Republikanismus und Pädagogik. Pestalozzi im historischen Kontext.

Daniel Tröhler

Klinkhardt: Bad Heilbrunn, 2006. 531 Seiten

 

Mit diesem umfangreichen Band legt Tröhler seine Habilitatonsschrift von 2001 an der Universität Zürich vor.

Ausgangspunkt ist für Tröhler, Pestalozzi nicht mehr durch die Brille der „Pestalozzi-Verehrer“ zu lesen, sondern gezielt auf dem Hintergrund seiner Zeit und seines eigenen Kontextes, wobei Werk und Wirkung Pestalozzis zu trennen sind. Tröhler verortet Pestalozzi im Schweizer Republikanismus des 18. Jahrhunderts und besonders in dessen Zürcher Ausprägung. Nur die Kontextforschung ist für Tröhler die geeignete Methode, um der Gefahr einer Enthistorisierung pädagogischer Historiographie durch eine Verquickung von Gesinnungsbildung und Geschichtsschreibug zu entgehen. Bei Pestalozzi habe die Zielgruppe der Lehrer und Erzieher diese Enthistorisierung und Dekontextualisierung seiner Texte bewirkt. Historische Texte können nach Tröhler nicht aus sich selbst verstanden werden, eine Fehleinschätzung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, sondern immer nur auf der Folie des Kontextes, in dem sie entstanden sind.

In Teil A „Der republikanische Kontext Pestalozzis“ (S. 37-120) wird von Tröhler der Zürcher Republikanismus entfaltet, wie er sich vor allem unter Johann Jacob Bodmer entwickelt hat. Ähnliche Entwicklungen sind auch in anderen Kantonen sichtbar, so z.B. bei Isaak Iselin in Basel, der aber eine deutliche Distanz zur Bodmer und Rousseau zeigt.

In Teil B „Entwicklung einer Pädagogik zwischen commerce und klassischem Republikanismus“ (S. 172-398) bearbeitet Tröhler den Kontext des jungen Pestalozzi in Zürich, seine Nähe zu den Patrioten, den Einfluss Rousseaus und den Einfluss auf Berufs- und Partnerwahl. Tröhler geht hier besonders auf Pestalozzis frühe Schrift „Agis“ (1766) ein und weist Pestalozzis patriotische Positionen und Einstellungen in den Brautbriefen an Anna Schulthess (1769-1770) nach. Mit Pestalozzis Aufenthalt bei Tschiffeli zum Studium der Landwirtschaft (1767) ergibt sich eine Wendung zum ökonomischen Patriotismus und schliesslich eine Abwendung von den „radikal-politischen“ Patrioten Zürichs. Die Auseinandersetzung mit Rousseaus Erziehungsroman Emile führt bei Pestalozzi zu einem Zwiespalt zwischen Natur und Republik, zwischen Mensch und Bürger, was sehr deutlich im „Tagebuch über die Erziehung seines Sohnes“ (1774) sichtbar wird. In den 70er Jahren bestimmte die Nähe zu Isaak Iselin aus Basel und dem Berner Obervogt Tscharner Pestalozzis Position in den physiokratischen Auseinandersetzungen der Zeit, die vor allem um die Fragen der Armutsbekämpfung und Armenerziehung kreisten. Ausführlich geht Tröhler auf den Philanthropismus in der Schweiz, die Zürcher Stadt-Schulreform von 1773, die Zürcher Landschulreform und die Reformauseinandersetzungen innerhalb der Helvetischen Gesellschaft ein. Zur Beschreibung von Pestalozzis Stellung zwischen Republik und moderner Ökonomie werden vor allem die Texte „Von der Freyheit meiner Vaterstatt“ (1779), Pestalozzis Preisschrift zu den Aufwandsgesetzen (1781), „Abendstunde eines Einsiedlers“ (1780) und „Lienhard und Gertrud“ (1781) herangezogen. Gleichzeitig zeigt sich bei Pestalozzi ein Rückgriff auf die christliche Religion, und er gerät in eine Position zwischen aufgeklärtem Absolutismus und demokratischem Republikanismus.

In Teil C „Die Persistenz des Problems“ (S. 399-489) begründet Tröhler seine Position, dass Pestalozzi an der moralisch legitimierten Ordnung des Politischen festgehalten habe und sich in seinen zunehmend der Pädagogik zuwendenden Schriften soziologische (Volksbildung) und anthropologische (Menschenbildung) Begründungszusammenhänge teils gegenüberstehen, teils vermischen. Bis in die ersten Jahre der Französischen Revolution dominieren bei Pestalozzi die Analyse sozialer Missstände, das Eigentumsproblem und das Naturrecht. In den Jahren der Helvetischen Revolution kommen die Themen Religion und Sittlichkeit hinzu, wobei sich Pestalozzi vom politischen Schriftsteller zum praktischen Erzieher entwickelt und sich berufliche und publizistische Tätigkeiten vermischen. Mit der Helvetischen Republik sieht Pestalozzi eine reale Chance, den „Geist“ der alten Republik zu erneuern, und in seiner Schrift „Über den Zehnden“ (1798) exponiert sich Pestalozzi nochmals entschieden politisch. Im Ganzen aber zeigt sich bei Pestalozzi eine Wende, die mit „Methode“ beschrieben werden kann. Pestalozzi will in den Folgejahren durch die Konstruktion der Lehrgegenstände die natürlichen „Keime und Kräfte“ des Menschen entwickeln und konzentriert sich nach 1802 auf die Weiterentwicklung, Etablierung und politische Legitimation seiner Pädagogik, bzw. „Methode“. Aber Pestalozzi bleibt seinem alten Republikanismus verbunden, was sich deutlich in der letzten grossen politischen Schrift „An die Unschuld, den Ernst und den Edelmuth meines Zeitalters und meines Vaterlandes“ (1815) und an Pestalozzis Aussagen über Napoleon zeigt. Tröhler kommt zu dem Ergebnis, Pestalozzi sei bis zu seinem Lebensende dem auf Tugend rekurierenden Republikanismus der Bodmer-Zeit treu geblieben.

Der Band schliesst mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis, Verzeichnissen gedruckter und ungedruckter Quellen und einem Sach- und Personenregister.

Tröhler arbeitet mit grosser Sorgfalt den Kontext Pestalozzis in Zürich in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus. Indem Tröhler mit der „Kontextualisierung“ von Pestalozzis Texten eine neue Sicht des Autors Pestalozzi beansprucht und zugleich dessen gesamte Rezeption als Ergebnis der Verehrung, der Gesinnungsbildung der sich professionalisierenden Lehrerschaft oder der Inanspruchnahme eines berühmten Mannes für eigene Zwecke und Ansprüche diskreditiert, kann man ihm nicht uneingeschränkt folgen. In der Schärfe seines Urteils verkennt Tröhler, dass die Kontextualisierung Pestalozzis nicht neu ist, allerdings ohne das Wort „Kontext“ zu gebrauchen. Pestalozzi hat im Laufe seines Lebens sehr unterschiedliche Themen aufgegriffen und kann nicht als monolithische Gestalt wahrgenommen werden. Die von Pestalozzi in seinen Werken angesprochenen pädagogischen Themen können und konnten durchaus auch zur Selbstfindung und Selbstvergewisserung erziehender oder unterrichtender Personen beitragen bzw. beigetragen haben.

Tröhlers Schrift steht nicht am Anfang einer ganz neuen Rezeption Pestalozzis, sondern reiht sich mit einem durchaus interessanten Beitrag gerade in diese Rezeption ein.