Betty Gleim

Renate Hinz

Während in den sog. Klippschulen ein koedukativer Unterricht stattfindet, die Bürgerschulen aber nur der höheren Bildung der männlichen Jugend dienen, bleibt die Fortschreibung einer aktualisierten Mädchenbildung an private Initiativen gebunden, die zur Eröffnung und Führung höherer Töchterschulen, Bürgermädchenschulen und Internate führen. Diese geschlechtsspezifischen, von der berufsvorbereitenden Jungenbildung abgetrennten Erziehungseinrichtungen nehmen insofern eine ambivalente Stellung ein, als sie sich einerseits deutlich vom Elementarschulwesen abheben, andererseits aber in der Festlegung ihres Bildungsanspruches auf geschlechtskonforme Zielsetzungen begrenzt sind, indem sie die jungen Mädchen auf ihre Rolle als Gattin, Mutter und Hausfrau vorbereiten. In diese Traditionslinie ist Betty Gleims Wirken für die Mädchenbildung einzuordnen, die mit dem Rückbezug auf die Pestalozzische Methode reformerische Ansätze aufweist. Mit der 1805 gedruckten Schrift "Ankündigung und Plan einer in Bremen im Jahre 1806 zu errichtenden Lehranstalt für Mädchen" legt Gleim das Konzept eines von ihr zu eröffnenden Bildungsinstitutes vor, nach dem der Unterricht für vier- bis sechzehnjährige Mädchen in drei Klassenstufen organisiert ist und neben den elementaren Kulturtechniken und biblischen Inhalten auch Sprachen, Literatur, Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften lehrt. In der Gestaltung des Elementarunterrichtes nimmt die Schrift explizit auf Pestalozzis "ABC der Anschauung", die "Anschauungslehre der Zahlenverhältnisse" und das "Buch der Mütter" Bezug. Ostern 1806 wird die Anstalt eröffnet. Die Elementarklasse wird zunächst von der Witwe des aus Detmold stammenden Lehrers Fricke, später von Louise Köhler aus Dessau geführt. (Vgl. Kippenberg, A.: Betty Gleim. Ein Lebens- und Charakterbild. - Bremen 1882, S. 11-19.) Aufgrund des hohen Zuspruchs entschließt sich Gleim schon im folgenden Jahr, die Schulanstalt zu erweitern und ein Pensionat anzuschließen. Auch Pestalozzi nimmt an den Entwicklungen Anteil. In einem Brief an Blendermann schreibt er: "Sagen Sie Md. Gleim, wenn sie über das Eigenthümliche, das eine Mädchenschul auszeichnen muß, mit mir eintretten und mir ihre Ansichten und Erfahrungen mittheilen wolle, so werde ich mich freuen, und ich würde mir alle Müh geben, ihr, so viel mir möglich, an die Hand zu geben. Es ist mir sehr wichtig, daß ein solches Institut entstehe, und ich bin äußerst begierig über seinen Erfolg." (Pestalozzi an Blendermann [1807]. In: Johann Heinrich Pestalozzi. Sämtliche Briefe. Kritische Ausgabe Bd. 5; berarb. v. Emanuel Dejung u. Walter Feilchenfeld Fales. - Zürich 1961, S. 192.) 1810 veröffentlicht Gleim ihre Schrift "Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts", in der sie sich mit der Pestalozzischen Methode auseinandersetzt und von einer - der Pestalozzischen Klage über das Zivilisationsverderben ähnlichen - Zeitkritik ausgehend, eine allgemeine, soziale Standesgrenzen überwindende Menschenbildung fordert, deren Bedeutung für die Frauen insbesondere in ihrer gesellschaftlichen Regenerationsfunktion gesehen wird, wobei - obwohl Gleim Anhängerin der frühfeministischen Bewegung ist - die Rolle der Frau trotz der Forderung nach finanzieller Unabhängigkeit allerdings doch wieder am bestehenden Gesellschaftsbild ausgerichtet wird: Die Frau soll zum Menschen (d.h. "für den möglichen Wirkungskreis einer Gattinn, Mutter und Hausfrau" intellektuell, ästhetisch und moralisch-religiös), zum Weib (darunter "ist befaßt: Ausbildung der Geschlechtsindividualität und Vorbereitung für die mögliche Erfüllung der Pflichten in dem Berufe der Gattinn, Mutter und Hausfrau") und zur Erdenbürgerin (die sich ihre Existenzgrundlage durch Erwerbstätigkeit sichert) erzogen werden. (Gleim, Betty: Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts. Ein Buch für Eltern und Erzieher. - Neudr. d. Ausg. Leipzig 1810, Paderborn 1989, S. 82f.) Ziel des Unterrichtes ist es, ausgehend von den erkenntnisleitenden Anfangspunkten Form, Zahl, Sprache über die selbsttätige Reflexion zu einer Allgemeinbildung zu gelangen und im Hinblick auf Pestalozzis "Buch der Mütter" ein zeitadäquates Frauenbild zu stützen. Für den Elementarunterricht schlägt Gleim daher vor, auf der Grundlage des "Buches der Mütter", des "ABC der Zahlenverhältnisse" und des "ABC der Maßverhältnisse" elementare Kenntnisse und Fertigkeiten in Lesen, Schreiben, Singen, Gymnastik und Religion zu vermitteln. 1811 verfaßt Betty Gleim eine Verteidigungsschrift, die sich gegen die diffamierenden Äußerungen des aus dem Yverdoner Institut ausscheidenden Mitarbeiters Schmid richtet, in der sie sich vor allem gegen die Vorgehensweise richtet, in der Schmid über interne Institutsangelegenheiten berichtet: "Hat man Hrn. Schmid denn in seiner Kindheit gar nicht gelehrt, daß es etwas Ungeziemendes sei, aus der Schule zu plaudern?" ([Gleim, Betty]: Auch Erfahrungen und Ansichten über Erziehung, Institute und Schulen. Oder: Freimüthige, aber unpartheiische Beurtheilung der von Joseph Schmid verfaßten Schrift: Erfahrungen und Ansichten über Erziehung, Institute und Schulen. - Deutschland 1811, S. 65f.) Zur Rettung des Yverdoner Instituts schlägt Gleim vor, dieses in drei Anstalten, nämlich ein Erziehungspensionat, eine Schule und ein Lehrerseminar, zu unterteilen, die jeweils eine eigene Leitung erhalten, daß Pestalozzi aber als "die Seele des Ganzen" (Ebd., S. 68.) die "Oberaufsicht" sowie die sittlich-religiöse Erziehung beibehalte und die wissenschaftliche Ausgestaltung jedes Faches von einem kompetenten Lehrer übernommen werde. Wichtig scheint es Gleim dabei zu sein, daß die Methode auf ihre einfachen Grundsätze zurückgeführt werde und Pestalozzi zu seiner "Urabsicht" zurückkehre, ein Armen-Erziehungsinstitut zu gründen, in dem die Kinder auch im Feldbau und Industriehandwerk unterrichtet würden. (Vgl. ebd., S. 71 u. 73.) Betty Gleims besondere Bedeutung für die Verbreitung der Pestalozzischen Pädagogik in Bremen liegt in ihrer, sich in der pädagogischen Literatur dokumentierenden theoretischen Verarbeitung und der gleichzeitigen Praktizierung der Methode in ihrer bis 1815 existierenden Mädchenschule.