"Es ist freilich schwer, sein eigenes Bild mit Treue zu malen ...". Die Autobiographien von Pestalozzi, Zschokke und Wessenberg.

Werner Bänziger

Aarau, Frankfurt/Main, Salzburg: Sauerländer 1996. 244 S. (Literaturwissenschaft, Bd. 1).

In Werner Bänzigers Schrift, zugleich seine Zürcher Dissertation von 1996, werden die autobiographischen Aussagen von Johann Heinrich Pestalozzi (17461827), Heinrich Zschokke (17711848) und Ignaz Heinrich von Wessenberg (17741860) im Hinblick auf die Persönlichkeitsstruktur dieser drei Volksaufklärer analysiert und aus den Selbstbeschreibungen jeweils Rückschlüsse auf ihre Biographie und Wirkungsgeschichte gezogen. Bänziger geht von der These aus, daß jeder, der sich selbst beschreibt, damit bestimmte Absichten verknüpft und deshalb über autobiographische Äußerungen konkrete Erkenntnisse über die Intentionen des Autors, sein Lebenswerk und seine Persönlichkeit zu gewinnen sind.

Pestalozzi, Zschokke und Wessenberg verbindet anfangs des 19. Jahrhunderts der ihnen gemeinsame Einsatz für ein zu reformierendes Erziehungs und Bildungswesen, persönliche Bekanntschaft und ein gegenseitiger Briefwechsel. Es verbindet die drei Protagonisten weiterhin die Fülle ihrer hinterlassenen Texte, darunter explizit autobiographische Schriften, zahlreiche Selbstzeugnisse in den Sachtexten und jeweils Tausende von Briefen. Trotzdem bleiben sowohl in ihrer Persönlichkeitsstruktur als auch in ihrer Intention deutliche Differenzen: in fast allen Texten Pestalozzis ist die eigene Person fast nie ausgeblendet, während bei Wessenberg selbst in seiner Autobiographie die Person nur schwer auszumachen bleibt. Der Schweizer Pestalozzi wird weltweit bekannt, bleibt aber in der Schweiz zu Lebzeiten eher unbeachtet, während der Deutsche Zschokke vor allem in der Schweiz vor 1848 rezipiert wird und politisch und publizistisch starken Einfluß auf die Schweizer Entwicklung nimmt. Der Konstanzer Bistumsverwalter Wessenberg strahlt mit seinen gesamtkirchlich letztlich wirkungslos bleibenden Gedanken eines erneuerten und modernisierten Katholizismus vor allem in die katholischen Gebiete der Schweiz, die bis 1814/15 zum Bistums Konstanz gehörten, und in die süd und südwestdeutschen Klein und Mittelstaaten aus.

In dem Pestalozzi betreffenden Kapitel "Die Selbstzeugnisse von Johann Heinrich Pestalozzi" (S. 3286) gibt Bänziger zuerst eine Übersicht über die autobiographischen Texte Pestalozzis, wobei er durchgängig von den Brautbriefen (1767) bis zum Schwanengesang (1826) und "Meine Lebensschicksale" (1826) als immer wiederkehrendes Muster die deutlichen Anlagen zu Sendungsdrang und Sendungsbewußtsein herausstellt. Die Erreichbarkeit der gesteckten Ziele steht dabei für Pestalozzi immer außer Frage und für die in der Praxis auftretenden Probleme bietet er immer die gleichen Erklärungen an: von seiner eigenen Begeisterung und Überzeugung getragen, habe er zu vieles gleichzeitig angepackt und mit Unterstützung für seine Unternehmungen gerechnet, die er dann nicht erhalten habe. Allerdings zeigen die zahlreichen autobiographischen Texte, ebenso wie die über 6.000 erhaltenen Briefe auch "das überaus beachtliche Mass an Beharrlichkeit, Energie und Schaffenskraft, das Pestalozzi während seines ganzen Lebens aufgebracht hat." (S. 37). In einem zweiten Durchgang beleuchtet Bänziger Pestalozzis Lebensgeschichte anhand der autobiographischen Zeugnisse und ordnet seine Aussagen einzelnen Lebensphasen zu: "Kindheit ohne männliche Führung". Pestalozzi, früh vaterlos, schildert sich als Mutter und Weiberkind, findet keinen Zugang zu bürgerlichen Berufsfertigkeiten, lernt nicht den Umgang mit Geld, tut sich schwer mit männlichen Rollen wie beispielsweise Durchsetzungskraft und Führungsstärke. Er zeigt lebenslang eine Nähe zu den Benachteiligten, zu armen und verwaisten Kindern und stellt auch überhöhtmaßlose Anforderungen an seine spätere Frau. Die "Schul und Jugendzeit im Zeichen der Aufklärung" habe das gefühlvolle Ergriffenwerden für eine Sache noch verstärkt, ein unüberbrückbarer Graben öffnet sich früh und lebenslang zwischen Idee und Umsetzung, Anspruch und Resultat, Erfordernissen und realen Kräften, wobei sich durch Pestalozzis frühe RousseauRezeption die Realität noch weiter durch träumerische Ideale überlagert. Die selbstbezogenen Argumentationsmuster Werk und Idee sind über alle Zweifel erhaben, alle mißlichen Resultate aber aus äußeren Schwierigkeiten und persönlichen Mängeln zu erklären wiederholten sich fortlaufend in Pestalozzis Leben. Bänziger zeigt dies an Pestalozzis Schritten in die Landwirtschaft und seinen Versuchen der Armenerziehung auf dem Neuhof. Die große Diskrepanz zwischen Sendungsbewußtsein und konkreter Tätigkeit macht Pestalozzi in den Jahren bis 1798 schwer zu schaffen, denn die an sich fruchtbare schriftstellerische Tätigkeit dieser Jahre genügt ihm nicht. 1798 aber kann er dank der Förderung durch die Helvetische Republik erneut den Schritt von der Theorie zur Praxis vollziehen, womit allerdings auch die alten Argumentationmuster wieder aufleben: Stans, Burgdorf, Yverdon und dort die Alterstragödie mit ihren Fehden und Intrigen im Kampf um seine Nachfolge. In einem dritten Durchgang arbeitet Bänziger Pestalozzis Lebensthemen aus seinen autobiographischen Zeugnissen heraus: "Pestalozzi und die Landwirtschaft" (S. 6872), die in Pestalozzis Leben praktisch und theoretisch eine bedeutsame Rolle spielt: Gegenstand mehrerer Schriften, der Neuhof und die Dörfer der Umgebung als Erfahrungshintergrund in "Lienhard und Gertrud" und die zahlreichen der Landwirtschaft und dem bäuerlichen Leben entnommenen Sprachbilder und Metaphern. "Pestalozzi als Schriftsteller" (S. 7275), der zwar nicht als "nur" Literat in die Geschichte eingehen will, aber durchaus gezielt und bewußt seine Sprachgewalt für seine Absichten einzusetzen weiß. "Der politische Pestalozzi" (S. 7580) wird zwar zum Parteigänger der neuen Helvetischen Republik, die ihm auch einen Weg zur pädagogischen Tätigkeit öffnet, aber als solcher bleibt er eher rückwärts gewandt ein gemäßigter Republikaner mit stark pragmatischen Tendenzen. "Nach dem Scheitern der Politik: Pädagogik?" (S. 8084). Das Fragezeichen soll deutlich machen, daß Pädagogik und Politik in Pestalozzis Tätigkeit und Schriften von Anfang an verbunden sind und es sich nicht um Gegensätze handelt, die sich ausschließen. Für Pestalozzi ist der Gleichheitsgedanke, der Gedanke einer individuellen Autonomie und Emanzipation, die Standes und Herkunftsgrenzen sprengen muß, latent immer präsent, aber Pestalozzi ist Realist genug, um zu wissen, daß diese Gedanken erst in späterer Zeit zum Tragen kommen könnten.

Im letzten Kapitel des Pestalozzi analysierenden Teils seiner Arbeit "Die Charakteristika von Johann Heinrich Pestalozzi" (S. 8486) betont Bänziger noch einmal die charismatische Persönlichkeit Pestalozzis und die Suggestivkraft seiner Werke und Briefe, besonders aber seiner Selbstbeschreibungen und Selbstdeutungen, bleibt aber in vielen Aussagen dieses Kapitels stark den überlieferten mythologisierenden Interpretationsschemata verhaftet, vielleicht auch zwangsläufig, da insbesondere die Übersicht über Pestalozzis autobiographische Texte angesichts deren Fülle doch etwas oberflächlich ausgefallen ist.

Während Bänziger bei Pestalozzi die gute Quellenlage und die zahlreichen Aspekte der Sekundärliteratur hervorhebt, ist die Würdigung von Zschokke und Wessenberg für den Autor schwieriger. Gerade diese Umstände haben aber zur Folge, daß von den drei nebeneinander entwickelten Lebensbildern, das von Pestalozzi am wenigsten überzeugt, man erhält aus den autobiographischen Texten kaum neue Erkenntnisse, die nicht schon ausführlich in der Sekundärliteratur dargestellt sind. Lediglich in dem Kapitel "Die Selbstbeschreibungen Pestalozzis, Zschokkes und Wessenbergs in wechselseitiger Gegenüberstellung" (S. 190207) ergibt sich im Vergleich das Typische in den autobiographischen Äußerungen der drei "Volksaufklärer": Zschokkes autobiographische Texte zeigen eine Nähe zum Genre der modernen Memoirenliteratur, Wessenbergs Texte dagegen klammern die eigene Person weitgehend aus und verstehen sich als Dokumente eines Menschen, der von sich, seinen Leistungen und seiner Zeit berichterstattend erzählen will. Pestalozzis Ansatz dagegen ist prozessorientiert und weniger an das Erreichte oder Erreichbare gebunden, was nach Bänziger seine sehr viel stärkere Rezeption begründet.

Die Beziehungen der drei Volksaufklärer untereinander werden nur ansatzweise eingespielt. Während die Beziehungen zwischen Wessenberg und Pestalozzi weitgehend ausgeklammert bleiben, geht Bänziger auf das Verhältnis von Zschokke und Pestalozzi in einem eigenen Kapitel "Konkurrenz oder Kooperation? Das persönliche Verhältnis zwischen Pestalozzis und Zschokke" (S. 208223) näher ein. Beide hatten sich erstmals 1795 in Zürich getroffen, Zschokke gerade 24 Jahre alt, Pestalozzi bereits fast 50jährig. Beide treten 1798 nach der Helvetischen Revolution mit Stapfers (Minister der Künste und Wissenschaften) Hilfe und Förderung in Luzern in den Dienst der Helvetischen Regierung: Pestalozzi zuerst als Redaktor des Helvetischen Volksblatts, dann im Dezember 1798 als Leiter des Waisenhauses in Stans; Zschokke zuerst als Leiter eines Bureaus für Nationalkultur, Herausgeber der Wochenzeitung "Schweizerbote" und zusätzlich als Redaktor der Helvetischen Zeitung und ab Mai 1799 als Regierungskommissär in Nidwalden. In dieser Funktion eröffnet Zschokke Mitte 1799 Pestalozzi, daß das von ihm geleitete Waisenhaus geräumt werden müsse. So wird Zschokke neben Pestalozzi selbst zum fast einzigen Zeugen für Pestalozzis lebensentscheidende Monate in Stans. Zschokke gibt aber in verschiedenen Schriften (Selbstschau, Lebensgeschichtliche Umrisse, Der Aufruhr von Stans, Erinnerungen) aus jeweils unterschiedlicher zeitlicher Distanz auch unterschiedliche Darstellungen der Ereignisse. Die Helvetik hatte Zschokke und Pestalozzi in Luzern (nach Aarau Hauptstadt der Helvetischen Republik) und dann in Stans/Nidwalden mit unterschiedlichen Aufgaben in einer labilen Zeit und an einem schwierigen Ort (Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Österreich im 2. Koalitionskrieg, katholische Inner und Ostschweiz, die den helvetischen Zentralstaat ablehnte und zu Österreich tendierte) mit je unterschiedlichen Tätigkeiten zusammengeführt. Diese Nähe aber bleibt Episode: Pestalozzi verlagert sein Tätigkeitsfeld in der Folgezeit nach Burgdorf und Yverdon, Zschokke wird bald darauf Regierungsstatthalter in Basel, integriert sich nach der Mediation in den neuen Kanton Aargau und nimmt dort lange Jahre politische Mandate wahr. Der Propagandist eines Bundesstaates stirbt 1848 wenige Monate vor dem Zusammentritt der diesen Bundesstaat konstituierenden Bundesversammlung. Publizistisch unterstützte Zschokke Pestalozzi fortan tatkräftig: in der von Zschokke redigierten Zeitung "Schweizerbote" finden sich nur positive Aussagen über Pestalozzi, die Bänziger im Anhang dokumentiert (S. 239243). Die zeitgenössische Kritik an Pestalozzis Tätigkeit wird nicht zum Thema und als einer der ersten hat Zschokke Pestalozzi bereits zu dessen Lebzeiten für die Schweiz als Symbol der nationalen Einigung in der Restaurationszeit eingesetzt und beschrieben.

Bänziger stellt in seiner flüssig zu lesenden Arbeit die autobiographischen Texte und Aussagen von Pestalozzi, Zschokke und Wessenberg gegenüber und sieht die Berechtigung dieser Gegenüberstellung in der Bedeutung dieser drei Männer an der Wende zur Moderne vom 18. zum 19. Jahrhundert und deren publizistischen und politischen Einmischungen in die Auseinandersetzungen ihrer Zeit. Während das aus den Selbstzeugnissen entwickelte Lebensbild Wessenbergs am gelungendsten erscheint und eine überzeugende Gesamtschau über dessen Leben und Werk, seine Ansichten, seine breit gestreuten Interessen und praktische Tätigkeit bietet, bleiben die Darstellungen von Pestalozzi im Verhältnis zu den Darstellungen in der Sekundärliteratur eher dürr, man erfährt wenig Neues über seine Person. Allerdings wird das Verhältnis Pestalozzis zu Zschokke einer neuen Sicht unterzogen und auch Wertungen der Sekundärliteratur (vor allem Morf und Schönebaum) korrigiert. In Bezug auf Pestalozzi ist Bänzigers Schlußbewertung interessant:

"Die Selbstbeschreibungen belegen und das ist erstaunlich , dass ein grosser Teil der Wertungen, mit denen ihn die Nachwelt bedacht hat, im Grunde genommen Selbsteinschätzungen und zuschreibungen gewesen sind. Was über ihn später ausgesagt wurde, findet sich in der Regel bereits in seinen Texten."

(S. 225)

Über die PestalozziForschung hinaus ist die Arbeit von Bänziger durch ihre starke Einbeziehung politischer Aussagen und historischer Abläufe für die Geschichte der Schweiz von den Jahren des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis ca 1848 von Bedeutung. Für die Geschichte der Pädagogik werden exemplarisch die Brüche an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert deutlich, die mit der Französischen Revolution einhergehen. In Bänzigers abschließender Wertung erscheint Pestalozzi mit seinen oft suggestiv und pathetisch formulierten Gedanken zur Volksaufklärung und Volkserziehung nicht singulär, sondern als Teil einer Strömung, die als ganzes und mit langem Atem die Veränderungen bewirkte, die wir heute als Fortschritt begrüßen: Demokratisierung der Gesellschaft durch Demokratisierung der Bildung, verbunden mit einem mehr oder minder freien Bildungszugang für alle. Der geradezu euphorische Bildungsoptimismus dieser Zeit und speziell dieser drei Männer (Humanisierung der Gesellschaft und Emanzipation des Menschen durch Bildung) mußte allerdings unerfüllt bleiben.