Die Kategorie der Anschauung in der Pädagogik Pestalozzis. Theorie und Rezeption im Japan des 19. Jahrhunderts.

Toshiko Ito

Bern u.a.: Lang 1995. 204 S. (Explorationen. Studien zur Erziehungswissenschaft).

Toshiko Itos Schrift, zugleich ihre Berner Dissertation von 1992, gliedert sich in zwei Teile: in die Darstellung der Kategorie der Anschauung in der Pädagogik Pestalozzis und in deren Rezeptionsgeschichte im Japan des 19. Jahrhunderts. Damit leistet der erste Teil einen systematischen Beitrag zur PestalozziForschung und der zweite gibt einen Abriß der frühen Rezeption Pestalozzis in Japan. Letzteres war bisher in diesem Umfang nicht bekannt und ist aus der europäischen Sicht von der PestalozziForschung schon allein wegen der Sprachbarriere kaum aufzuarbeiten. So erschließt auch das Literaturverzeichnis eine Fülle unbekannter PestalozziLiteratur, die von Ito durchgängig in deutscher Übersetzung der Buchtitel und (kursiv und in Klammern) mit dem japanischen Originaltitel in lateinischer Umschrift angegeben wird. Hier wäre es für den Leser eine große Hilfe gewesen, wenn die Autorin einige gesonderte Bemerkungen zur neueren japanischen Sekundärliteratur gemacht und eventuell die japanischen Titel mit einer kurzen Annotation versehen hätte.

Ito geht von der These aus, daß die Anschauungslehre den Mittelpunkt in Pestalozzis Pädagogik einnimmt und Pestalozzi unentschieden zwischen zwei Geistesströmungen seines Zeitalters schwankt: zwischen der aufklärerischen Rationalität und einer gegenaufklärerischen Geistigkeit. Einerseits glaubt er an die Mathematisierung und Mechanisierbarkeit und damit Planbarkeit der Erziehung (die Methode), andererseits ist für ihn die Liebe Voraussetzung jeder Erziehung. Ziel der erzieherischen Bemühungen ist aber nicht der vernunftgesteuerte Mensch, sondern der innerlich veredelte Mensch als Gefühlswesen. Diese Unentschiedenheit ist für Ito der entscheidende Grund, daß Pestalozzi je nach den vorherrschenden Ansprüchen der Pädagogik unterschiedlich interpretiert werden konnte. An Japan als dem letzten Glied der Rezeptionskette von Pestalozzis Anschauungslehre will Ito zeigen, daß sich durch die Reduktionsprozesse der Rezeption die Pestalozzische Methode immer weiter von dem entfernte, was Pestalozzi selbst unter seiner Anschauungslehre verstand.

Zuerst gibt Ito einen Überblick über die Vorgeschichte der Anschauungslehre Pestalozzis und arbeitet heraus, daß Anschauung schon immer im Zentrum pädagogischen Denkens steht, von der Antike bis Comenius und Locke und geht dann auf die Anschauungslehre bei Pestalozzis Vorbildern ein, wobei sie sich u.a. mit Rousseau, Liebekühn, Condillac und Develey auseinandersetzt. Dann zeigt Ito die Entstehungsgeschichte des Begriffs der Anschauung bei Pestalozzi auf, der von diesem erstmals um 1800 explizit verwendet wird. Aber der Gebrauch von Begriffen wie Erfahrung, Beobachtungsgeist, innerer Sinn, anschauen, betrachten und beobachten bereitet schon sehr viel früher die spätere Anschaungslehre vor. In "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" unterscheidet Pestalozzi erstmals zwischen äußerer und innerer Anschauung. Liegt anfangs das Hauptgewicht auf der äußeren, so verschiebt es sich später auf die Bedeutung der inneren Anschauung. Für die Bildung der Anschauungskraft ist die Wohnstube entscheidend und Anschauung und Sprache stehen in einem engen Zusammenhang. In seinen späten Äußerungen (Schwanengesang) richtet sich die äußere Anschauung auf Erkenntnis und intellektuelle Bildung, die innere Anschauung dagegen auf Gemütsbildung und sittliche Bildung. Er fordert, daß innere und äußere Anschauung im menschlichen Leben zu einer Synthese finden müssen. Auch die Methode nimmt diese Zweigliedrigkeit auf und öffnet sie deshalb für die unterschiedlichsten Rezeptionen. Zweigliedrig und das ist für Pestalozzis Anschauungslehre von größter Bedeutung ist aber auch Pestalozzis Auffassung der inneren Anschauung: sie ist zum einen auf die Sinne bezogen und nimmt damit die sensualistische Erziehungstradition auf, zum andern ist die innere Anschauung auf Gott bezogen und bezieht damit die pietistische Erziehungstradition ein. Mit dieser Zweigleisigkeit der inneren Anschauung versucht Pestalozzi, Empirismus und Pietismus zu verschmelzen und schwankt lebenslang sowohl lebens wie werkgeschichtlich zwischen diesen beiden letztlich nicht zu vereinbarenden Positionen, was nach Ito an Pestalozzis Naturbegriff besonders deutlich sichtbar wird.

Die Rezeptionsgeschichte Pestalozzis im Westen ist für Ito eine Abfolge von Reduktionsprozessen, vor allem die dreigliedrige Anschauungslehre schrumpft zu einer vereinfachten Anschauungslehre, wobei die Zweigliedrigkeit der inneren Anschauung zuerst aufgegeben wird. Entsprechend wird in der Rezeption die Methode entweder in psychologischer (Herbart), mystischreligiöser (Fröbel) oder schuldidaktischer (Diesterweg) Richtung gedeutet, übernommen oder angewandt. Bei der "positivistischen", d.h. bei der fast ausschließlich auf die erzieherische Wirkung der Sinnlichkeit abhebenden Rezeption in England und Amerika wird die Reduktion noch deutlicher. Dort wird der Akzent fast vollständig auf die äußere Anschauung gelegt und die intellektuelle Bildung in den Mittelpunkt gestellt. Folgerichtig wird dann Pestalozzis Anschauungslehre und Methode "object teaching" genannt (E. Mayo). Soweit vereinzelt die innere Anschauung diskutiert wird (Dunning, Biber), ist sie von vornherein dazu bestimmt, vernachlässigt zu werden. Die Rezeption Pestalozzis in Amerika führte sowohl über England als auch über Pestalozzis Mitarbeiter Neef und später über Krüsi jr. So übersetzte Neef schon 1808 Anschauung mit dem auf die intellektuelle Bildung einengenden Begriff des "object teaching" und geht nicht auf die religiöse und sittliche Erziehung ein. Der Pestalozzianismus in Amerika hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit und kulminierte in der sog. OswegoBewegung.

Die frühe Rezeption Pestalozzis in Japan ist für Ito eine Rezeption aus dritter Hand, denn es bestand kein direkter Zugang zu den ursprünglichen Ideen Pestalozzis. Um die japanische Rezeptionseinengung besser zu verstehen, gibt Ito einen knappen Abriß der Geschichte Japans und seines Bildungswesens im 19. Jahrhundert und zeigt die spezifisch japanische Form der Aneignung fremder Kulturgüter und die spezifisch japanische Einstellung zu fremden Kulturen auf. Als Japan 1872 die allgemeine Schulpflicht und erstmals das System des klassenweise abgehaltenen Unterrichts einführt, fehlen Lehrer, Unterrichtsmaterialien und schuldidaktische Konzepte. Vor allem über den Amerikaner Scott, die Einführung der object lesson am Lehrerseminar Tokio und den in Oswego ausgebildeten Japaner Takamine wird die Anschauungslehre Pestalozzis verkürzt auf das Schlagwort "laß das Ding dem Wort voranlaufen", wobei die noch in Amerika wichtigen Bestandteile der Kindgemäßheit und alle religiösen Bestandteile wegfallen. Ito beurteilt das Interesse Japans an der Methode und der Anschauungslehre als das Interesse an einem funktionierenden EinpaukSystem zur raschen Einholung des westlichen Wirtschaftsniveaus und zur Durchsetzung einer nationalen bzw. nationalistischen Gesinnung. Ito gibt einige Beispiele der Gegenstandspräsentation und des FrageAntwortSchemas des heuristischen Unterrichts und vermittelt einen Überblick über die Literaturlage im Japan der 70er und 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, einschließlich der rezipierten amerikanischen Literatur. Pestalozzis Werke dagegen werden in Japan erst spät bekannt, Ende der 80er Jahre erscheinen erstmals "Lienhard und Gertrud" und die "Abendstunde" in gekürzten japanischen Fassungen. In den 90er Jahren schwindet das Interesse an Pestalozzi, die pestalozzische Methode ist an ihrem Formalismus erstickt und der Herbatianismus mit seinen Formalstufen tritt an ihre Stelle, gerät aber bald ebenfalls in eine formalistische Krise. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts kommt es zu einem wiedererwachenden Interesse an Pestalozzi, vor allem unter dem Einfluß und der Interpretation von Sawayanagi und in der Folgezeit auch zum Beginn einer PestalozziForschung vor allem unter Osada und Fukushima, die die Japanische Gesellschaft für Pestalozzianismus gründen. Ito beschreibt auch die Schwierigkeiten im Umgang mit Pestalozzis Begriff der Anschauung. Schon der englische Begriff "intuition" verkürzt auf die äußere sinnliche Wahrnehmung, was japanisch mit 'Chokkaku' übersetzt wird, bevor mit dem Begriff 'Chokkan' eine quantitative Änderung eintritt, weil dieser Begriff sich mit dem aus der buddhistischen Tradition bekannten Begriff der Erleuchtung verbindet, der Pestalozzis Begriff der inneren Anschauung zumindest teilweise abdeckt. Diese Wende ist das Ergebnis einer stärkeren Zuwendung der japanischen Pestalozzianer zur deutschen Literatur und zu den Originalwerken Pestalozzis.

In Itos Darstellung der PestalozziRezeption im Japan des 19. Jahrhunderts erfährt man viel Neues über die Ursprünge der japanischen PestalozziRezeption und über die Art und Weise dieser Rezeption. Die große Sprachhürde hat erheblich zur Reduktion von Pestalozzis Anschauungslehre über Amerika nach Japan beigetragen und läßt bis heute den wissenschaftlichen Austausch sich recht einseitig gestalten. Zwar nehmen heute zahlreiche japanische PestalozziForscher an der deutschsprachigen PestalozziDiskussion teil, aber umgekehrt ist in vergleichbarer Weise eine Teilnahme deutschsprachiger Experten an der japanischen PestalozziForschung nicht zu erkennen. In der überzeugenden und eindrucksvollen Arbeit von Ito wird Pestalozzis Anschauungslehre als Mittelpunkt seines pädagogischen Denkens gesehen, aber diese Grundthese hätte etwas ausführlicher diskutiert und begründet werden sollen. Eine systematische Darstellung der zwar an mehreren Stellen der Arbeit genannten und eng mit dem Anschauungsbegriff verbundenen Begriffe Erfahrung, Empfindung, Wahrnehmung, Erkenntnis, Beobachtung usw. hätte den Anschauungsbegriff Pestalozzis noch klarer hervortreten lassen.