Das Sittliche und das Andere. Johann Heinrich Pestalozzis Bild der Juden und „Zigeuner“.

Strasky, Severin

Bern, Stuttgart: Haupt 2006, 212 S.
(Neue Pestalozzi-Studien, Bd. 9)

In der Einleitung (Teil 1) formuliert Strasky die Thematik seiner Arbeit und beschreibt sein Erkenntnisinteresse. Die Aufklärung als ein vielschichtiges und komplexes Gebilde ist verbunden mit der Sehnsucht nach einem Aufbruch, nach einer kritischen Überprüfung des Bisherigen, sowohl in der Gesellschaft als auch in Wirtschaft, Politik, Philosophie, Ethik, Religion und Pädagogik. Auch Pestalozzi befasst sich intensiv mit Fragen einer idealen Gesellschaft und eines „neuen“ Bürgers. Die Aufklärung brachte aber ebenso neue Inklusions- und Exklusionsmuster hervor, was bei Pestalozzi am Beispiel von „Juden“ und „Zigeunern“ aufgezeigt wird. Es stellt sich die Frage, ob bei Pestalozzi Juden und Zigeuner rassistisch zu verstehen sind oder eher als rein ordnungspolitische Etikettierungen. Für seine Fragestellung sieht Strasky in der Quellen- und Literaturlage grosse Defizite: Pestalozzis Verhältnis zu Juden und Zigeunern wird in der umfangreichen Pestalozziliteratur nicht oder nur marginal angesprochen, ebenso ist das Thema Antisemitismus und Antiziganismus in der Zeit der Aufklärung im frühen 19. Jahrhundert in der Schweiz nur sehr mangelhaft erforscht. Strasky will die Frage beantworten, inwieweit Pestalozzis Haltung gegenüber Juden und Zigeunern mit seinen Äusserungen zu Erziehung, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zusammenhängen.

In Teil 2 „Rahmenbedingungen“ geht der Autor von einer Darstellung der Aufklärung im 18. Jahrhundert und den speziellen Ausprägungen der Schweizer Aufklärung aus und verortet darin Pestalozzis Leben und Werk, wobei Pestalozzi selbst zwischen einem Konzept der Innerlichkeit und einer mehr rationalen Sicht des Lernens schwankt, was sich in Pestalozzis „Methode“ und „Elementarbildung“ zeigt. Anfangs richtet sich bei ihm ein besonderer Fokus auf die Erziehung der Landbevölkerung mit dem Ziel einer verbesserten Agrarproduktion und weitet sich dann im Sinne einer „Volksaufklärung“ zunehmend auf die Gesamtheit der verarmten Unterschichten aus.

Nach theoretischen Vorüberlegungen zu Stereotypen, der Dichotomie von Inklusion und Exklusion und der Feststellung, dass zur Definition des Eigenen auch das Bild des Anderen gehört, kommt Strasky in Teil 3 zu Pestalozzis ambivalentem Blick auf das Judentum. Ausgehend von der Stellung des Juden als Bürger minderen Rechts in der alten Eidgenossenschaft bleiben die Juden auch in der Helvetischen Verfassung von 1798, die eine Emanzipation der Bewohner der Untertanengebiete brachte, von dieser Entwicklung ausgeschlossen und noch in der Bundesverfassung von 1848 bleiben die Rechte der Juden weithin beschränkt. In der Literatur wird im 18. Jahrhundert durchaus die Emanzipation der Juden angesprochen, z.B. in Ephraim Lessings Drama „Nathan der Weise“ (1779). Aber gegenläufige Stimmen werden ebenfalls laut, die Juden sollen zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft erzogen werden. Daneben kursieren eindeutig antijüdische Vorstellungen: Die Juden werden als schädliche Fremdkörper, als betrügerische Händler und Fremde gesehen, die nicht in die bürgerliche Welt zu integrieren seien.

In Pestalozzis Werk taucht an verschiedenen Stellen der betrügerische, ausbeuterische und eigennützige Jude auf, der mit dem Vorwurf des Wucherns und dem Streben nach Gewinn und Besitz verbunden wird. Der typische Beruf des Juden ist das Geldleihen und -verleihen, der Genuss des Reichtums, der betrügerische Viehhandel und es sind die sog. „Hofjuden“, die als negative Folie für Eigennutz, Luxus, Korruption und Kommerz stehen. Demgegenüber steht das republikanische Tugendkonzept, das auf die ökonomisch gesicherte Familie abhebt und Wohlstand und Eigentum auf die Existenzsicherung der Bürger reduziert. Besonders hebt Strasky die Fabel „Mauschelhofen“ (PSW XI, 181) hervor, in welcher die antijüdischen Stereotypen deutlich formuliert werden: Selbstsucht, Hartherzigkeit und Vorstellungen einer jüdischen Verschwörung, was sich schon im Begriff „mauscheln“ zeigt. In Pestalozzis Lehrmitteln und Sprachübungen finden sich ebenfalls antijüdische Stereotypen wie z.B.: „Arme Bauren akeren, reiche Juden schakkern (schachern) und unsere Hühner gakern“ (PSW XXV, 209). Selbst in Lienhard und Gertrud kommen antijüdische Stereotypen zum Tragen: So ermahnt Arner seinen Sohn, sich uneigennützig für das Wohl der Bevölkerung einzusetzen und sich nicht zu verhalten wie „unedelmüthige, unchristliche harte Judenleute“ (PSW III, 296). Es stellt sich die Frage, ob diese Aussagen als bewusster Antijudaismus zu verstehen sind, oder ob es nur ein unbewusster zeitspezifischer Sprachgebrauch ist, um mit einfacher Sprache volksnah und adressatengerecht zu schreiben? Auf der anderen Seite zeigt Pestalozzi grossen Respekt vor dem jüdischen Leben in Yverdon, in seinem dortigen Erziehungsinstitut waren auch jüdische Kinder untergebracht und einige jüdische Lehrer tätig. Er schätzt die jüdische Gesetzgebung und Armenversorgung, er verwendet keine rassistischen Argumente und bleibt letztlich verankert in einem traditionellen christlichen Antijudaismus.

In Teil 4 befasst sich Strasky mit Pestalozzis Blick auf die „Zigeuner“. In den Nachforschungen werden in den geschichtsphilosophischen Teilen unter Naturzustand Waldmenschen, Wilde und Zigeuner genannt und in den anthropologischen Teilen wird das Konzept „Zigeuner“ dem sittlichen Zustand gegenübergestellt, wobei aber keine bestimmte ethnische Gruppe gemeint ist, sondern auch einheimische Nichtsesshafte, Bettler, Wanderarbeiter und Diebesbanden gefasst werden. Zigeuner sind in diesem Zusammenhang eher der mythische Gegentypus des bürgerlichen Subjekts und figurieren damit als eine ordnungspolitische Kategorie. Strasky geht anhand von Pestalozzis Werk „Nachforschungen“ ausführlich auf die drei Zustände Naturzustand (unverdorbener und verdorbener), gesellschaftlicher Zustand und sittlicher Zustand ein und verortet darin Pestalozzis Vorstellungen der Zigeuner, diese werden als Symbol für das Weiterwirken des verdorbenen Naturzustands im gesellschaftlichen Zustand dargestellt und als Antithese zum sittlichen Zustand (S. 147). Zigeuner bezieht Pestalozzi nicht auf Roma, Sinti oder Jenische, sondern benutzt das Wort „Zigeuner“ als Etikett für Verwahrlosung, Verwilderung, Unordnung, Ausbeutung und Selbstsucht. Die Wohnstube und die ökonomisch gesicherte und auf christliche Innerlichkeit und innere Ruhe zentrierte Familie ist für Pestalozzi die Voraussetzung für Sittlichkeit, dem jede nichtsesshafte Lebensweise entgegensteht.

In Teil 5 arbeitet Strasky heraus, dass Juden und Zigeuner bei Pestalozzi als konstruktive Gegenbegriffe zu verstehen sind. Die eigene Selbstdefinition wird durch die negative Abgrenzung zum Anderen verstärkt. Das Fremde dient der eigenen Selbstbeschreibung, der Selbstdefinition. Zigeuner ist das Symbol für die in jedem Menschen vorhandene, durch Erziehung und Gesetzgebung disziplinierte „wilde Natur“ (S. 181). Der Zigeuner wird zur Projektionsfläche des Fremden im Eigenen, die Juden dienen damit der emotionalen Stabilisierung der eigenen Identität:

„Das negative Bild der Juden und der „Zigeuner“ dient als Kontrast zum eigenen Weltbild und damit als Stütze für die eigene Argumentation. Die negative Fremdkonstruktion dient der  Stabilisierung eigener Wertvorstellungen.“ (S. 183).

Im abschliessenden Teil 6 „Schlussbetrachtung und Ausblick“ kommt Strasky zu einem abgewogenen Gesamturteil. Danach findet sich bei Pestalozzi, trotz der häufigen Vergleiche und Konnotationen bei Pestalozzi keine ausgeprägte Judenfeindlichkeit und kein rassistisches Denken, eher ist es ein Zeichen des christlichen Antijudaismus, teilweise sind die antijüdischen Stereotypen nur im Rahmen des allgemeinen Sprachgebrauchs formuliert. Die Verbindung von Zigeunern, Waldmensch und Wilde symbolisiert eine unsittliche, triebhafte und undisziplinierte Lebensform und ist damit ein Symbol für die tierisch-sinnliche Natur des Menschen, für den verdorbenen Naturzustand. Letztlich symbolisieren sie das Gegenbild zu Pestalozzis christlich-republikanischem Tugendideal:

„Ins Bild des „Zigeuners“ wird die eigene, verborgene Natur projiziert, die nur mit grosser   Anstrengung, durch Erziehung und Disziplinierung, in Schranken gehalten werden kann –           unerwünschte Ich-Anteile werden externalisiert und im Bild des Anderen festgeschrieben.“ (S. 195).

 Zusammenfassend ist für diese beachtenswerte Veröffentlichung festzuhalten, dass Strasky ein in dieser Ausführlichkeit noch nicht behandeltes Thema der Pestalozziforschung in den Mittelpunkt stellt, das zuvor allenfalls nur punktuell angesprochen wurde: Pestalozzis Bild der Juden und Zigeuner. Der Autor bettet die zahlreichen Aussagen Pestalozzis, die in der Tat sein gesamtes Werk von der „Abendstunde“ (1780) bis zum „Schwanengesang“ (1826) durchziehen, gesamthaft in seine Veröffentlichung ein. Strasky kommt dabei nicht zu vorschnellen und einseitigen Urteilen, wonach Pestalozzi ein überzeugter Antisemit oder Zigeunerverächter sei. Er verortet Pestalozzi kontextuell den Auseinandersetzungen seiner Zeit, der Zeit um 1800, zeitlich weit entfernt von den Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts. Er lässt auch dem Gedanken Raum, dass die antijüdischen und antiziganistischen Aussagen eventuell nur gedankenloser Sprachgebrauch seien, um mit seinen Werken volksnah zu formulieren. Anhand ausführlicher Analysen zum Thema Juden und Zigeuner in der Aufklärung und speziell in der Schweizer Aufklärung wird aufgezeigt, dass Forderungen nach Gleichheit und Mündigkeit aller Bürger gleichzeitig die Exklusion von Menschen bedeutete, die sich nicht als nützliche und tugendsame Bürger in die Gesellschaft einfügten. Auf den ersten Blick ist der Titel des Buchs „Das Sittliche und das Andere“ schwer verständlich, aber bei der Lektüre wird deutlich, dass das negative Bild der Juden und Zigeuner, das „Andere“, zur Stabilisierung der eigenen Wertvorstellungen dient.

Bei der Lektüre dieser Veröffentlichung stellt sich die Frage, ob Strasky nicht zu nachsichtig mit Pestalozzis Aussagen zu Juden und Zigeunern umgeht. Zwar mag Straskys Feststellung zutreffen, dass Pestalozzi kein überzeugter Antisemit oder Zigeunerverächter ist, aber die dokumentierten fortlaufenden negativen Konnotationen von Juden und Zigeunern in Pestalozzis Werken legen doch eine durchgehend negative Sicht von Juden und Zigeunern nahe. Es fehlt in Straskys Veröffentlichung die Analyse, welchen Stellenwert die Aussagen zu Juden und Zigeunern in den einzelnen Werken Pestalozzis haben. Die recht pauschale Aussage, Pestalozzi wollte „volksnah“ schreiben, kann eine solche Analyse nicht ersetzen. Diese Analyse müsste beispielsweise bei dem Roman „Lienhard und Gertrud“ von 1781 aufzeigen, welchen Stellenwert die Aussagen zu Juden haben im Verhältnis zur Grundaussage, dass die Ausbeutung und Unterdrückung durch die Herrschenden, in diesem Fall keine Juden, sondern die einheimische Aristokratie und ihre Helfer, zu einer extremen Armut und Verwahrlosung der Unterschichten führen, oder auch die Intension aufzeigen, dass eine starke Frau wesentlich zur Verbesserung sozialer Missstände beitragen kann.

Ein Fehler sei angemerkt: Im Literaturverzeichnis (S. 201) und in der Anmerkung 15 (S. 23) wird als Bearbeiter der CD-ROM-Ausgabe von Pestalozzis Werken und Briefen fälschlicherweise Leonhard Froese genannt, aber neben Sylvia Springer war Leonhard Friedrich der Bearbeiter.

(Gerhard Kuhlemann)