Heft 2/1996

Hrsg. v. Pestalozzianum Zürich. Zürich: Pestalozzianum-Verl., 2 mal jährlich, ca. 40-60 S.

Editorial

(Daniel Tröhler)

Aus der Forschung

Thema

Diskussion

Mythos Pestalozzi. Eine kontroverse Diskussion

  • Auszug aus der Pestalozzi-Gedenkrede vom 14. Januar 1996 (Peter Stadler)

  • "Auszug aus der Eröffnungsrede des Pestalozzi-Symposiums vom 15. Januar 1996" (Hans Heinrich Schmid)

  • "Zur Problematik der "Entmythologisierung" Pestalozzis" (Fritz-Peter Hager)

  • "Das Pädagogische als Kult des Pädagogen" (Fritz Osterwalder)

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Dokumente

Im

Editorial

(S. 1) bereitet Daniel Tröhler die unter der Rubrik ''Diskussion'' geführte Diskussion um den Mythos Pestalozzi vor, indem er zwischen dem Pestalozzi-Kult und der Aufarbeitung seiner Auswüchse vor allem im 19. Jahrhundert und der sehr viel weiterreichenden Fragestellung nach der Bedeutung von Mythen für wissenschaftliche Fragestellungen und ihrem Einfluß auf Vorverständnisse und Weltanschauungen der wissenschaftlich Arbeitenden unterscheidet.

Der Artikel

"Pestalozzi-Symposium 1996. Ein vorläufiges Fazit"

(S. 3-6) von Felix Bürchler und Adrian Kobelt befaßt sich in erster Linie mit den zwei Problem- und Diskussionskreisen des Symposiums: Erstens „Was bleibt nach der "Demontage" des Mythos" um Pestalozzi? und zweitens „Wie kann die Auseinandersetzung mit Pestalozzi wissenschaftlich geführt werden?"

Das Thema "Pestalozzi – wirkungsgeschichtliche Aspekte", unter dem das Symposium stand, wird im dritten Abschnitt aufgenommen, indem anhand von sechs Beispielen gezeigt wird, wie unterschiedlich der Wirkungs-Begriff verstanden wurde.
Der Artikel endet mit der Feststellung, daß das in jeder Hinsicht gelungene Symposium für die künftige Pestalozzi-Forschung einen neuen Zugang zu Pestalozzis Werk eröffnet habe.

Mit dem Nachruf

"Gedenken an Heinrich Roth"

(S. 6-7)würdigt Cornelia Ott-Altwegg den St. Galler Lehrer, Schulreformer und Pestalozzi-Kenner Prof. Dr. Heinrich Roth, der in seinen Publikationen versuchte, "den Zugang zum lebendigen und aktuellen Verständnis von J. H. Pestalozzi zu erleichtern."

Unter der Rubrik "Thema" gibt Albena Tschavdarova in ihrem Beitrag

"Pestalozzi in Bulgarien"

(S. 8-11) eine Darstellung der Pestalozzi-Rezeption in Bulgarien, die sie in drei Phasen gliedert: die Rezeption während der Zeit der Wiedergeburt (1762-1878), die Rezeption nach der Befreiung (1878) bis zum Jahr 1944 und die Rezeption von 1944 bis zur Gegenwart. In allen drei Phasen der bulgarischen Geschichte, in denen sich zugleich die Idee einer nationalen weltlichen Bildung entwickelte, sind Bezüge auf Pestalozzi greifbar: Zum einen Übersetzungen pädagogischer Schriften ausländischer, meist russischer oder französischer Autoren ins bulgarische, aber auch bulgarische Sekundärschriften über Pestalozzi und ein großer Einfluß pestalozzischer Gedanken auf die bulgarische pädagogische Wissenschaft durch bulgarische Professoren der Pädagogik, die in der Schweiz, Deutschland oder anderen europäischen Staaten studiert und promoviert hatten. Schon recht früh waren auch Schriften Pestalozzis in bulgarischen Ausgaben verfügbar: 1897 "Das Bekenntnis Pestalozzis" mit Ausschnitten aus "Meine Lebensschicksale" , "Schwanengesang" und den "Briefen an Gessner" nach einer Vorlage in russischer Sprache, 1905 "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" nach einer französischen Ausgabe, 1906 "Schwanengesang" und 1907 "Lienhard und Gertrud". Auch in der Phase nach 1947 bleibt die Pestalozzi-Rezeption in der bulgarischen Pädagogik sichtbar, 1969 erschien eine bulgarische Ausgabe "Ausgewählter Schriften" , deren Übersetzung den Ausgaben von Mann und Seyffarth folgten. Von dem wissenschaftlichen Kolloquium im April 1996 in Plodiv verspricht sich die Autorin eine vertiefte Pestalozzi-Rezeption in Bulgarien und verweist auf eine neuerliche Übersetzung des "Schwanengesangs". Der Beitrag von Tschardarova schließt mit einer "Vollständigen Bibliographie" der von und über Pestalozzi auf bulgarisch vorliegenden Schriften, untergliedert in bulgarische Ausgaben der Werke Pestalozzis, Bücher und Zeitschriftenartikel über Pestalozzi.

Im Mittelpunkt des Heftes steht unter der Rubrik "Diskussion" eine Auseinandersetzung zum

"Mythos Pestalozzi"

(S. 12-22). Im Anschluß an die wiedergegebenen Auszüge aus der Pestalozzi-Gedenkrede Peter Stadlers am 14. Januar 1996 und der Eröffnungsrede des Pestalozzi-Symposiums durch Hans Heinrich Schmid am 15. Januar 1996 erörtern Fritz-Peter Hager und Fritz Osterwalder in zwei Beiträgen das "Mythos-Problem". Fritz-Peter Hager unterscheidet in seinem Beitrag "Zur Problematik der 'Entmythologisierung' Pestalozzis" (S. 15-18) zwischen dem Ruf nach "Entmythologisierung" Pestalozzis in der Pestalozzi-Forschung und der publizistischen Auswertung und Verbreitung dieses Forschungsansatzes in den Medien. Letztere nimmt der Schweiz durch die Demontage des Mythos Pestalozzi letztlich ein Stück ihrer Identität als eines freiheitlichen Rechtsstaats und einer liberalen Demokratie, die als ein geistiges Erbe und eine Errungenschaft der Aufklärung eine Tradition ist, auf die die Schweiz im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nach wie vor durchaus stolz sein sollte. In der neueren Pestalozzi-Forschung unterstellt eine Richtung mit ihrer Rede vom Mythos und der Legende Pestalozzi und dem sich daraus entwickelnden Pestalozzi-Kult der gesamten Pestalozzi-Rezeption pauschal ein hagiographisches Verhältnis zur Persönlichkeit Pestalozzis und postuliert, daß sich erst nach der Zerstörung dieses ''Kultes'' ein Zugang zum historischen Pestalozzi finden läßt. Aber auch nach dem Abbau des Pestalozzi-Mythos gibt es nicht die absolute historische Wahrheit über Pestalozzi, auch danach bleibt das Bild Pestalozzis an bestimmte Vorentscheidungen, Voraussetzungen und subjektive Perspektiven der einzelnen Forscher gebunden. Auch hat nicht jeder anfänglich einfühlende oder auch verehrende Zugang zu einer historischen Persönlichkeit zwangsläufig deren Verfälschung zur Folge, sondern kann durchaus auch die ideale Dimension einer Persönlichkeit erschließen, "d.h. das das sie hat sein wollen und hätte sein können, das, was sie als ideele Aufgabe ihrer selbst und ihrer Zeit erkannt hat." (S. 17). Im weiteren macht Hager deutlich, daß nicht alle Pestalozzi-Forschung vor Oelkers und Osterwalder vom Pestalozzi-Mythos beeinflußt war und nicht die gesamte Pestalozzi-Rezeption der Fortschreibung der Pestalozzi-Legende zugeordnet werden kann, zumal Pestalozzi der historischen Forschung jederzeit durch die wissenschaftliche Gesamtausgabe seiner Werke und Briefe und mittels zahlreicher anderer Quellen zu seinem Leben und Denken zugänglich ist. Es ist nach Hager unverantwortlich, die wissenschaftliche Gesamtedition von Pestalozzis Werken und Briefen mit ihren insgesamt 45 Bänden, davon 31 Werk- und 14 Briefbände letztlich als bloßen Versuch einer Kodifizierung Pestalozzis abzutun.

Fritz Osterwalder will in seinem Beitrag "Das Pädagogische als Kult des Pädagogen" (S. 19-22) belegen, daß der Pestalozzi-Kult des ausgehenden 19. Jahrhunderts, exemplarisch dafür stehen Aussagen des Jubiläumsjahrs 1896, sich nicht außerhalb der akademischen Fachdisziplin Pädagogik entwickelte. Die Auseinandersetzung mit Pestalozzi war auch innerhalb der Fachdisziplin Pädagogik von Anfang an kultisch bestimmt war, wofür Otto Hunziker, der erste Inhaber eines selbständigen pädagogischen Lehrstuhls an einer Schweizer Universität, angeführt wird. Diese kultische Beanspruchung Pestalozzis war vorbereitet durch den Pestalozzi-Kult in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wofür vor allem Diesterweg und die Verwendung Pestalozzis als Professionsideal der aufstrebenden Volksschullehrerschaft steht und reicht bis in unsere Tage: Pestalozzi-Zitate erhalten in der Pädagogik für fast alles und jedes geradezu Beschwörungscharakter, während eine Analyse der pädagogischen Konzepte und Institutionen um 1800 nur selten in ihrem historischen Umfeld versucht wird. Die pädagogische Folge des Kults um Pestalozzi aber ist bis heute der häufige Rekurs auf das große Ziel der Erziehung und die gute Absicht des Pädagogen, statt auf rationale Argumente und Überprüfung zu setzten. Insofern ist für Osterwalder das Ende des Pestalozzi-Kults und des Pestalozzi-Mythos die Voraussetzung eines rationalen und demokratischen Umgangs mit Erziehung.

In der Rubrik

"Besprechungen"

bespricht Lucia Amberg Dagmar Schifferlis Biographie von Anna Pestalozzi-Schultheß (S. 23) 130, sieht in dieser Biographie zwar keine wissenschaftliche Publikation, aber ein populäres Buch, das sich bei allenSchwächen doch als Einstiegslektüre in die Zeit um 1800, in das Wirken Heinrich Pestalozzis und in die Situation der Frauen in jener Zeit eignet.

In der Rubrik

"Selbstanzeigen"

stellt Lucia Amberg den anläßlich des Pestalozzi-Gedenkjahrs erstellten Materialienkoffer für Schulen zum Thema Kindheiten vor 200 Jahren vor, der Materialien zu den Themen Spiele, Schule , Bilderwelten, Kinderarbeit und Bekleidungenthält (S. 24). Ursula Germann-Müller stellt ihre Studie "Mutter! Mittlerin zwischen deinem Kind und der Welt. Zu Pestalozzis Mutterbild" vor (S. 25) 131 und Hermann Horn seine Textsammlung "Pestalozzi - Der Mut des Demütigen. Worte zum Glauben, die u. a. nahelegen will, daß der christliche Glaube durchaus eine tragfähige Basis pädagogischer Existenz abgeben kann (S.25) 132. Außerdem wird das Erscheinen der zum Abschluß der kritischen Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken und Briefen fertiggestellten letzten beiden Bände der Werkreihe, des regulären Bandes 17B und des Nachtragsbands 29, angekündigt (S. 25).

Unter der Rubrik

"Dokumente"

legt Ivo Nezel den Beitrag "Der Stundenplan im Pestalozzi-Institut in Yverdon" (S. 26-32) vor. Zugleich ist dem Heft die Abbildung eines in Winterthur aufgefundenen Stundenplans "Eintheilung der Unterrichtsstun den aller Classen" im Format DIN A2 beigelegt, auf dem in schöner Kurrentschrift die zeitliche Gliederung einer sechstägigen Unterrichtswoche für sechs Schulklassen festgehalten ist. Aus diesem Dokument und anderen Quellen arbeitet Nezel die Besonderheiten der Yverdoner Unterrichtsorganisation heraus: mit knapp der Hälfte des Unterrichts dominieren die sprachlichen Fächer Deutsch und Französisch , zu denen ab der sechsten Klasse noch Latein hinzukommt, ca ein Viertel des Unterrichts entfällt auf Rechnen und Geometrie und die restlichen Unterrichtsstunden teilen sich - in dieser Reihenfolge - Singen, Zeichnen, Religion , Geographie, Geschichte und Naturgeschichte. Jeden Tag werden zwischen 6 und 20 Uhr zehn Unterrichtsstunden erteilt, Rechnen und Geometrie jeweils an lernphysiologisch günstigen Vormittagsstunden. Die meisten Fächer werden gleichzeitig in allen Klassen erteilt, um die Schüler in dem gemischten Klassen- und Kursunterricht in unterschiedliche Kursniveaus einstufen zu können. Außer den Mahlzeiten und kleinen Pausen ist nur die Zeit zwischen 15.30-17.00 Uhr unterrichtsfrei und zumeist gefüllt mit Spaziergängen, kleineren Ausflügen, Sport (Schwimmen, Schlittschuhlaufen), Turnen, Spiel und militärischen Übungen. Die Überforderung der Lehrer in Yverdon war offenkundig: ca. 50 Unterrichtsstunden wöchentlich, Tag und Nacht erzieherische Präsenz im lnternatsbetrieb, in der Regel Wohnen, Arbeiten und Schlafen mit den Schülern in den gleichen Zimmern und die Erwartung auf Mitarbeit an der Weiterentwicklung der Methode in dem sich als Versuchsschule verstehenden Internat.

Nezel schließt mit dem Verweis auf das Burnout-Syndrom und die in Yverdon deutlichen Burnout-Faktoren, in denen er eine weitere Erklärung für die ständigen Reibereien, Schwierigkeiten und das schließliche Auseinanderbrechen sieht.