Pestalozzis Denkformen

Eduard Spranger

Heidelberg: Quelle & Meyer, 1959, 152 S.

Eduard Spranger vorliegendes Werk ist die überarbeitete 2.Auflage der ersten Auflage von 1947. Anläßlich des 200jährigen Geburtstag Pestalozzis erscheint es Spranger wichtig aus Deutschland einen Beitrag zum Gedenktag zu leisten.

Den eigentlichen Kern bildet die Abhandlung "Pestalozzis Denkformen", die als zweites Kapitel im Buch erscheint. Spranger beschreibt Pestalozzi hier als ganz eigenen und einsamen Denker, der sich nicht der allgemein verfügbaren Begriffsmittel bediene, sondern sich seine Fachsprache selbständig schaffe. Seine Gedankenbewegung ginge nicht in gerader Linie vorwärts, sondern sie "kreise" in einem bestimmten Vorstellungsbereich. Dies hinge mit seinem Wahrheitsbegriff zusammen. Wahrheit sei für Pestalozzi eine "Heimat im Innern des Menschen", deren er sich im Schauen und Tun versichere.

Spranger beschreibt, daß für Pestalozzi das Denkschema der um einen Mittelpunkt gelagerten, sich erweiternden "Lebenskreise" von grundlegender Bedeutung sei. Als ein Ergebnis leidvoller Jahre und tiefer Einsamkeit gewinne es Gestalt in der "Abendstunde des Einsiedlers". Spranger schildert Pestalozzis "Kunstform" die "Lebenskreise" zu dehnen und wieder zusammenzuziehen, sie linienhaft ineinander einmünden zu lassen, wie sie gestört werden und in die große Ruhe - die Ruhe in Gott - zurückkehren. Hier analysiert Spranger jene Kunstform, um das einfache Schema, welches im Hintergrund liegt, zu durchleuchten. Es existieren drei äußere Lebenskreise und ein innerer Lebenskreis, die in" einem" festen Mittelpunkt vereinigt seien. Der erste äußere Kreis stelle die "Wohnstube" als häusliches Verhältnis der Menschheit und der damit verbundenen ersten Verhältnisse der Natur dar. Der zweite äußere Kreis meine die Ausdehnung des Hauses zur "Stätte der Arbeit", dem Beruf und den dritten äußeren Kreis verstehe Pestalozzi in der ganzen ersten Epoche als "Staat und Nation", als Erweiterung des Vaterverhältnisses auf das Ganze des Volkes. Zum inneren Kreis sagt Spranger: "Das Seelengefüge des Menschen trägt in sich einen Regulator, der ihn in der rechten Ordnung mit seinen Umweltbezügen erhält. Pestalozzi nennt ihn den "inneren Sinn"... Dies kann zunächst so verstanden werden, daß allen "natürlichen" Trieben des Individuums ein Recht auf Befriedigung zukommt und daß allein ihnen, nicht in den künstlich geweckten Bedürfnissen, die Quelle des Glückes liegt". (S. 37-38) Im Mittelpunkt finde man Gott als das Zentrum des Lebens.

Im zweiten Teil der Abhandlung geht Spranger auf eine ganz neue Epoche Pestalozzis ein. Hier entstünden in Pestalozzis Gedankenwelt die drei Zustände der Menschheit: Der Naturzustand, der den Menschen als ein Wesen, das sich noch nicht tiefgreifend vom Tier unterscheide, zeige. Der gesellschaftliche Zustand, in dem die Gewalt durch das Recht gezügelt werde und das Wesen des Sittlichen, das völlig aus dem Innern und vollständig aus dem Individuum komme. Abschließend verfolgt Spranger in der Abhandlung den religiösen Standpunkt Pestalozzis.

Im dritten Kapitel setzt sich Spranger mit Pestalozzis "Nachforschungen" auseinander. Pestalozzis großes Werk "Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts" seien nicht nur eine Beschäftigung mit dem eigenen Selbst, sondern umspanne den Menschen und das Gefüge des Menschenlebens überhaupt. Spranger betont, daß das schwere Ringen Pestalozzis um Klarheit, der Kampf mit einer bereits vorgebildeten, aber auch auf eigene Art umgebildeten Begriffssprache, insbesondere die "Nachforschungen" zu einem der schwierigsten Werke des achtzehnten Jahrhunderts mache.

Im vierten Kapitel unternimmt Spranger den Versuch einer Analyse des "Schwanengesanges". Das eigentlich Neue im "Schwanengesang" ist Pestalozzis Fundamentalgrundsatz: "Das Leben bildet". Dazu sagt Spranger, daß dieser Grundsatz im weiteren Verlauf nach und nach wieder schwinde, er sei an keiner Stelle definitionsähnlich aufgeführt, um deuten zu können, wie er zu verstehen ist. Nach Spranger ist "Das Leben" ein äußerst schwebender Begriff. Nur ein Gesichtspunkt stehe fest und müsse für alle folgenden Ausführungen festgehalten werden: der strittige Begriff habe in Pestalozzis "Schwanengesang" einen Gegenbegriff, von dem her Pestalozzi die erste Beleuchtung empfinge: es ist der Begriff "Kunst", verstanden als künstliche, planmäßige Bildungsveranstaltung, also als pädagogische, speziell didaktische Kunst im Sinne der Elemantarmethode, die im Kreise Pestalozzis bis in die letzten Einzelheiten durchgebildet werde.

Das Inhaltsverzeichnis gibt Aufschluß über die Gliederung des Werkes. Im Anschluß seiner Arbeit führt Spranger Grundsätze der Quellenzitierung und eine vergleichende Tabelle der Belegstellen auf. Darüber hinaus ist eine Gliederung der "Nachforschungen" und des "Schwanengesanges" im Buch eingeklebt.

Biographische Angaben zum Autor:

Edurad Spranger (1882-1963), einer der einflußreichsten Universitätspädagogen Deutschlands. Studium an der Berliner Universität. Nach der Habilitation (1909) Privatdozent für Philosophie und Pädagogik. Praktische Lehrtätigkeit an Privatlyzeen in Berlin. 1911 beruflicher Wechsel an die Universität Leipzig, 1920 nach Berlin. 1925 Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften. 1933 Einreichung des Rücktrittsgesuches, da er dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber stand. 1936-1937 Gastprofessor in Japan. 1944 Verhaftung, nach Kriegsende tätig als kommissarischer Rektor der Berliner Universität. 1952 Emeritierung.