Menschenbildung in der Not der Zeit. (Pestalozzi und Rechtsextremismus). Vortrag im Jahr 1937

Fritz Medicus

Hrsg. v. Felix Lehner. Zürich: Wissenschaftshistorische Sammlungen der ETH-Bibliothek, 1996. 23 S. (Schriftenreihe der ETH-Bibliothek, Bd. 36)

Der in Deutschland geborene Fritz Medicus (1876-1956) naturalisierte sich als Schweizer, nachdem er 1911 auf den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich berufen worden war, den er bis zu seiner Emeritierung 1946 innehatte. Der vor Lehrerinnen und Lehrern des Bezirks Baden in Rüschlikon 1937 gehaltene Vortrag "Menschenbildung in der Not der Zeit" blieb wegen seiner politischen Brisanz zeitgenössisch ungedruckt und wurde erstmals 1996 zum 250. Geburtstag veröffentlicht. Das Manuskript hat Felix Lehner kommentiert und aus der stenographischen Kurzschrift übertragen. Eine Faksimileseite des Manuskripts ist auf der Umschlaginnenseite abgedruckt.

Medicus spricht in seinem Vortrag von 1937 bewußt als Schweizer und sieht die Schweiz vom Vermächtnis ihrer Geschichte her zur Menschlichkeit verpflichtet, während in der benachbarten deutschen Diktatur persönliche Entfaltung mit der Unterordnung unter den Machtwillen eines Diktators verbunden ist, der blinden Gehorsam verlangt. Zwar ist die kleine Schweiz immer in der Gefahr, nach fremdem Vorbild oder fremden Wünschen zu handeln, aber wenn sie frei handeln kann, ermöglicht sie jedem Bürger, "sein Dasein als ein im ganzen Sinne menschliches zu leben". Besonders habe Pestalozzi mit seinen Aussagen zur Menschenbildung dazu beigetragen, "der Schweiz ihre Menschlichkeitsaufgabe bewusst zu machen" (S. 4). Medicus bezieht sich bei seiner Darstellung auf die "Abendstunde" und die Schrift "An die Unschuld". Menschenbildung beruht danach auf der Individualbestimmung des Menschen und jede "collective Ansicht" vom Menschen muß die Menschlichkeit zerstören. Zwar kannte Pestalozzi noch nicht den Begriff des "totalen" Staates, aber er argumentiert gegen ihn: Kinder gehören zuerst den Eltern und erst durch diese dem Vaterland und jede Nationalkultur muß auf der Individualkultur aufbauen. Menschenbildung kann danach immer nur Bildung des Individuums sein, und der Staat kann und darf nur stark werden durch die Kraft seiner in Menschenwürde lebenden Bürger und nicht durch die Zusammenballung gleichgeschalteter Massen. Nach Medicus ist es Pestalozzis Erbe, daß Schule nur dann der Menschenbildung dient, wenn sie das Gewissen der einzelnen stärkt, statt "Gesinnung" zu verbreiten. Die Not der Zeit (Deutschland, 1937) zeigt sich darin, daß den Menschen ihre Würde genommen wird und diese dann nur Halt bei kollektiven Strömungen finden können. Im totalen Staat trägt ein Führer die Verantwortung und trifft alle Entscheidungen für die Menschen, während zur Menschenbildung immer die Verantwortung des einzelnen für das Gesamtwohl gehört. Den Bedrohungen der Menschlichkeit kann nur durch Erziehung begegnet werden, das forderte schon Pestalozzi in der Not seiner Zeit und dies gelte ebenso in der Not der heutigen Zeit. Die Schweiz soll dem Erbe ihrer demokratischen Tradition und auch dem Erbe Pestalozzis folgen, um im Herzen eines haßverzerrten Europas ein Zeichen für Menschlichkeit zu setzen.

Der Vortagstext von Medicus ist ein erstaunliches Dokument der Pestalozzi-Rezeption: Pestalozzi steht historisch für das demokratische Erbe der Schweiz, das nur über Bildung des Menschen zur Menschlichkeit erreichbar ist. Pestalozzi steht aktuell gegen die Gefahren des Nationalsozialismus des Nachbarlandes. Es wäre zynisch, gerade an diesem Beitrag die Beliebigkeit der Pestalozzi-Rezeption zu demonstrieren. Eine andere Rezeption Pestalozzis in Deutschland hätte eventuell ein anderes Bildungswesen, andere Zielsetzungen öffentlicher Bildung und in der Konsequenz auch einen anderen Staat zur Folge gehabt. Der Vortragstext ist zugleich ein Dokument für die in Medicus' sonstigen Schriften wenig sichtbare Seite eines Philosophen der Politik und zugleich für eine "deutsche" Pädagogik, Medicus hatte sich noch 1901 in Halle mit einer Arbeit über Kant habilitiert, die nicht der nationalsozialistischen Ideologie verfallen ist.