Die Geschichte des Wortes "Anschauung" in pädagogischer Hinsicht von Platon bis Pestalozzi

Wolfgang Memmert

Erlangen-Nürnberg: Friedrich-Alexander-Univ., Diss., 1963, 246 S.

In den Vorbemerkungen seiner Arbeit erläutert Wolfgang Memmert, daß das "Anschauungsprinzip" zu jenen didaktischen Grundsätzen gehört, die bis auf den heutigen Tag die "eiserne Ration" für den Lehrer darstellen. Seit Pestalozzi bilde es das unumstößliche "Fundament" der Erziehung und fehle daher in keiner Unterrichtslehre.

Im Vorfeld geht Memmert ausführlich auf die historische, systematische und pädagogische Aporie des Begriffes "Anschauung" und dessen Verständis ein. Dabei schildert er, daß ihn die aus der allgemeinen historischen und systematischen Aporie erwachsene speziell pädagogische Aporie dazu zwinge, den Themenkreis "Anschauung" neu anzugehen. Es erscheint Memmert als Grundlage für jede weitere Diskussion notwendig zu sein, die geschichtlichen Entwicklungslinien aufzuzeigen. Er sagt dazu: "Nur wo man die Gesamtströmung erkennt, werden auch die Seitenarme des Entwicklungsflusses bestimmbar". (S. 8)
So verfolgt Memmert das Wort "Anschauung" auf seinen schwierigen Wegen durch die Geistesgeschichte, um Zusammenhänge und Verbindungen aufzuzeigen, die in begriffsgeschichtlicher Sicht nicht klar zutage treten. Zunächst führt er den Weg der Untersuchung in den lateinischen und griechischen Sprachraum, hier fallen Namen wie Platon, Sokrates, Aristoteles, Seneca und Marcus Tullius Cicero. Nachfolgend geht er auf die "Deutsche Mystik" und die "Deutsche Ästhetik" über und untersucht die "Anschauung" als Spekulation bei Mechthild von Magdeburg, die philosophische Fundierung der Anschauung bei Meister Eckhart, die Verbreitung des Anschauungsbegriffes in der Predigt Johannes Taulers und die Anschauung als ekstatisches Phänomen bei Heinrich Seuse. In der "Deutschen Ästhetik" berücksichtigt Memmert die Leibniz-Wolff-Schule, die anschauende Erkenntnis als Merkmal der Poetik bei G.B. Bilfinger und den "Schweizern", Lust und Unlust der anschauenden Erkenntnis bei Georg Friedrich Meier, Lehr- und Lernbares in der anschauenden Erkenntnis bei Friedrich Gabriel Resewitz und weitere mehr.

Im letzten Kapitel bringt Memmert die Systematisierung des Anschauungsbegriffes durch Kant und Pestalozzi zur Sprache. Speziell bei Pestalozzi untersucht er dabei die Assimilation des Begriffes in der Pädagogik. Memmert meint damit, daß Pestalozzi seine Ideen hauptsächlich aus den zeitgenössischen Auseinandersetzungen bezogen und brauchbare Anregungen ohne kritische Sichtung in seine Erziehungslehre aufgenommen habe. Dieser Vermutung gibt er durch den Begriff "Assimilation" in der Kapitelüberschrift Ausdruck. Memmert vergleicht Pestalozzis eigenständigen Beitrag zur Vertiefung des Anschauungsbegriffes als sogar erstmalig in der Pädagogik, der dem kantischen an Originalität ebenbürtig sei. Wäre Pestalozzi nicht jener "trockenen Kathederphilosophie" so entfernt gewesen, hätte er laut Memmert niemals das vorliegende Anschauungskonzept entwickeln können. Hier zitiert Memmert Eduard Spranger, der darüber schreibt: "Die Durchgliederung der Elementarmethode hat Pestalozzi in unbeschreiblicher Mühe auf seinem ganz eigenen Weg gefunden. Man darf sich nicht wundern, wenn diese Entdeckungen auf der einen Seite genial, auf der anderen ganz dilletantisch und hilflos sind". (S. 176)

Im folgenden stellt Memmert besonders bemerkenswerte Monographien von Friedrich Delekat, Paul Natorp und Arthur Stein vor, die neben vielen anderen Schriften mit wissenschaftlicher Akribie, aber doch subjektiv und einseitig der Frage nach Einflüssen auf die Pädagogik Pestalozzis nachgehen. Anschließend geht er auf die Anschauung in der "vormethodischen" Epoche Pestalozzis und der Elementarmethode ein. Hier hebt Memmert Pestalozzis sieben Grundsätze seiner Methode hervor, die Pestalozzi unter anderem an den Minister Ph. A. Stapfer weiterleitet, um weitere Mittel zur Fortführung des Unternehmen "Burgdorf" zu erhalten. Stapfer übernimmt diese Grundsätze in seinem Bericht an den helvetischen Vollziehungsausschuß. Memmert führt beide Texte in Gegenüberstellung auf und erläutert, wie diese nicht nur die Bedeutung des Wortes "Anschauung" erhelle, sondern auch eine Verbindung zwischen Pestalozzis Sprachgebrauch und dem der Deutschen Ästhetik anknüpfe.

Im vorletzten Abschnitt untersucht Memmert die Homogenität und Inhomogenität des Anschauungskonzeptes Pestalozzis. Er weist darauf hin, daß es nicht leicht sei, bei einem meditativen Denker wie Pestalozzi das Anschauungskonzept seiner zahlreichen Schriften zu überblicken. Pestalozzi denke nicht nur in "konzentrischen Kreisen", sondern in "Spiralen". So betont Memmert, daß Pestalozzis Gedankenführung einer Systematisierung widerstrebe auch aus dem Grunde, daß sein Anschauungsbegriff im Verlaufe von 25 Jahren eine starke Wandlung durchmache. Deshalb verfolgt Memmert die Entwicklung chronologisch und versucht in diesem Abschnitt eine Zusammenschau bzw. historische Einordnung. Im letzten Kapitel beschäftigt sich Memmert mit den systematischen Konsequenzen des wortgeschichtlichen Befundes.

Die Arbeit Memmerts schließt mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis und Anmerkungen, sowie einem Begriffsregister ab.

Biographische Angaben zum Autor:

Wolfgang Memmert , geboren am 31. März 1933, studiert nach der Volksschul- und Gymnasialzeit von 1953 bis 1959 Naturwissenschaften und Theologie in Erlangen und Göttingen. Anschließend ist er zwei Jahre als Stadtvikar in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Bayerns tätig. 1962 Beginn des Pädagogikstudiums an der Pädagogischen Hochschule der Universität Erlangen- Nürnberg. 1963 und 1966 legt er beide Lehramtsprüfungen ab und unterrichtet nachfolgend in Vach/Landkreis Fürth. Neben der Tätigkeit als Lehrer studiert er weitere sieben Semester an der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg zum Zweck der Promotion.

(AR)