Wilhelm Christian Müller

Renate Hinz

Die exponierte Stellung des Pädagogen Wilhelm Christian Müller, der sich in die Reihe der Pestalozzikritiker einordnet, begründet sich in seiner langjährigen Lehrtätigkeit an der lateinischen Domschule, vor allem aber in der Leitung einer von ihm 1781 gegründeten allgemein- und partiell berufsbildenden Erziehungsanstalt in Bremen. Seine pädagogischen Grundsätze legt er in mehreren Veröffentlichungen dar. 1787 erscheint seine "Nachricht von meinem Erziehungsinstitut", gefolgt von Plänen zu dessen Verbesserung sowie Ausführungen über die Effektivität der Normalwörtermethode beim Lesenlernen (1791). Im Rahmen der im "Museum" gehaltenen Vortragsreihen setzt Müller sich mit der Pestalozzischen Methode auseinander, die er in seinen "Erfahrungen über Pestalozzi's Lehrmethode" (1803/1804) einer scharfen Kritik unterzieht. Sie erwächst aus dem grundsätzlichen Zweifel, daß Pestalozzis methodische Konzeption sich tatsächlich am genetischen Entwicklungsgang orientiere, und aus dem Eindruck, daß "seine Methode nicht vollkommen auf die Natur gebaut" (Müller, Wilhelm Christian: Erfahrungen über Pestalozzi's Lehrmethode. - Bremen 1804, S. 23.) sei.

  • Konkret richtet sich Müllers Einwand gegen Pestalozzis Vorgehen, die Ursprünge der Entfaltung der intellektuellen Kräfte in den Abstraktionen Form, Zahl, Wort zu sehen, statt sie aus den Gegenständen der kindlichen Umgebung zu gewinnen. Dementsprechend lehnt Müller auf didaktischer Ebene das Voranschreiten vom Einfachen zum Komplexen ab; ein induktives Vorgehen ist für ihn nur in naturwissenschaftlichen Fächern möglich. (Vgl. ebd., S. 23-35.)<p></p>
  • Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich auf den Formalismus der Methode. Während Müller den Volksroman "Lienhard und Gertrud" noch empfiehlt, bereitet ihm das Lesen der Schrift "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" durch die "selbstgenügende, absprechende und zugleich verwirrte Schreibart" bereits "Ekel" (Ebd., S. 6f.); die Elementarbücher lehnt er mit der Begründung, Pestalozzi wolle "eine Denkfabrik" (Ebd., S. 201.) anlegen, dann grundsätzlich ab: "Ist denn Lesen, Quadrate zeichnen, Zählen, Memoriren hinlänglich, alle im Menschen liegende Keime zur Entwickelung zu bringen, wenn es durch eine künstliche frühe Bildung nicht verbildet werden soll." (Ebd., S. 46.)

Die Frage, wie Pestalozzi zu seinen - aus Müllers Sicht "falschen" - Überlegungen kommen könne, beantwortet er mit dem Hinweis, daß Pestalozzi sich in seinen pädagogischen Beobachtungen nur auf das "Volk" beschränkt und er sich zudem nur unzureichend mit theoretischer Literatur auseinandergesetzt habe. Aus diesen Gründen habe Pestalozzi eine - fern der schulischen und gesellschaftlichen Realität sowie der pädagogischen Theoriebildung liegende - "neue Lehrmethode, ein neues Zusammenfassen mehrerer Gesichtspuncte zu Einem dargestellt"; nur sei dieses "mehr idealisch, ... apriorisch, und weniger in seinen Elementarbüchern ausgeführt, als er vielleicht selbst" (Ebd., S. 62f.) glaube.

Als Fazit hält Müller die Pestalozzische Methode in Bremen nur für begrenzt einsetzbar. Mit der Begründung, daß Kleinkinder und Schulanfänger bereits zahlreiche Vorerfahrungen besitzen und man im initiierten Bildungsprozeß dann nicht reduktionistisch beim "Nullpunkt" anfangen könne, lehnt er die Methode für die Elementarschulen ab. (Vgl. ebd., S. 70-103.) Hinsichtlich der Landschulen kommt Müller zu der Schlußfolgerung, daß Pestalozzis Methode nicht dazu beitragen könne, die Mißstände im Bildungsbereich zu beseitigen, da es der Bäuerin an Zeit fehle, ihre Kinder nach den Elementarbüchern zu unterrichten und der Lehrer mit bis zu 100 Kindern in der Klasse keine Möglichkeit habe, den Unterricht am individuellen Entwicklungsstand der Schüler auszurichten: "ich weiß aus Erfahrung", sagt Müller hierzu, "daß die faulen, schwachen und langsamen bey Pestalozzi's Methode gar nichts lernen; und die helleren Köpfe schrecklich aufgehalten werden." (Ebd., S. 114.) Nach der Erprobung der Methode in seinem eigenen Erziehungsinstitut kommt Müller zu der Überzeugung, daß ihre Anwendung für den Hauslehrer, der sich nur auf die Entwicklung eines Schülers konzentriere, sowie im Fremdsprachen- und Mathematikunterricht der Einsatz der Elementarbücher in kurzen zeitlichen Einheiten zur Gewinnung von Übersetzungs- und Kopfrechenübungen realisierbar sei. Allgemein kommt Müller abschließend zu dem Urteil: "Da die P.sche Lehrmethode keine Grundlage für die Wissenschaft giebt: so ist es unweise, wenn die Schuldirectoren oder Regenten ... sie vor hinlänglicher Prüfung in diesen Schulen einführen. Denn sie ist nach P.'s eigener Vorschrift: unschicklich, zeitfressend, ekelhaft, hinderlich, überflüssig, unnütz." (Ebd., S. 202f.) Daß Müller wenige Jahre später bereit ist, das zuvor scharf kritisierte Pestalozzische Lehrverfahren in den Grundüberlegungen zu akzeptieren und es auf den Unterricht in seinem Erziehungsinstitut anzuwenden, mag sich nicht zuletzt aus der pragmatischen Überlegung begründen, seiner Privatanstalt innerhalb der sich etablierenden Pestalozzi-Bewegung Aktualität zu verleihen und damit ihre Existenz zu sichern.