Zur Diskussion: Der politische Pestalozzi

Leonhard Froese u.a.

Herausgegeben von Leonhard Froese und Wolfgang Klafki. Mit Beiträgen verschiedener Autoren; Weinheim, Basel: Beltz, 1972, 223 S. (Marburger Forschungen zur Pädagogik ; 4)

Die Herausgeber des Buches möchten mit den vorliegenden Beiträgen verschiedener Autoren Studierende für erziehungsgeschichtliche Probleme neu interessieren. Die einzelnen Beiträge sind unterschiedlicher Natur und sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Im ersten Beitrag von Leonhard Froese wird der "politische", "soziale", "gesellschaftliche" und "soziopersonale" Pestalozzi betrachtet. Zum "politischen Pestalozzi" bezieht sich Froese vor allem auf das Werk von Adalbert Rang "Der politische Pestalozzi". Rang beschäftigt sich dort mit dem "revolutionären Pestalozzi" und rückt diesen bewußt in das Zentrum der Betrachtung. 1927 wird der Begriff des "sozialen Pestalozzi" zur Diskussion gestellt. Hier nennt Froese Schriften von H. Geißler und J. Hauser "Der soziale Pestalozzi", J. Weidenmanns "H. Pestalozzis soziale Botschaft" und weitere mehr. Froese schildert die Fragestellung bezüglich der sozialen Komponente im Denken und Handeln Pestalozzis, die als etwas bisher Unbekanntes und Unerkanntes charakterisiert wird. Im dritten Teil geht Froese zum "gesellschaftlichen" Pestalozzi über. Hier stehen zwei Hauptfragen zur Diskussion : Ist Pestalozzi ein gesellschaftspolitischer Reformer, dessen Denken und Handeln bis hin zur Pädagogik und Erziehung primär, wenn nicht ausschließlich in den Dienst dieser Zielsetzung gestellt wird?. Oder ist Pestalozzi ein erziehungspolitischer Reformer, dessen Lebenswerk einschließlich des politisch-sozialen Engagements, vor allem darauf abgestellt ist, der "Volkserziehung" bzw. "Menschenbildung" zu dienen?.

Im vierten Teil "Der soziopersonale Pestalozzi" berücksichtigt Froese die Beiträge von Adalbert Rang und D. Kamper, sowie Pestalozzis "Nachforschungen". Zusammenfassend führt er auf: " Die Nachforschungen" sind eine sozial- wie personalanthropologische Schrift zur subjektiven Rechtfertigung und objektiven Begründung des Pestalozzischen Handelns, das auf eine Gesellschaftsreform aus war, diese jedoch vor allem durch volks- und individualpädagogische Einflußnahme und entsprechende Reformmaßnahmen erreichen wollte. Die "Nachforschungen" sind das Credo des "sozipersonalen" Pestalozzi". (S. 19)

In den einzelnen Beiträgen von Georg M. Rückriem und Richard Pippert geht es in erste Linie um die Auseinandersetzung mit der Pestalozzi-Interpretation Adalbert Rangs, die der Fortführung und Vertiefung bedürfe. Rückriem schildert Rangs Anspruch, sich von allen bisherigen Ansätzen zu distanzieren: dem ideen- bzw. problemgeschichtlichen, dem geistesgeschichtlichen und dem existenzphilosopischen. Rückriem zitiert hier den Ansatz Rangs: "Im Gegensatz zu dieser traditonellen geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise versuchen folgende Studien, an das Konkretere sich zu halten, selber anzuwenden und die theoretischen Schriften, das praktische Verhalten des Schweizer Politikers und Pädagogen stets auch aus der realen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Situation der damaligen Schweiz zu begreifen". ( S. 25)
Pippert nimmt darüber hinaus Natorps Rezeption des philosophischen Pestalozzis mit auf. Diese habe die Tendenz, das methodische Problem einer systematischen Interpretation der Pestalozzischen Pädagogik immer schärfer zu fassen und die Interpretationen selbst mit einem abstrakten und allgemeinen Gültigkeitsanspruch vorzutragen. Das von Natorp formulierte Programm enthalte nahezu alle methodischen und ideologischen Momente der deutschen Pestalozzirezeption.

Die Autoren Dietfrid Krause-Vilmar und Horst Messmer suchen in ihren sozialgeschichtlichen Studien Teile noch nicht abgeschlossener Untersuchungen, um somit die Diskussion in enger umschriebenen Forschungsfeldern über den erreichten Erkenntnisstand hinauszuführen. Krause-Vilmar geht dabei von den "Nachforschungen" Pestalozzis aus. Er möchte zeigen, daß diese durchaus verschiedene Fassungen enthalten. Die erste orientiere sich an modernen naturrechtlichen Konstruktionen und stehe im scharfen Gegensatz zu Feudalismus und Absolutismus. Durch die sozialgeschichtliche Analyse der Stäfner Volksbewegung und die sich darauf stützende Deutung der Pestalozzischen Schriften zur Stäfner Frage soll die Entstehung der zweiten Fassung der "Nachforschungen" erklärt werden. Schließlich zieht Krause-Vilmar die erhaltenen Briefe Pestalozzis aus jener Zeit heran, um die Deutung zu überprüfen.
Messmer beschäftigt sich mit den gesellschaftstheoretischen Positionen Pestalozzis. Er geht darauf ein, daß Pestalozzi sich in den achtziger Jahren um die grundsätzliche gesellschaftstheoretische Klärung seiner politischen Positionen bemühe. Dies vollziehe sich für einen modernen Denker zu dieser Zeit in der Auseinandersetzung mit dem modernen Naturrecht, in erster Linie mit J. J. Rousseau.

Der letzte Beitrag von Dietmar Kamper ist ein Versuch zur politischen Anthropologie Pestalozzis. Der Beitrag stehe im Kontext der durch Adalbert Rang ausgelösten Kontroverse um den "politischen Pestalozzi" und setzte die ideologiekritisch angelegten Diskussionsbeiträge der mitwirkenden Autoren in diesem Buch voraus. Kamper versteht sich als deren Metakritiker, der zunächst die Partei Pestalozzis ergreift, aber gleichzeitig versucht, den naheliegenden Rückfall auf das Niveau der kritisierten bürgerlichen Pestalozziausdeutung zu vermeiden. Kamper stellt fest, daß damit die ideologiekritische, bzw. sozialgeschichtliche Interpretation Pestalozzis und seiner Schriften einen Fortschritt bedeuteten, den zu akzeptieren sich lohnt. An einer bezeichnenden Stelle, die Kamper in seinem Beitrag lokalisiert, ginge dieser Fortschritt jedoch über die Reichweite des Pestalozziansatzes hinaus und führe zu Widersprüchen. Kampers zentrale Absicht ist hier, diese Widersprüche kenntlich zu machen.

Biographische Angaben zum Autor:

Leonhard Froese, geboren 1924 studierte Pädagogik, Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Breslau, Göttingen und Basel. 1949 Promotion in Göttingen, Assistent in Hamburg, 1957 Privatdozent an der Freien Universität Berlin, 1959 Prof. an der Universität Münster. 1961 Prof. an der Universität Marburg, 1966 zugleich Leiter der Forschungsstelle für Vergleichende Erziehungswissenschaft. 1970-1975 Mitglied der Enquete-Komission Auswärtige Kulturpolitik des Deutschen Bundestages. Verfasser zahlreicher Schriften und Aufsätze.

Wolfgang Klafki, geboren 1927, studierte an der Pädagogischen Hochschule Hannover (1946-1948). Anschließende Tätigkeit im Schuldienst an ländlichen Volksschulen Niedersachsens. 1952-1957 Studium der Pädagogik, Philosophie und Germanistik an den Universitäten Bonn und Göttingen. 1956-1961 Assistent und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Hannover. 1961-1963 Assistent/Oberassistent an der Universität Münster, 1963 Prof. für Erziehungswissenschaften an der Universität Marburg. Verfasser zahlreicher Schriften, Aufsätze und Beiträge.

(AR)