"Mutter! Mittlerin zwischen Deinem Kind und der Welt!". Zu Pestalozzis Mutterbild.

Ursula Germann-Müller

Hitzkirch: ComeniusVerl. u. Zürich: Pestalozzianum Verl. 1996. 160 S.

Ursula Germann-Müller will vor allem Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern und Müttern und Vätern in der Beschäftigung mit Pestalozzi Impulse zur Auseinandersetzung mit pädagogischen Institutionen, zur persönlichen Identitätsfindung, zur eigenen Kräfteentfaltung und zum alltäglichen pädagogischen Handeln geben. Sie verbindet ihre Darstellung von Pestalozzis Mutterbild mit dem künstlerischen Schaffen von Henry Moore (18981986), in dessen Plastiken und Zeichnungen das Thema "Mutter und Kind" als Ausdruck des Humanen zum lebenslänglichen Grundthema geworden sei. So ergänzen zwölf größtenteils ganzseitige Abbildungen von Bronzeplastiken und Zeichnungen Moores zum Thema Mutter und Kind die Veröffentlichung. Die Autorin betont, daß Pestalozzi den heutigen Menschen zwar keine bleibenden Antworten mehr geben, aber nach wie vor erzieherisch wirksame Anstöße vermitteln kann. Die zeitliche Distanz läßt bei Pestalozzi allerdings auch sehr deutlich das Knäuel von persönlichen Schwächen, schlechten Rahmenbedingungen und Wirrnissen einer Umbruchszeit erkennen und macht so verständlich, daß es bei Pestalozzi nicht eine Wahrheit, sondern verschiedene Wahrheiten oder doch zumindest unterschiedliche Modifikationen von Wahrheit gibt.

In drei Themenkreisen geht Germann-Müller ihr Thema an: zuerst in der Gestalt der Gertrud, in der sie die gesellschaftlich wirkende Mutter sieht (S. 4181), dann in der reflektierenden Mutter, die sie aus den Briefen an Greaves herleitet (S. 83103) und schließlich in der mitgehenden Mutter, die den Entwicklungsphasen des Kindes folgt (S. 105128).

Im ersten Themenkreis gibt Germann-Müller eine Darstellung des Erziehungsromans "Lienhard und Gertrud", in dem der Leser miterlebt, wie sich eine Dorfgemeinschaft erneuert, eine Erneuerung, die ihren Anfang in der Familie von Lienhard und Gertrud nimmt und zwar dadurch, daß die Frau und Mutter aktiv wird. An der Gestalt der Gertrud will Pestalozzi dem Leser zeigen, was eine einfache Mutter ausrichten kann und entwirft mit Gertrud die Erziehergestalt, die seine eigenen Ideale verkörpert. Pestalozzis Anliegen in Lienhard und Getrud ist zugleich ein politisches: die Erneuerung des Gemeinwesens muß von dem Zusammenspiel von Vernunft aus dem Volk (Gertrud) und Einsicht von oben (Arner) ausgehen. Pestalozzi stellt nicht die Gesellschaftsordnung als solche oder die Stellung des Adels infrage, sondern allein die von der Obrigkeit eingesetzte Dorfverwaltung in der Person des Dorfvogts Hummel. Pestalozzi erhofft in seinem Roman die notwendigen Veränderungen von aufgeklärten Fürsten und einer aufgeklärten Obrigkeit und ist mit diesem Text tief im 18. Jahrhundert zu positionieren mit letztlich illusionären Lösungsvorschlägen für die sich abzeichnende politische, gesellschaftliche und soziale Krise. Aber die Erstfassung des Romans "Lienhard und Gertrud" entstand in ihren vier Teilen bereits in den Jahren 19811787 als die Umbrüche und Veränderungen im Gefolge der Französischen Revolution noch nicht abzuschätzen waren. Unabhängig von den Veränderungen der beiden späteren Fassungen von Lienhard und Gertrud aus den Jahren 17901792 und 1819/1820 hat Pestalozzi die Wohnstubenerziehung der Gertrud später in seinen methodischen Schriften wieder aufgegriffen und noch im Schwanengesang von 1826 hat er sich wieder auf die Gestalt der Gertrud als Modell seiner Konzepte zurückbezogen. Auch die Frauengestalten in Pestalozzis Biographie, die das Modell der Gertrud formten, von der Mutter Susanna, der Magd Barbara Schmid über seine Ehefrau Anna, der Magd Lisabeth Näf bis hin zu seiner Schwiegertochter werden beschrieben.

Aus den Briefen an Greaves (1819/19) arbeitet Germann-Müller ein anderes Mutterbild heraus, das zwar dem nun 40 Jahre älteren Autor entspricht, wobei es doch erstaune, daß der Leiter des Instituts in Yverdon nun ausgerechnet seine Gedanken über die frühe MutterKindBeziehung äußert, statt ein weiteres Mal seine Schulkonzepte zu propagieren. Nach der aktiven wendet sich Pestalozzi nun der kontemplativen Seite des Mutterbildes zu. Für die frühe Kindheit und für das frühe MutterKindVerhältnis sind danach Liebe und Glaube die entscheidenden Mittel zur Entfaltung der geistigen Kräfte des Kindes. Für Germann-Müller und darin glaubt sie sich von Pestalozzi gestärkt entscheidet allein die Mutter durch ihr Verhalten, durch ihre Form der Zuwendung und Bedürfnisbefriedigung und durch ihre sprachliche Kommunikation mit dem Kind über dessen Zukunft und damit über die Zukunft der Gesellschaft. Der Mutter die alleinige Verantwortung für das Leben des Kindes zu nehmen und die Aussagen Pestalozzis mehr aus der Distanz zu sehen, hätte insbesondere diesem mittleren Teil der Darstellung zu Pestalozzis Mutterbild gutgetan.

Im dritten Teil über die mitgehende Mutter orientiert sich die Autorin an verstreuten Aussagen Pestalozzis zum Thema Mutter und Kind und bezieht sich u.a. auf "Über Gesetzgebung und Kindermord", "Abendstunde" und "Schwanengesang". Die Entwicklungsphasen des Kleinkindes werden dargestellt und dabei die Mutter je nach den Bedürfnissen des Kindes als mitgehende, verstehende, Sicherheit gebende, ermutigende und Widersprüche bejahende Mutter herausgearbeitet, wobei die enge Verschränkung einzelner Gedanken Pestalozzis mit modernen entwicklungspsychologischen Einsichten für die Autorin offenkundig ist. Dies gilt auch für die Gedanken der Autorin zur Identität der Mutter im Wechsel der an sie gestellten Ansprüche, auch wenn Germann-Müller betont, daß Pestalozzis und damit der Mutter größte Kraftquelle der Gottesglaube sei und Stärke bei Pestalozzi sowohl aus dem eigenen Scheitern als auch aus dem Vorbild realer Mütter (z.B. Lisabeth KrüsiNäf) wachse.

Das im ganzen gut dokumentierte Buch nähert sich Pestalozzis Mutterbild zu sehr von einer einseitigen Position. Es überzeugt eher das an "Lienhard und Gertrud" herausgearbeitete und weniger das aus den Briefen an Greaves herausgefilterte Mutterbild. Zu sehr werden nur die passenden Aussagen herausgehoben, zu wenig die gesamte Aussage Pestalozzis sichtbar, zu dogmatisch werden Pestalozzis Texte interpretiert. Zu diesen Texten und ihrem Autor wird zu wenig Distanz spürbar, wozu es doch allerhand Anlaß gibt, beispielsweise in der Auseinandersetzung mit dem realen, d.h. historischen Ehepaar Pestalozzi, dem die Erziehung ihres eigenen Kindes Hans Jacob, zugegeben Jahrzehnte vor den Briefen an Greaves, völlig mißlingt. Mit keinem Wort erwähnt Germann-Müller zudem die Rolle des Vaters in der Erziehung, auch nicht das wechselseitige Verhältnis von Vater und Mutter oder der zwangsläufigen Rollenverschiebungen im Verhältnis zum älter werdenden Kind, wodurch die Frau letztlich lebenslang einzig auf ihre Mutterrolle festgelegt und fixiert wird. Solche Positionen und Gedanken können nicht mit Verweis auf Pestalozzi als heute noch aktuelle Handlungsmaximen vorgestellt werden, zumal der Bezugsautor durchaus differenziertere Positionen vertritt. So ist in den Aussagen Pestalozzis zwar die Mutter für die Gefühlsbildung der Kinder, die frühe Kindheit und stärker für die Töchter und deren Erziehung vor allem in den "höheren" Standen verantwortlich, der Vater dagegen für das ältere Kind beginnend mit der Vorbereitung auf den Schulbesuch, der Begleitung des Schulbesuchs, für den Erwerb der für ein selbständiges Leben in der Gesellschaft notwendigen "Anwendungsfertigkeiten" und für die Anforderungen künftiger Pflichterfüllung und stärker für die Söhne und deren Erziehung vor allem in den "broderwerbenden" Ständen Landwirtschaft und Handwerk. (Vgl. den Text der Vorrede zum 14. Band der CottaAusgabe, 1826. In: PSW 28, S. 2345).

Auch die mehr lebensweisheitlich ausgerichtete Vermischung von Aussagen zum Zusammenhang von Trägheit, Strafe, Ehrgeiz, Furcht, Glück, Selbstsucht, Belohnung, Wettbewerb, Liebe und Achtung in einem kurzen Abschnitt (S. 102) ordnet sich nur wenig in eine Auseinandersetzung mit Pestalozzis Mutterbild ein.