „Shangwu Yinshuguan“ die erste selbständige Pestalozzi-Biographie in chinesischer Sprache. Es war eine Miniaturausgabe im blauen Umschlag und einem Text mit 12 Seiten, zu dem als Anhang eine Fichte-Biographie hinzugefügt wurde. Der Verfasser Zhu Yuanshan war Pädagoge und Herausgeber mehrerer pädagogischen Zeitschriften, der das feudale chinesische Erziehungssystem kritisch betrachtete und sich bemühte, die westliche bürgerliche Erziehungslehre in China einzuführen, obwohl er selbst Mandarin der chinesischen Qin-Dynastie war. So hat er manche Verwandtschaft mit der Lehre Pestalozzis (是) entdeckt. Zu Beginn des Textes stellt er die rhetorische Frage: „Wer ist Pestalozzi? Er ist ein grosser Pädagoge der Welt, nach dessen Gedanken sich heute jeder Pädagoge richtet.“

裴斯泰洛齐纪念歌

浙大吴教授词
武宝琦曲, G调4/4
1943年儿童节前夕创作演唱
歌词翻译: 顾正祥 & Hauser, Helmut

普天之下,
孩子们的爸爸,
裴斯泰洛奇,
来听我们歌唱,
接受我们的颂扬,
真诚而善良,
仁爱而慈祥.
你的爱是我们的雨露,
你的笑是我们的阳光,
你的手指着我们方向,
你的心是引路的灯光,
你培育出我们的生命之花,
你领导我们走向天堂,
愿你的名永扬,
愿你的恩爱无疆!

摘自: 雷道真: 浙江大学音乐生活六十年
Johann Heinrich Pestalozzi. Ein Lied zu seinem Gedenken
Dichtung: Prof. Wu; Musik: Wu, Baoqi
gesungen von über 100 Kindern auf dem Internationalen Kinderfest 1943 in Hangzhou
Übertragung des Textes:
Gu, Zhengxiang & Hauser, Helmut

unter allen Himmeln
du Vater der Kinder,
Pestalozzi,
zu unserem Lied eingeladen
nimmst unseren Gesang entgegen
wahr, voller Güte und Liebe
wie Tau und Regen für die Natur
dein Lächeln ist uns Sonnenschein
deine Hand unser Wegweiser
und dein Herz leuchtet dazu
du pflegst Blüten des Lebens
und führst uns himmelwärts
dein Name sei ewiger Glanz
und deine Liebe ohne Grenzen

aus:
Lei, Daozhen: 60 Jahre Musikleben der Zhejiang-Universität

In den 1920er Jahren ist nur eine Veröffentlichung zu verzeichnen, die auf Pestalozzi eingeht: Die Monographie des amerikanischen Wissenschaftlers Graves „Die großen westlichen Pädagogen aus den letzten drei Jahrhunderten“ in chinesischer Übersetzung, die ein eigenes Kapitel über Pestalozzi mit 30 Seiten enthält. Das war der bisher umfangreichste Beitrag, der Pestalozzi gewidmet ist. Rückblickend entstand in jedem der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts jeweils eine Veröffentlichung – ein recht langatmiger Auftakt der chinesischen Pestalozzi-Rezeption.

In den 1930er Jahren ergab sich jedoch ein deutlicher Zuwachs, indem nach vorläufiger Einschätzung neun Titel zu Pestalozzi veröffentlicht wurden. Neben sieben Titeln der Sekundärliteratur in Form von einzelnen Lexikonartikeln und Kapiteln in Kulturgeschichten oder erziehungswissenschaftlichen Monographien, finden sich nun auch zwei Titel der Primärliteratur. Es handelt sich um zwei verschiedene Versionen der chinesischen Übersetzung des berühmten Romans „Lienhard und Gertrud“ (Peking 1933; Shanghai 1937), die jeweils nach einer englischen Vorlage entstanden.

Einen Höhepunkt erreicht die Pestalozzi-Rezeption in China, als im Jahr 1946 zu Pestalozzis 200sten Geburtstag eine grössere Veranstaltung stattfand. Diese Veranstaltung, an der viele Lehrer und Studenten teilnahmen, wurde von der damals wie heute berühmten Zhejiang-Universität organisiert, die infolge des achtjährigen japanisch-chinesischen Krieges provisorisch noch in der binnenländischen Kleinstadt Zunyi ansässig war. Anlässlich dieser Veranstaltung wurde eine weitere selbständige chinesische Monographie veröffentlicht, die in Umfang und Qualität die bereits erwähnte frühere übertraf (118 S.). Neben dieser Monographie sind noch fünf weitere Publikationen aus den 1940er Jahren zu vermelden, in denen Pestalozzi gewürdigt wurde. In diesem Zusammenhang sei ein Pestalozzi gewidmetes chinesisches Kinderlied erwähnt. Im Jahr 1943 hat ein chinesischer Professor und Pädagoge namens Wu den Liedtext geschrieben und ihn dann von einem seiner Studenten namens Wu Baoqi vertonen lassen. Auf dem Internationalen Kinderfest desselben Jahres wurde dieses Lied von mehr als 100 chinesischen Kindern gesungen.

 

In den 50er, 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gibt es einen deutlichen Rückgang der Pestalozzi-Rezeption in China, der auf die dortige politische Situation zurückzuführen ist. In diesen 30 Jahren, insbesondere in der zehnjährigen so genannten Kulturrevolution hat die ausländische Kultur, die pauschal als „kapitalistisch“ und „revisionistisch“ missdeutet und missachtet wurde, sehr gelitten. Unter diesen Umständen ist die Neuausgabe des Romans „Lienhard und Gertrud“ wohl nur als Ausnahme zu sehen. Im Gegensatz zu den beiden früheren Ausgaben aus den 1930er Jahren wurde dieser Roman nun durch das Pekinger Übersetzungs- und Redaktionsbüro erstmals direkt aus demDeutschen ins Chinesische übertragen.

Mit der Lockerung des politischen Klimas nach der maoistischen Ära zeigt sich in den 1980er Jahren eine gewisse Erholung der Pestalozzi-Rezeption, indem er in einigen neu erschienenen Nachschlagewerken zu finden ist. Im Jahr 1988 hat die Universitätsleitung der Pekinger Pädagogischen Hochschule beschlossen, in der Galerie ihrer Bibliothek Bilder der grossen Pädagogen aller Welt und Zeit aufzuhängen, die von den Dozenten der Fakultät für Malerei gemalt werden sollten. Neben Konfuzius und anderen Persönlichkeiten wurde dabei auch Pestalozzi gewürdigt.

Eine echte Neubelebung der Pestalozzi-Rezeption fand sich aber erst in den 1990er Jahren, in denen zwei bedeutende Auswahlausgaben im kurzen Zeitabstand erschienen sind. Im Jahr 1992 erschien in Peking „Pestalozzi. Ausgewählte pädagogische Monographien“, übers. v. Prof. Xia Zhilian der Pekinger Pädagogischen Universität, beim Verlag für Volkserziehung, 513 S. Dabei wurden Pestalozzis wichtige Schriften aus allen Perioden seines Wirkens berücksichtigt. Von besonderer Bedeutung aber ist das zweibändige, 776 Seiten umfassende Werk, ausgewählt, kommentiert und herausgegeben von Arthur Brühlmeier (Peking 1994 und 1995), das Ergebnis eines jahrelangen Forschungsprojekts, das von der schweizerischen Staatsstiftung Pro Helvetia grosszügig unterstützt, von zahlreichen chinesischen und schweizerischen Wissenschaftlern durchgeführt und im Jahr 1994 von einem internationalen Symposium begleitet wurde. Die Auswahl der Texte wurde sehr sorgfältig getroffen und jedem ausgewählten Text wurde eine längere und ausführliche Einführung hinzugefügt, die dem chinesischen Leser das Verständnis der zeitlichen und kulturellen Unterschiede erleichtert.

Im Einklang mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wird in China heute auf die Erziehung so viel Gewicht gelegt wie noch nie. Dementsprechend hat auch die Pestalozzi-Rezeption eine neue Dimension erreicht. Immer mehr Werke werden neu aufgelegt (so der Roman „Lienhard und Gertrud“) oder neu veröffentlicht. Immer mehr chinesische Hochschulen greifen auf Werke von Pestalozzi als Lektüre für ihre Studenten zurück. Im Rahmen des internationalen Kulturaustausches werden immer mehr nationale und internationale Symposien veranstaltet, auf denen die pädagogische Lehre Pestalozzis lebhaft diskutiert wird. Überdies ist auch das Internet in China zu einem neuen und wichtigen Vermittlungskanal der Pestalozzi-Rezeption geworden. Zahlreiche chinesische Studenten und Pädagogen sehen sich motiviert, sich auch mit Hilfe des Internet mit Pestalozzi und seinem Werk auseinander zu setzen.

Im Jahr 2008 jährt sich das 100jährige Jubiläum der Pestalozzi-Rezeption in China, welches der „Verein Pestalozzi im Internet“ gern zum Anlaß nimmt, die Veröffentlichungen über Pestalozzi zu intensivieren und dabei auch zahlreiche Einzelseiten der Website „heinrich-pestalozzi.info“ in die chinesische Sprache zu übertragen. Zusammen mit dieser kurzen Geschichte der Pestalozzi-Rezeption in China werden hier erstmals in chinesischer Sprache zwei Pestalozzi-Bibliographien vorgelegt.

Erstveröffentlichung, Jan. 2008