Pestalozzi. Geschichtliche Biographie

Peter Stadler

Bd. 1: Von der alten Ordnung zur Revolution (1746-1797). Zürich 2. Aufl. 1993, 511 S. Bd. 2: Von der Umwälzung zur Restauration. Ruhm und Rückschläge (1798-1827). Zürich 1993, 679 S.

Peter Stadlers zweibändige Biographie Pestalozzis umfaßt insgesamt 1.190 Seiten und ist damit aktuell die umfangreichste Gesamtbiographie Pestalozzis, allenfalls vergleichbar mit den vierbändigen Darstellungen von Morf (Zur Biographie Pestalozzi's. Ein Beitrag zur Geschichte der Volkserziehung. 4 Bde., Winterthur: Bleuler-Hausheer 1868-1889) und Schönebaum (Pestalozzi. 4 Bde., Leipzig, Erfurt, Langensalza 1927-1942). Im Untertitel macht Stadler das Charakteristische seiner Biographie deutlich: er versteht sein Werk als eine "Geschichtliche Biographie" und die Titel der beiden Einzelbände könnten ebensogut über einer historischen Darstellung der Schweiz bzw. Zürichs an der Wende vom 18. auf das 19. Jahrhundert stehen: "Von der alten Ordnung zur Revolution" (Bd. 1) und "Von der Umwälzung zur Restauration" (Bd. 2). Stadler hat Pestalozzi aus der Distanz des Historikers als realen Menschen, der in einer Zeit großer politischer und gesellschaftlicher Veränderungen und Umwälzungen lebte, arbeitete und schrieb, dargestellt. Der oft mythologisierenden pädagogischen Pestalozzi-Rezeption steht Stadler fern, er wollte bewußt keine pädagogische Biographie abfassen, läßt damit aber auch die Analyse und Interpretation der pädagogischen Werke Pestalozzis oder die pädagogische Intention in Pestalozzis Werken zurücktreten.

Eine so umfassende Darstellung erfordert für die eingehende Nutzung ein differenziertes Angebot für die Erschließung. Der zweite Band besitzt ein Personenregister, allerdings kein Sachregister. Ein Literaturverzeichnis ist nicht enthalten, die zahlreichen Literaturangaben sind in die kapitelweise gegliederten Anmerkungen eingearbeitet. Für die Sacherschließung eignet sich am besten das sehr tief differenzierte Inhaltsverzeichnis der beiden Bände, das deswegen vorgestellt werden soll:

Die Hauptkapitel des 1. Bandes:

  1. Herkunft und Kindheit (S. 25-43)
  2. Das Zürich des jungen Pestalozzi (S. 45-76)
  3. Studienabbruch, publizistische Anfänge. "Agis": Gegenwartskritik in antiker Verhüllung. Der Müller-Handel (S. 77-100)
  4. Verbindung mit Anna Schulthess. Berufsentscheidung (S. 101-130)
  5. Das Experiment von Neuhof. Gutsbetrieb zwischen Kommerz und Kindererziehung (S. 131-178)
  6. Lebenswende. Um "Grossreichtum" und Luxus. Von den politischen Reformschriften zur "Abendstunde eines Einsiedlers" (S. 179-204)
  7. "Lienhard und Gertrud" als Spiegel einer Lebens- und Zeiterfahrung. Die ersten beiden Bände (S. 205-232)
  8. Publizistisches Zwischenspiel. Vom "Schweizer-Blatt" zu "Christoph und Else" (S. 233-252)
  9. Der schwierige Abschluss von "Lienhard und Gertrud". Vom Bauern- zum Fürstenroman (S.253-269)
  10. Pestalozzi und der aufgeklärte Absolutismus - eine verschmähte Zuneigung? Der Illuminat (S. 271-293)
  11. Der Kampf um eine Reform des Strafrechts. Kindstötung und Eigentumsdelikte (S. 295-308)
  12. Die Veltliner-Frage. Der Roman in der Zweitfassung (S. 309-325)
  13. Familiäres und Finanzielles. Begegnung mit Nicolovius und Fichte. Deutschlandreise (S. 327-344)
  14. Der Kleinunternehmer (S.345-353)
  15. Die Französische Revolution (S. 355-387)
  16. Die Stäfner Unruhen und Pestalozzi (S. 389-407)
  17. Die "Nachforschungen" als politische Menschenlehre (S. 409-430)
  18. Vor dem Übergang. Fabeln, Judenfeindschaft und letzte Warnungen (S. 431-448)

Die Hauptkapitel des zweiten Bandes:

  1. Im Sog der Umwälzung. Publizist der neuen Regierung (S. 19-67)
  2. Stans (S. 69-97)
  3. Burgdorf und die "Methode" (S. 99-187)
  4. Politisches Zwischenspiel: Pariser Consulta (S. 189-215)
  5. Vertreibung aus Burgdorf. Station in Münchenbuchsee (S. 217-269)
  6. Yverdon. Die Jahre der Entfaltung (S. 271-353)
  7. Industrie und Armut (S. 355-381)
  8. Übergang zur Restauration (S. 383-413)
  9. Anfänge der Weltgeltung (S. 415-477)
  10. Yverdon im Niedergang. Führungsschwäche, Lehrerstreit und Auflösung (S. 479-540)
  11. Streitbarer Lebensabschluss (S. 541-591)

Das Inhaltsverzeichnis erschließt über diese 29 chronologisch angeordneten Kapitel hinaus noch wesentlich präziser, indem jedes dieser Hauptkapitel weiter in jeweils 3-4 Unterkapitel (römisch I-III/IV) untergliedert ist, die auch in den Text übernommen sind und zusätzlich Untergliederungen in Form von kennzeichnenden Stichworten enthält, die zwar jeweils mit Seitenangaben versehen, aber nicht in den Text übernommen sind. Als Beispiel werden die Untergliederungen des Kapitels 2 "Das Zürich des jungen Pestalozzi" angeführt, die zugleich die historische Komponente der Biographie zeigen:

  • Um die Mitte des 18. Jahrhunderts eines der Zentren europäischer Kultur 45 - Der staatliche Aufbau: kein Patriziat, dafür Kaufherren- und Unternehmeraristokratie von exklusivem Charakter 46 - Ländliche Heimarbeit als Basis des städtischen Wohlstands 48 - Banken 49 - Die Landschaft bei beschränkter Selbstverwaltung unter strikter Kontrolle 50 - Kirche und Militär 51

  • Kulturelle Ausstrahlung dank grossen Namen: Scheuchzer, Bodmer, Breitinger 54 - Sozietäten und Patrioten 58 - Rousseau als Identifikationsfigur der jungen Generation, Niedergangsbewusstsein und Reformgedanken 59 - Der Grebel-Handel als Mittel zur Politisierung der Öffentlichkeit 62 - Zürichs Zensur: der Fall Meister 64 - Angepasste und Nicht-angepasste 66

  • Interesse an der Landwirtschaft: Ökonomische Gesellschaften als Zeiterscheinung 67 - Hirzels Schrift über den Kleinjogg Jacob Gujer als europäischer Erfolg 68 - Geringere Bedeutung seines 'philosophischen Kaufmanns'. Privilegienmentalität und Theaterlosigkeit 70

  • Neue Bauten 71 - Schulreform, auf dem Lande langsame Alphabetisierung, hochschulähnliche Anstalten in Zürich 72 - Eine Stadt in Erneuerung 71"

Stadlers Pestalozzi-Biographie versteht sich vor allem als Lese- und weniger als Nachschlagewerk und der Autor hat zu diesem Zweck den Anmerkungsapparat weitgehend auf Belege und weiterführende (Literatur-) Hinweise beschränkt. Aus seiner intimen Kenntnis der Epoche hat Stadler durchaus Wertungen aufgenommen und Positionen bezogen, hält aber nichts von den oft polemisch geführten Auseinandersetzungen der pädagogischen Pestalozzi-Rezeption. Stadler, dessen Biographie erstmals auf die fast vollendete Kritische Ausgabe von Pestalozzis Werken und Briefen zurückgreifen kann, hält einen narrativen Erzählstil durch, der die Lektüre dieser Biographie zu einem spannenden Leseerlebnis werden läßt. Unterstützt wird dies durch die beigefügten Abbildungstafeln. Stadlers Biographie ist zwar keine kurze und schnelle Einführung, aber als eine flüssig geschriebene wissenschaftliche Biographie führt sie zugleich sehr umfassend in Leben und Werk Pestalozzis ein und entwirft darüber hinaus für die Schweiz ein plastisches Gesamtbild der Epoche an der Wende des 18. zum 19 Jahrhundert, das weit über die historische Pädagogik hinaus Interesse beanspruchen darf. Die Stärke der Biographie Stadlers liegt zweifellos in der Darstellung von Pestalozzis konkreten Verstrickungen in gesellschaftliche Situationen und der Darstellung von Pestalozzis sozialen, politischen, ökonomischen und historischen Gedankengängen, während die philosophischen, pädagogischen oder gar theologischen Aussagen Pestalozzis ebenso am Rande bleiben wie die Verarbeitung von Pestalozzis zahlreichen autobiographischen Aussagen. Diese hält Stadler für zu subjektiv gefärbt im Sinne eines selbstkonstruierten Selbstbildes und von Pestalozzi während seiner letzten Lebensjahrzehnte zu bewußt zum Aufbau seiner selbstinitiierten Legendenbildung eingesetzt.

Stadler wird, wie die Aufnahme seines Buchs zeigt, von beiden Flügeln der Pestalozzi-Rezeption in Anspruch genommen, sowohl von dem nach wie vor verehrenden wie dem mythen- und rezeptionskritischen. Demgegenüber betont der Historiker Stadler immer wieder die Zeitbedingtheit jeder Pestalozzi-Rezeption, was sowohl für die Positionen Osterwalders zum Pestalozzi-Kult und zu Pestalozzis "Methode" als auch für Stadlers eigene Positionen gilt, der seine Pestalozzi-Biographie als eine "geschichtliche" Biographie versteht, und der damit bewußt die pädagogischen, autobiographischen, anthropologisch-philosophischen und psychologischen Elemente in Pestalozzis Texten weitgehend ausblendet. Leider kann man Stadlers umfangreiche Biographie wegen ihres fehlenden Sachregisters und ihrer chronologisch entwickelnden Darstellung letztlich nur fortlaufend lesen und nicht als Nachschlagewerk nutzen.