Zigmunde, Alida:

Die Beziehungen Johann Heinrich Pestalozzis zu Lettland.

Riga: RTU Verl. 2010, 141 S.

Im Mittelpunkt dieser Veröffentlichung stehen die Beziehungen Pestalozzis zu Lettland. Zuerst arbeitet Zigmunde die Rezeption von Pestalozzis Ideen und Erkenntnissen in Lettland heraus. In den Jahren von Pestalozzis Wirken war das Gebiet des heutigen Lettlands Teil der russischen Ostseeprovinzen, aber die deutsche Minderheit war dominant und deutsch war die offizielle Amtssprache. Die Pädagogen des Landes verfolgten intensiv die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum und schon 1808 wurde in Riga eine „Pestalozzische Lehranstalt für Knaben“ gegründet. Im zweiten und zentralen Teils der vorliegenden Arbeit stehen die persönlichen Kontakte von Livländern und Kurländern zu Pestalozzi. Die Zahl der Schulen war im Baltikum sehr gering, die Erziehung der überwiegend ländlich ausgerichteten Bevölkerung erfolgte im Elternhaus. Für die gebildete deutsche Oberschicht war der Unterricht durch Hauslehrer üblich, auch der Besuch von Internatsgymnasien und Universitäten in Deutschland bzw. in Westeuropa. Für die Entwicklung des Schulwesens im Baltikum zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren vor allem die auf Pestalozzi zurückgeführten Ideen von der Notwendigkeit einer allgemeinen Bildung und von der Anschaulichkeit des Unterrichts von Bedeutung. Im dritten Teil wird der bis heute reichende Einfluss Pestalozzis auf das lettische Bildungswesen dargestellt, so wird auf die im 19. Jahrhundert in den Lehrerseminaren in Irmlau und Walk und später im Pestalozzischen Lehrerseminar in Dorpat wirksamen Ideen von Pestalozzi verwiesen. Zum Schluss werden die Aktivitäten zum 250. Geburtstag Pestalozzis 1996 in Riga an der Universität Lettlands beschrieben.

Unter den zahlreichen Besuchern von Pestalozzis Erziehungsinstituten in Burgdorf und Yverdon waren auch Besucher aus dem Baltikum, Zöglinge kamen aus diesen Ländern und mehrere Briefpartner Pestalozzis stammten aus dem Baltikum. Zigmunde kann viele Details zu einzelnen baltischen Schülern und Besuchern in Yverdon und zu Briefpartnern Pestalozzis anführen, indem sie u.a. auf Dokumente der Abteilung der Raritäten der Akademischen Bibliothek der Universität Lettlands, des Historischen Staatsarchivs Lettlands, auf zeitgenössische Veröffentlichungen in lokalen Druckmedien und auf neuere lettische Veröffentlichungen zurückgreift, letztere sind uns allerdings von der Sprache her nur eingeschränkt zugänglich.

So wird beispielsweise der Rigaische Kaufmann Johann Rudolf Marty (1765-1825) vorgestellt, der seine drei Söhne (7, 6 und 4 Jahre) aus erster Ehe zur Erziehung 1803 in Pestalozzis Institut in Burgdorf schickte, die dann Pestalozzi nach Yverdon folgten, wobei er wohl auch seine Kinder in Yverdon besucht hat. 1809 reiste der Livländer Carl Otto von Transehe-Roseneck (1761-1837) mit seiner ganzen Familie nach Yverdon, um dort seine beiden ältesten Söhne Pestalozzis Erziehungsinstitut zu übergeben. Eine Reise von Lettland in die Schweiz bedeutete bei einer Entfernung Riga – Yverdon von ca. 2.200 km eine wochenlange Strapaze mit der Kutsche durch zahlreiche selbständige deutsche Staaten immer vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege dieser Jahre. Vor allem die Verbindung Pestalozzis zu Transehe-Roseneck bleibt sehr freundschaftlich bestehen: Im Dezember 1815 berichtet Pestalozzi bewegt vom Tod seiner Frau (PSB 9, S. 342f) und Transehe-Roseneck sendet 1817 eine Subscription auf 30 Exemplare der 15bändigen Cotta-Ausgaben von Pestalozzis Sämmtlichen Schriften (SBaP 5, S. 18-23) an Pestalozzi.

Es war ausgerechnet das Baltikum, in das Pestalozzi in schwierigen Situationen auszureisen erwog. Nach dem Ende seiner Burgdorfer Jahre und auf der Suche nach einem neuen Betätigungsort, Yverdon war noch nicht in Sicht, erreichte ihn 1804 das Angebot zusammen mit Ernst Tillich nach Riga zu kommen. Zigmunde belegt dies anhand zweier Briefe von Ernst Tillich und Ch.H. Wolke aus dem Bestand der Akademischen Bibliothek der Universität Lettlands (S. 23-25). Ende 1811, die Streitigkeiten in Yverdon hatten einen ersten Höhepunkt erreicht, dachte Pestalozzi erneut an eine Ausreise ins Baltikum, um dort einen neuen Anfang zu versuchen. In einem Brief an Transehe-Roseneck vom 27. September 1811 schreibt Pestalozzi: „Freund! Ich kann hier fort, ich kann ohne Schaden des Ganzen fort; aber mich trennt dennoch nichts von meinem Werk als die Hoffnung, Dein zu seyn, seegnend auf die Erziehung Deiner Kinder zu wirken und, so weit meine Kräfte hinlangen, die Kultur Deines lieben Vaterlandes auf eine solide Weise zu begründen“ und zum Schluss „Nun lebe wohl, könnte ich mich selbst auf dieses Papier aufkleiben, wie flöge ich zu Dir!“ (PSB 7, S. 332f). Nach Pestalozzis Zusammentreffen mit Zar Alexander I. Anfang 1814 in Basel erhielt er von diesem im November 1814 aus Wien den russischen St. Wladimir-Orden, 4. Klasse. In diesem Zusammenhang ergab sich wohl auch das Angebot an die Universität nach Dorpat zu kommen, letzteres ist nicht eindeutig dokumentiert und wird auch von Zigmunde nicht weiter ausgeführt. Alle diese Pläne kamen aber nicht zur Ausführung, einmal tat sich Pestalozzi schwer, seine schweizerische Umgebung zu verlassen und zum andern gab es im Baltikum auch den Vorbehalt, dass Pestalozzi mit seinem schweizerischen Deutsch Probleme haben könnte. Zigmunde zitiert für diese Schwierigkeiten Karl Justus Blochmann, einen jahrelangen Mitarbeiter Pestalozzis in Yverdon, der in seiner Pestalozzi-Biographie von 1846 dies wie folgt beschreibt: „wegen seines für Deutsche kaum fassbaren Schweizerdialekts“ sei Pestalozzi kaum verständlich gewesen und immer wenn er dies bemerkt habe, dann habe er „in einem noch weit unverständlicheren, harten und mit Patois gemischten Französisch das Gesagte“ noch einmal wiederholt (S. 25).

In einem kurzen historischen Abriss zum Baltikum (S. 140-141) macht Zigmunde deutlich, warum das Interesse an Pestalozzi und überhaupt an den deutschen Entwicklungen so gross war. Die Deutschen waren zwar eine Minderheit im Baltikum, besassen aber als Grundherren ca. 90 % des Grundbesitzes. Durch die Privilegien Sigismundi Augusti bewahrten sich die Deutschen das Recht zur Beibehaltung der deutschen Sprache als Amtssprache und zur Beibehaltung der protestantischen Religion sowohl unter polnischer, schwedischer und russischer Vorherrschaft. Erst mit der Russifizierung Ende des 19. Jahrhunderts wurde russisch die Amtssprache und die verbindliche Unterrichtssprache an Schulen und Universitäten.

Die Autorin spricht in ihrer Veröffentlichung sehr häufig von Livland und Kurland, ohne dies in ihrem historischen Abriss eindeutig zu bestimmen. Livland ist die Bezeichnung der Landschaft nördlich von Riga und umfasst auch den Südteil des heutigen Estlands. Kurland ist eine der vier lettischen Landschaften und umfasst den Westteil des heutigen Lettlands. Die bereits 1632 von Gustav II. Adolf von Schweden gegründete Universität von Dorpat war zur Zeit Pestalozzis eine deutschsprachige Universität, 1802 von den Deutsch-Balten als einzige deutschsprachige Universität des russischen Zarenreichs unter Zar Alexander I. neu gegründet. Heute ist diese Universität die grösste und einzige Volluniversität von Estland, die Stadt Dorpat trägt den Namen Tartu und ist Estlands zweitgrösste Stadt.

Das vorliegende Buch von Zigmunde ist das Ergebnis ihrer Forschungen zur Frage, welche Kurländer und Livländer mit Pestalozzi in Kontakt waren und wie sich seine Ideen und Erkenntnisse auf dem Gebiet des heutigen Lettland verbreitet haben. Hier erfährt der Leser viele Details zu den Personen, die mit Pestalozzi in Kontakt standen, Besucher und Zöglinge in Pestalozzis Erziehungsinstitut in Yverdon und Briefpartner Pestalozzis. Die zahlreichen Kontakte Pestalozzis nach Lettland waren zwar bekannt, aber in den Briefausgaben Sämtlicher Briefe Pestalozzis (PSB 1-14) und den Briefen an Pestalozzi (SBaP 1-6) nur schwer gesamthaft zu erschliessen. Diese Aufgabe hat die vorliegende Veröffentlichung mit ihren biografischen Angaben zu Pestalozzis Kontaktpersonen auf anschauliche Weise gelöst. Es wird auch deutlich, dass Pestalozzi nicht mit lettischsprachigen Personen Kontakte hatte, sondern ausschliesslich mit Personen der dominanten deutschen Oberschicht des Landes, die sich vor allem aufgrund ihres Minderheitenstatus ganz allgemein sehr stark an Deutschland orientierten und sich als Teil des deutschsprachigen Raumes verstanden. Besonders wirkten die Ideen Pestalozzis auf das Schulsystem und die Bildungsvorstellungen der deutschen Minderheit, auch fanden Pestalozzis Werke in Lettland eine recht weite Verbreitung. Entsprechend dem Titel der Veröffentlichung stehen die Beziehungen Pestalozzis zu Lettland im Mittelpunkt und nicht Bemühungen um eine Interpretation von Pestalozzis Ideen oder Werken.

(Gerhard Kuhlemann)