Amini, Bijan*:

Johann Heinrich Pestalozzi. Einführung in Leben und Werk.

Pinneberg 2018, 224 S.

Diese Einführung in Leben und Werk Pestalozzis unterscheidet sich deutlich von anderen Einführungen. Amini will auf wissenschaftlichem Fundament die für heutige Leser oft schwer verständliche Sprache Pestalozzis durch seine „Dolmetschertätigkeit“ übersetzen und verständlich machen. Historisches wird zusätzlich durch das Einfügen fiktiver Dialoge lebendig dargestellt, was Amini „Psychobiographie“ (S. 11) nennt, wobei er die fiktiven Textstellen typographisch markiert. Amini sieht drei Eigenschaften, die Pestalozzis Charakter kennzeichnen: Liebe gegenüber den Armen und Schwachen, eine zügellose Lebhaftigkeit der Einbildungskraft und ein blindes Vertrauen zu jedem (S. 13).

Im Kapitel „Fakten und Zahlen“ (S.15-26) werden die 31bändige Werkausgabe (PSW 1-29), die 14bändige Briefausgabe (PSB 1-14), die 6bändige Ausgabe der Briefe an Pestalozzi (SBaP 1-6) und die Ausgabe dieser Werke und Briefe auf CD-ROM ausführlich vorgestellt. Der Registerband von 1994 bleibt in Aminis Aufzählung allerdings unerwähnt, ebenso die umfassende Internetdokumentation unter www.heinrich-pestalozzi.de. Das Kapitel „Fiktion und Fantasie“ (S. 27-31) erläutert, dass Studienanfänger und interessierte Laien nicht mit streng wissenschaftlicher Interpretation an Pestalozzi herangeführt werden können, sondern nur über eine Synthese von Fakten und Fiktion eine lesbare Einführung in Leben und Werk Pestalozzis möglich wird. Amini bekennt sich zugleich zur Hermeneutik als der Kunst des Deutens und Verstehens, aber reine Texthermeneutik genügt ihm nicht, erst eine Kombination von Fakten und Fiktion kann die Beweggründe eines Menschen offenlegen. Unter „Aussen und Innen“ (S. 33-40) zeigt er den äusseren Rahmen auf, unter dem sich Pestalozzi entwickelte, und er beschreibt den Einfluss des Vaters, als auch des Grossvaters bei seinen Besuchen in Höngg und den Einfluss der Mutter, der Magd und der Geschwister auf seine Entwicklung.

Unter „Vater und Weltbild“ (S. 41-75) stellt Amini Pestalozzis früh verstorbenen Vater als sehr entscheidend für seinen Lebensweg dar. Johann Heinrich war gerade fünf Jahr alt als der sterbende Vater die Magd Babeli bittet, bei der Familie zu bleiben und dieser weiterhin treu zu dienen. Hier macht Amini erstmals von einer fiktiven Schilderung dieser Szene am Sterbebett des Vaters Gebrauch (S. 47-49). Diesen Vorgang habe das Kind zwar noch nicht analysieren können, aber doch intuitiv aufgenommen. In den wenigen Bemerkungen zu seiner Kindheit kritisiert Pestalozzi zwar den Vater, aber dessen Schwächen treffen auch auf ihn selbst zu: Keine Berufsfertigkeiten und keine wirtschaftlichen Fähigkeiten. Pestalozzi setzt als 80jähriger dagegen in seiner Schrift „Schwanengesang“ Babeli geradezu ein ehrendes Denkmal. Babeli verkörpert für Pestalozzi alle Eigenschaften der Menschlichkeit, die er für die ganze Menschheit anstrebt und später „naturgemässe Elementarmethode“, kurz „Methode“ nennen sollte. Aber Babeli war ja doch von jeder äusseren Bildung entblösst, einen Widerspruch zu seinen Erziehungsvorstellungen, den Pestalozzi nicht sieht. Eine besonders wichtige Funktion hat bei Pestalozzi das Wort „Vater“: Gott ist der Vater aller Menschen, in seinen politischen Schriften sollen die Fürsten Vatersinn zeigen und in der Familie ist es der Familienvater. Pestalozzi will gestörte Vaterbeziehungen durch Erziehung wiederherstellen, Erziehung ist für ihn der Schlüssel zur Veredlung des Menschen. Die innere Natur des Menschen ist in jedem Menschen vorhanden, aber die Entfaltung muss durch Erziehung gefördert werden. Aus Pestalozzis Vaterbild leitet Amini Pestalozzis Weltbild her. Aber Pestalozzi selbst entspricht nicht dem von ihm entworfenen Vaterbild, und in Yverdon konnte er mit Verweis auf seine Vaterrechte das dortige Projekt nicht zusammenhalten.

Amini beschreibt in „Grossvater und Armenliebe“ (S. 77-125) die harten Strafen der Untervögte und die gnadenlose Ausbeutung der armen Bevölkerung und besonders der Kinder als billige Arbeitskräfte als auch die menschenunwürdigen Wohnverhältnisse. Pestalozzi sieht bei den Besuchen bei seinem Grossvater in Höngg, der dort Pfarrer war, das Leben der einfachen Landbevölkerung, deren Elend und Aussichtslosigkeit, ebenso die bedrückenden Schulverhältnisse, die sich allein auf das Auswendiglernen von Bibel-, Katechismus- und Gesangbuchtexten beschränkten unter einem ungebildeten Lehrer, der mit harten Strafen und körperlicher Züchtigung unterrichtete. Im Gegensatz dazu steht das wohlbehütete Pfarrhaus mit einem Pfarrer, der sich durch Gerechtigkeitssinn, Pflichtbewusstsein und Vatersinn gegenüber den Bauern des Dorfes auszeichnete. Hier entwickelte sich Pestalozzis lebenslanges Bemühen, armen und schwachen Menschen zu helfen und für ihre Besserstellung zu kämpfen. In einem längeren fiktiven Beitrag (S.95-116) beschreibt Amini die Verhältnisse besonders anschaulich.

Im Kapitel „Mutter und Methode“ (S. 127-199) zeigt Amini, dass das Fehlen eines Bildungsangebots in der eigenen Wohnstube wesentlich zu Pestalozzis Pädagogik und Didaktik unter der Bezeichnung „Elementarmethode“ beigetragen habe. Er reduziert es auf die These „Was ich versäumt habe bzw. was an mir versäumt wurde, das soll allen Kindern in der Welt erspart bleiben“ (S. 128). An dieser Stelle geht Amini auf Pestalozzis Erziehung seines eigenen Sohns ein, sein Bemühen war bestenfalls gut gemeint, aber es hat das Kind Hans Jakob zerbrochen, denn er hatte nicht die Natur des Kindes im Sinn, sondern allein sein eigenes Naturverständnis. Ein eigener Abschnitt befasst sich mit dem für Pestalozzi zentralen Schlüsselbegriff „Natur“ (S. 166-181). Ausgehend von Rousseaus Thesen, sowohl die Gesellschaft wie die Menschen hätten sich von ihrem ursprünglichen Zustand, von der Natur entfernt und seien daher korrupt und verdorben. Pestalozzi ist beeindruckt von Rousseaus Werken „Du contrat social“ (Der Gesellschaftsvertrag) und „Emile“, in ersterem legt Rousseau ein Programm zur Erneuerung der Gesellschaft vor, im zweiten ein Programm zur Erneuerung des Menschen. Den Menschen gemäss den von der Natur vorgegebenen Anlagen zu erziehen, ist bis heute gültig, aber Pestalozzi übernimmt Rousseaus Naturbegriff wörtlich und einseitig, er sieht nicht deren fiktive Konstruktion, die nicht direkt in die Erziehungswirklichkeit übertragen werden kann. Im Unterkapitel „Die Methode in der Schule“ (S. 174-181) beschreibt Amini, dass nach Pestalozzi die drei Bereiche Sittlichkeit (Herz), Intellekt (Geist/Kopf) und Kunst (Körper/Hand) zur Vollendung gebracht werden müssen: In der Wohnstube soll die Mutter die Naturanlage des Kindes zur Entfaltung bringen, bei Kopf und Hand muss der Lehrer elementar Wissen und Können vermitteln. Aber bei Pestalozzi steht bei der Vermittlung immer die Sache im Vordergrund und nicht das Kind. Noch deutlicher wird dies, wenn Amini auf die Sprache und die Elementarmittel Schall/Ton, Form und Zahl eingeht und bezweifelt, dass das Kind auf diese Weise von dunklen Anschauungen zu deutlichen Begriffen geführt werden kann.  Erziehung muss immer vom Kind ausgehen und nicht von den von Pestalozzi aufgestellten Gesetzmässigkeiten der Natur. Pestalozzi denkt nicht an die Gegenwart der Kinder, sondern zwingt sie von morgens bis abends in ein Programm für ihre Zukunft. Im Schlusskapitel „Aufgabe der Erziehung“ (S. 201-215) kommt Amini zu dem Schluss: „Aus heutiger Sicht kann Pestalozzis Vorstellung von Erziehung und Bildung nicht mehr als angemessen bezeichnet werden.“ (S. 202). In diesem Kapitel beschäftigt sich Amini ausserdem mit dem tierischen, gesellschaftlichen und sittlichen Zustand. Aber diese drei Zustände sind allein ein Konstrukt Pestalozzis, das mit einem „Gang der Natur“ nichts gemeinsam hat und das sich aus diesem Grund auch nicht verallgemeinern lässt. Pestalozzi unterstellt seiner menschlich-individuellen Wahrheit letztlich eine unfehlbar göttliche Wahrheit.

Mit dieser Einführung in Leben und Werk Pestalozzis liegt eine durchaus lesenswerte Monographie vor. Es sind vor allem die Kapitel zu Pestalozzis familiärer Kindheit in Zürich und die anschauliche Darstellung der Aufenthalte in Höngg bei seinem Grossvater. Über die beiden grösseren fiktiven Passagen in einer sich als wissenschaftliche Einführung verstehenden Darstellung kann man unterschiedlicher Meinung sein, aber sie machen die Einführung anschaulich und lebendig, es könnte in der Tat genau so gewesen sein.  Aber der Schluss dieser Veröffentlichung enttäuscht, der Autor verengt seine Darstellung auf die Elementarmittel Schall/Ton, Form und Zahl und kommt zu dem Schluss, dass Pestalozzis Vorstellungen von Erziehung und Bildung in der heutigen Zeit nicht mehr angemessen sind. Diesen Aussagen zu den Elementarmitteln kann man zustimmen, aber sie werden der Lebensleistung Pestalozzis nicht gerecht. Zwar beschreibt Amini, dass Pestalozzi in Höngg sein lebenslanges Bemühen, armen und schwachen Menschen zu helfen und für ihre Besserstellung zu kämpfen entwickelt hat, aber er kommt in seiner Darstellung nicht mehr darauf zurück. Zudem hätte man in einer Einführung zu Leben und Werk Pestalozzis gerne etwas über die wichtigsten Werke des Autors erfahren, die allenfalls kurz zitiert, aber nicht als Ganzes vorgestellt werden. Die kurzen Zitate aus Pestalozzis Werken und Briefen dienen allein der Fortführung der Gedanken des Autors, aber nicht der Vorstellung einzelner Werke, z.B. „Lienhard und Gertrud“ (1781), „Meine Nachforschungen“ (1797), den politischen Schriften wie den „Schriften zur Stäfner Volksbewegung“ (1795), den beiden Zehntenschriften (1798) oder das sozialpolitische Werk „Über Gesetzgebung und Kindermord“ (1783). Bei den zahlreichen Zitaten aus Werken und Briefen Pestalozzis benennt Amini zwar immer die Quelle nach der Wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Pestalozzis PSW bzw. PSB, aber er benutzt in seinen Zitaten den sprachlich geglätteten Text der CD-ROM, was verschiedentlich zu kleinen Unkorrektheiten bei den Seitenangaben führt. In Yverdon hat Pestalozzi die Schüler nicht von morgens bis abends in ein zwanghaftes Programm nach seinen Vorstellungen gezwängt. Er selbst hat kaum unterrichtet und die Lehrer in den unterschiedlichen Fächern hatten viele Freiheiten, auch gab es für die Schüler Freizeitmöglichkeiten und oft tagelange Wanderungen und Ausflüge. Aminis Veröffentlichung überzeugt vor allem in den ersten Teilen, endet dann aber abrupt mit der Schilderung von Pestalozzis Elementarmethode, die in der Tat weder heute noch zu Pestalozzis Zeit angemessen oder zeitgemäss war. Allerdings erschöpfen sich Pestalozzis Anregungen zur Erziehung und Bildung oder sein sozialpolitisches Bemühen nicht mit den von Amini angeführten Kritikpunkten.  

(Gerhard Kuhlemann)

* Amini (geb. 1943) gilt als Begründer der Krisenpädagogik und ist bereits 2001 mit dem Buch „Pestalozzis Welt. Eine Einladung zur Erziehung“. (Weinheim u. München 2001, 246 S.) hervorgetreten.