Pestalozzis "Gemeinde" in Glarus. 1803-1846.

Glarus: gsd Verl. 1996. 319 S. (Nach dem Konkurs des Verlags kann das Buch über die Kantonsschule Glarus, CH8750 Glarus bezogen werden).

Der von Schülerinnen und Schülern der Lehramtsschule Glarus zusammen mit ihrem Geschichtslehrer Christoph H. Brunner erarbeitete Band geht Pestalozzis Spuren in Glarus nach und nutzt dazu neben gedruckten Quellen, staatlichen und kirchlichen Archivmaterialien auch zahlreiche private Quellen, vor allem bisher kaum genutzte Briefbestände.

Im ersten Kapitel gehen die Autorinnen und Autoren den einzelnen Glarner Subskribenten für Pestalozzis Elementarbücher anhand der erhaltenen Subskribentenliste von 1803 nach. Es überrascht dabei die große Zahl der Glarner Subskribenten, aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen diesen: familiäre und freundschaftliche Bande, philanthropische und bildungsmäßige Interessen, wie die Leselisten der Bibliothek des Chorherrn Johann Jakob Blumer zeigen, ökonomische Interessen, worauf der hohe Anteil der Kaufleute unter den Subskribenten hinweist, und eine politischhelvetische Grundgesinnung, die sogar aus den Handschriften der Subskribenten abgelesen werden kann, deutsche Kurrentschrift oder französiche Antiqua oder eine Mischung aus beiden. "Die typischen Subskribenten sind Männer der Helvetik, Politiker, Unternehmer und Intellektuelle, um die 30 Jahre alt, mit vaterländischem, philanthropischem Sinn evangelischer Prägung" (S. 72). Pestalozzi war in dieser frühen Zeit Gesprächsthema unter den Glarner Intellektuellen, den politisch Interessierten und den wirtschaftlich Tätigen. Die Subskribenten halten dann Pestalozzi über Jahrzehnte die Treue, sie und ihre Kinder, das meint in dieser Zeit natürlich vornehmlich ihre Söhne, treffen sich vor allem bei den LinthUnternehmungen wieder. Besonders intensiv geht das Buch auf Glarner Persönlichkeiten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, den Landammann Niklaus Heer, der bereits in der Helvetik politisch hervorgetreten war und als Philanthrop und Familienvater, als Unternehmer und Landammann und als Mann des Linthwerks und Pestalozzis vorgestellt wird, dann den Gesandten und Handelsmann Thomas Legler, ebenso wie Pestalozzi von Steinmüller scharf angegriffen, den Arzt Johannes Marti, den Pfarrer Baltasar Marty, ein Mann mit zahlreichen direkten (Briefwechsel) und indirekten PestalozziKontakten und Vikar Krapff, zeitweise Hauslehrer im Hause des Chorherrn. Eingewoben in diese Biographien ist mit längeren Briefauszügen u.a. der Aufenthalt David Aeblis als Schüler in Yverdon.

Nach 1803 beeinflußte vor allem der Pfarrer Johann Melchior Schuler die Glarner Schulentwicklung mit seinen auf Schulreform und allgemeine Menschenbildung ausgerichteten Bemühungen, einmal durch seine schriftstellerische Arbeit und einmal durch sein Eintreten im Glarner Erziehungsrat für Schulentwicklung durch Verbesserung der Schullehrerbildung und für die Gründung einer "Mädcheneinsatzschule". Von Pestalozzis Mitarbeitern in Yverdon wirkte Johann Georg Tobler in Glarus und für die von ihm begündete Zeitschrift eines "Gemeinnützigen Rathgebers für Erziehung, Armenwesen und Landwirthschaft" konnte er als Autor u.a. Pestalozzis langjährigen Mitarbeiter Hermann Krüsi gewinnen und thematisierte in dieser Zeitschrift vor allem Überbevölkerung, Verarmung und Auswanderung in Verbindung mit den landwirtschaftlichen Strukturen. Die Armut kann danach allein durch Erziehung und Bildung bekämpft werden, wobei man sich Besserung allerdings rückwärtsgewandt von der Landwirtschaft und weniger von der aufkommenden Industrialisierung erhofft. Ein weiterer Glarner hatte enge Beziehungen zu Pestalozzi: Johann Balthasar Streiff, dessen Sohn Conrad ab 1805 bei Pestalozzi in Yverdon Schüler war. Weitere Verbindungen zu Pestalozzi liefen über den pädagogischen Kaufmann Johann Rudolf Marty, ansässig in Glarus und Riga, der seine drei Buben zu Pestalozzi nach Münchenbuchsee und Yverdon schickt, mit Pestalozzi korrespondiert und mit seinen Stiftungen erst die Errichtung der Kantonsschule Glarus ermöglicht. Besonders ausführlich wird Johann Melchior Lütschg (17921871) vorgestellt, der die Stelle des Lehrers und Leiters in der von der glarnerisch evangelischen Hülfsgesellschaft gegründeten Linthkolonie wahrnimmt, zu den Begründern des kantonalen Lehrervereins gehört und noch in der Wehrlischule bei Fellenberg in Hofwyl auf seine Aufgabe vorbereitet worden war. Die Linthkolonie war die Armenschule des Landes und es wird betont, daß Lütschg, der sowohl Pestalozzi als auch Fellenberg noch persönlich kannte, die Linthkolonie zwar im Sinne von Pestalozzi, aber nach Fellenbergs Ordnungsprinzipien führte, wobei die wiedergegebenen Briefauszüge die Verbindungen zu Fellenberg und Wehrli sehr viel enger als diejenigen zu Pestalozzi erscheinen lassen.

Die historische Skizze endet 1846 mit den Feiern zu Pestalozzis 100. Geburtstag, deren Abläufe und Gedenkreden das Buch einrahmen. Im einleitenden Kapitel wird auf das "Geburtstagsschriftchen" von Johann Jakob Bäbler rekurriert, in dessen biographischer Skizze Pestalozzi zum säkularen Heiligen hochstilisiert und Pestalozzis Stanser Aufenthalt zudem für das eigene politische Credo verwendet wird: bürgerlichliberale Gesinnung gegen den Konservativismus der katholischen Urkantone. Das abschließende Fazit bleibt abgewogen: auch wenn 1846 in Glarus eine seltsame Inanspruchnahme Pestalozzis für eigene politische Ziele und Formen mythischer und kultischer Überhöhungen deutlich hervortreten und sich der liberale Umbruch religiöser Formen bedient, einschließlich eines "Heiligenkults", bleibt doch festzuhalten, daß in Glarus der Einfluß Pestalozzis wesentlich dazu beigetragen hat, die Lehrerschaft selbstbewußt werden zu lassen. Allgemein sehen die Lehrer als "die" sozialen Aufsteiger dieser Zeit im Liberalismus radikaler Prägung eine Garantie für die Weiterentwicklung der Schule und damit auch für das weitere Wachsen der eigenen Bedeutung.

Das Buch von Pestalozzis "Gemeinde" in Glarus ist weniger eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Pestalozzis Konzepten, auch nicht im strengen Sinne ein Abriß von Pestalozzis Rezeption in Glarus, sondern ein aspektenreicher lokalgeschichtlicher Abriß zur Glarner Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der sich sehr stark an der Entwicklung von Schule und Unterricht orientiert und dabei auch Pestalozzis Wirkung mit einbezieht. Die Arbeit beeindruckt als Ergebnis eines schulischen bildungshistorischen Projekts und wenn die Teilnehmer des Projekts beschreiben, daß sie sich durch dieses Projekt verändert hätten, so glaubt man dies. Aber dies gilt weniger für die Aussagen über Pestalozzi, die teilweise wie Einsprengsel in die lokalhistorischen Abläufe und in die Biographien der Handelnden wirken, als für das Fenster, das sich auf die Lebensgewohnheiten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts öffnet: Armut, Bildungsmöglichkeiten, Einfluß der Kirche bzw. der Pfarrer auf das Alltagsgeschehen, Helvetik, frühe Industrialisierung und Landwirtschaft bis hin zur Medizin der Zeit: der Arzt Marti im Zwiespalt zwischen Aberglauben und Wissenschaft und fast ohne kurative Möglichkeiten oder der Plage langer Kutschenreisen: der Landammann Heer, der die physischen Strapazen der Kutschenfahrt 1804 zu Napoleons Krönungsfeierlichkeiten über das Kopfsteinpflaster von Dijon nach Paris sein Leben lang nicht mehr vergessen kann. Das Buch zitiert, kursiv hervorgehoben, lange Passagen aus Briefen der handelnden Personen, auch von Briefen Pestalozzis aus der Kritischen Ausgabe, aber verzichtet auf den jeweiligen präzisen Quellennachweis. Die Darstellung setzt sehr stark auf die biographischen Konstellationen und liest sich daher spannend, aber die theoretische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und der Fragestellung kommt dabei verschiedentlich zu kurz.