Johann Heinrich Pestalozzi. Sozialreformer - Erzieher - Schöpfer der modernen Volksschule. Eine Bildbiographie.

Michel Soëtard

Zürich: SV international/Schweizer Verlagshaus 1987. 149 S., zahlr. Abb. (Die grossen Schweizer).

Die Bildbiographie von Michel Soëtard ist keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Leben und Werk Pestalozzis, aber sie ist eine von hoher Sachkenntnis geschriebene Gesamtbiographie, die eine Fülle von Bildmaterial bietet und damit einer breiten Leserschaft Leben und Werk Pestalozzis nahezubringen versteht. Soëtard will Pestalozzi als einen zutiefst in seiner Zeit und seinen persönlichen Problemen verwurzelten Menschen nachzeichnen - das wäre der "historische Pestalozzi" -, verbindet dies aber geschickt mit den Zuschreibungen der Legende Pestalozzi: "Schöpfer der modernen Volksschule" (so im Untertitel) und beschreibt als Pestalozzis wichtigstes Ziel, "daß auch das schwächste Kind sich mit Würde behaupten kann" (Vorwort, S. 6). Soëtard gelingt mit dieser Biographie, die kritische Sicht der neueren Pestalozzi-Rezeption aufzunehmen und sie mit einer eher traditionellen Rezeption zu verbinden.

Den ersten Teil "Eine neue Welt aufbauen" unterteilt Soëtard in "Die Reform des Menschenstaates" (S. 9-36), "Der Traum vom Gottesstaat" (S. 37-49) und "Das Denken des Menschen im modernen Staat" (S. 49-60). Im ersten Abschnitt zeichnet Soëtard ein recht traditionelles Pestalozzi-Bild, nimmt die autobiographischen Einschätzungen mit auf und webt neben den familiären auch geschickt die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Probleme der Zeit und Pestalozzis Stellungnahme ein: Pestalozzi in Höngg und Richterswil, Schulzeit und der Kreis um Bodmer, Patrioten, Kluft Stadt-Land, beginnende Industrialisierung, Aufbau der Landwirtschaft und Bau des Neuhofs im Birrfeld, Scheitern und Aufbau einer Erziehungsanstalt für arme Kinder in Verbindung mit heimindustrieller Produktion und die ersten Lebensjahre des Sohns Hans Jacob. In Soëtards Text werden alle in der Literatur genannten Gründe für das Scheitern der Neuhofexperimente genannt, aber den Kern des Scheiterns sieht er in der Unvereinbarkeit, rousseausche und pietistische Konzepte miteinander zu verbinden, und in der Illusion, das Ziel der Selbständigkeit und Mündigkeit der Kinder mit dem Leben in einer patriarchalischen und autokratischen Produktionsgemeinschaft erreichen zu können. Im zweiten Abschnitt "Der Traum vom Gottesstaat" bleibt die Überschrift schwer verständlich, Soëtard gibt eine Skizze der Neuhofschriften (Abendstunde, Lienhard und Gertrud, Schweizerblatt, Über Gesetzgebung und Kindermord, Zehntenschriften, Fabeln und Christoph und Else) und des in der zweiten Fassung von Lienhard und Gertrud hervortretenden Problems der Schule und ihrer Bedeutung für gesellschaftliche Veränderungen. Schule soll nun Vorbereitung auf das Leben sein und nicht mehr wie die Neuhofschule nur die Arbeit begleiten. Glüphi verbindet Liebe und Respekt miteinander, denn das starke Eigeninteresse des Menschen opfert sich nicht selbstverständlich dem Gesamtwohl, aber Liebe allein verdirbt die essentielle Kraft des Kindes während Autorität sie lähmt. Der dritte Abschnitt stellt die politischen Ereignisse nach 1789, die die Welt erschütterten und verändern sollten, in den Mittelpunkt. Dies wird verbunden mit den persönlichen Erschütterungen Pestalozzis, dem Ende der stoffverarbeitenden Firma auf dem Neuhof und dem Drama um seinen Sohn Hans Jacob. Nach der Verleihung des französischen Ehrenbürgerrechts 1792 setzt sich Pestalozzi verstärkt mit den revolutionären Ereignissen in Frankreich auseinander, seine Schrift "Ja oder Nein?" entsteht. Die Ereignisse in Frankreich werden für Pestalozzi zunehmend zum Debakel der gesetzten Ziele, aber auch des eigenen Denkens: mit den Septembermorden von 1793 zeigt sich für Pestalozzi, daß Gewalt und Despotismus allen Regierungsformen und allen Individuen innewohnen. Mit den "Nachforschungen" (1797) ordnet Pestalozzi seine Gedanken und Vorstellungen neu und versucht, das theoretische Werk mit den Fabeln ("Figuren zu meinem ABC-Buch") ins Praktische und Verständliche zu übersetzen. Beides findet zeitgenössisch recht wenig Beachtung. Soëtard sieht nicht erst in Stans oder Burgdorf den Erzieher Pestalozzi, sondern leitet diesen schon aus den Nachforschungen ab: das Ziel des autonomen Menschen - gleichbedeutend mit dem sittlichen Zustand - kann nicht durch die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gesichert werden, sondern allein durch individuelle Bildung, durch Erziehung. In der Hoffnung auf neue Möglichkeiten für Bildung und Erziehung wird Pestalozzi zum Parteigänger der Helvetischen Regierung als 1798 die Helvetische Revolution die Verhältnisse in der Schweiz nach den Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit gewaltsam verändert und mit Unterstützung französischer Truppen sowohl das eidgenössische System als auch die aristokratischen Regime der großen Kantone beseitigt.

Den zweiten Teil seiner Biographie "Den neuen Menschen bilden" unterteilt Soëtard in die Abschnitte "Stans: Pädagogik des Herzens" (S. 61-70), "Burgdorf: Pädagogik des Kopfes und des Herzens" (S. 71-92) und "Yverdon: Pädagogik des Kopfes, des Herzens und der Hand" (S. 93-118). Pestalozzi arbeitet in Stans zwar ohne einen zuvor festgelegten Plan, aber nicht planlos. Erziehung muß von Erfahrung ausgehen und diese wiederum aus den elementaren Ver-hältnissen. "Pädagogik des Herzens" nennt Soëtard das, was Pestalozzi selbst "moralische Elementarbildung" nennt, das Kind muß für sich selbst lernen, nicht für den Erzieher. Die Verbindung von erziehen, lernen und arbeiten ist für Pestalozzi wichtig, Arbeit darf sich dabei aber nicht allein auf das Erlernen von Berufsfertigkeiten oder auf den Gewinn der Arbeit reduzieren, sondern es geht um die Fähigkeiten, die es ermöglichen, sich in allen zukünftigen Situationen zurechtzufinden. Für das Lesen und Schreiben zeigt sich ein erster Entwurf der Methode: systematischer Aufbau auf den ersten Grundbegriffen und Verzicht auf die Übernahme fertiger Lehrbücher. Die stärkere geistige Dimension, die sich auf den Intellekt richtet, bildet sich erst in Burgdorf aus, die Soëtard deshalb mit "Pädagogik des Kopfes und des Herzens" überschreibt. Soëtard bezieht sich dabei auf die geschilderten Realitäten in Burgdorf, besonders aber auf die Schrift "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt", in der Pestalozzi sich hauptsächlich mit der Entfaltung der Intelligenz beschäftigt. Aber in den letzten Briefen wird bereits die Notwendigkeit einer physischen Erziehung sichtbar, "verbunden mit technischem Unterricht und beruflicher Ausbildung, sowie ein[em] ABC sittlicher Erziehung, das das Kind an die Schwelle der Autonomie geleiten soll" (S. 79). Als die Prinzipien der Methode werden Anschauung, Vereinfachung, logische Reihenfolge, Individualisierung und Selbsttätigkeit mit dem Ziel der Autonomie genannt: den Menschen sich selbst in sich selbst finden zu lassen. Das Institut in Burgdorf wächst, die Elementarbücher werden entwickelt und publiziert, zahlreiche Mitarbeiter scharen sich um Pestalozzi und Besucher aus aller Welt besuchen Burgdorf. Pestalozzis persönliche Erschütterungen nach dem Tod des Sohns, der Entzug des Schlosses Burgdorf, sein Aufenthalt in Paris als Abgeordneter der Helvetischen Konsulta, das Intermezzo in Münchenbuchsee und die zeitweise Verbindung mit Fellenberg werden dargestellt und dann ab Mitte 1804 der Neubeginn des fast 60jährigen Pestalozzi in Yverdon. Soëtard zeichnet ein lebendiges Bild des Instituts, wo in einem Klima des Experimentierens, Beobachtens und praktischen Tuns vor allem Lehrerbildung und der Ausbau der Methode vorangetrieben werden. Als die fruchtbarsten Jahre erscheinen die Jahre um 1808/09, danach beginnen zunehmend Meinungsverschiedenheiten und finanzielle Probleme den Bestand des Instituts zu gefährden. In der Zeit des Wiener Kongresses und der auf ihn folgenden Restaurationsphase und der für die Schweiz entscheidenden langen Tagsatzung von 1814/15 verbindet Pestalozzi sein pädagogisches Werk noch einmal mit der Politik ("An die Unschuld, den Ernst und den Edelmuth meine Zeitalters und meines Vaterlandes"): der Staat muß den äußeren Rahmen des Zusammenlebens und der Erziehung gewährleisten, Autonomie des Menschen gibt es nur über Erziehung und nicht durch Herrschaft "von oben". Nach 1816 beginnt der endgültige Zerfall und endet in der Auflösung des Instituts 1825, danach kehrt Pestalozzi auf den Neuhof zurück.

In einem dritten Teil "Testament und Erbe" (S. 119-141) werden von Soëtard die letzten Lebensjahre Pestalozzis auf dem Neuhof beschrieben, vor allem seine letzten Werke vorgestellt: "Der Schwanengesang" als das letzte große pädagogische Werk, "Meine Lebensschicksale" als eine Rechtfertigung seiner Entscheidungen in den Yverdoner Auseinandersetzungen und seiner Parteinahme für Schmid, und der "Langenthaler Rede", in der Pestalozzi ein letztes Mal seine Sicht des Zusammenhangs von aufkommendem industriellem Zeitalter, Politik und Erziehung darstellt. Die abschließende Würdigung Pestalozzis endet traditionell: der große Erzieher Pestalozzi hat, auch in seiner Wirkung, Maßstäbe gesetzt für eine ganzheitliche Erziehung, aber auch für die Theorie der Erziehung. Die Ganzheit von Kopf, Herz und Hand in der Erziehung ist für Soëtard unverzichtbar, denn ihr Verzicht führt unweigerlich zur Gefahr einer dreifachen Bedrohung des Menschen: entweder durch den Kopf (Intellektualismus), durch das Herz (Relationismus) oder durch die Hand (Technizismus).

Soëtards biographische Darstellung ist im eigentlichen Sinne keine wissenschaftliche Veröffentlichung, denn er arbeitet z.B. ohne jeden Anmerkungsapparat und läßt damit nicht eindeutig die Herkunft seiner Einschätzungen erkennen. Soëtards Darstellung aber ist ein gelungenes Sachbuch, um einem breiten Interessentenkreis die Genese pädagogischen Denkens am Beispiel Pestalozzis nahezubringen und Anregungen für aktuelle Einschätzungen des Zusammenhangs von individuellen biographischen Voraussetzungen, gesellschaftlichen und politischen Einflüssen und den Zielen und Methoden erzieherischen Handelns zu geben. In der beigefügten Zeittafel (S. 144-147) ordnet der Autor Pestalozzis Leben und Werk ausführlich in den politischen, kulturellen und gesellschaftlichen zeitbezogenen Rahmen ("Ereignisse in und ausserhalb der Schweiz") ein, aber eine ausführlichere Bibliographie (S. 148) wäre gerade in einem Sachbuch, das zu weiterer und intensiverer Beschäftigung mit Einzelfragen anregen sollte, doch sehr hilfreich.

Parallel erschien 1987 in Koproduktion die französischsprachige Ausgabe unter dem Titel "Johann Heinrich Pestalozzi" in der Edition René Coekelberghs, Luzern.