Studien zur Pestalozzi-Rezeption im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts.

Hrsg.: Fritz-Peter Hager u. Daniel Tröhler. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 1995. 237 S.
(Neue Pestalozzi-Studien, Bd. 3).

Im dritten Band der Neuen Pestalozzi-Studien wird in zwei größeren Beiträgen auf die Rezeption Pestalozzis im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts eingegangen, wobei die beiden kleineren Staaten Bremen und das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach im Mittelpunkt stehen und die Wirkung Pestalozzis auf Preußen bewußt nicht thematisiert wird.

Renate Hinz, die 1991 eine umfangreiche Studie zum Einfluß Pestalozzis in der preußischen Reformzeit vorgelegt hat (Pestalozzi und Preußen. Zur Rezeption der Pestalozzischen Pädagogik in der preußischen Reformzeit (1806/07-1812/13). Frankfurt/Main: Haag + Herchen 1991. 495 S.), belegt in ihrem Text "Johann Heinrich Pestalozzi. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte in Bremen (1798-1813)" die Pestalozzi-Rezeption in Bremen in den Jahren 1798-1813 (S. 9-76) und geht nach einleitenden Bemerkungen zum Bremer Schulwesen zu Beginn des 19. Jahrhundert vor allem auf Positionen, Einstellungen und Wirkungen der Pädagogen und Theologen Wilhelm Christian Müller (1752-1831), Johann Ludwig Ewald (1747-1822) und Johann Caspar Häfeli (1754-1811), Jakob Blendermann (1783-1862), Betty Gleim (1781-1827) und Johann Friedrich Herbart (1776-1841) ein. In dem gründlich recherchierten Beitrag werden zahlreiche Archivmaterialien der Zentralbibliothek Zürich und des Staatsarchivs Bremen ausgewertet. Über das Lebensbild der genannten Pädagogen und Theologen hinaus werden deren Beziehungen zu Pestalozzi dokumentiert, einige hatten Pestalozzi in Burgdorf oder Yverdon besucht und/oder waren Korrespondenzpartner Pestalozzis, und deren teilweise heute nur noch schwer erreichbaren Schriften ausgewertet.

Im Mittelpunkt des Beitrags von Daniel Tröhler und Rebekka Horlacher "Die Professionalisierung des Weimarer Lehrerseminars in der Folge des Wiener Kongresses und im Kontext des Marktes pädagogischer Konzepte: Ein Reisebericht aus dem Jahre 1819 zu Pestalozzi, Fellenberg und Girard" (S. 77-175) steht ein kommentierter Reisebericht von Karl Friedrich Horn und K. H. Chr. Hergt im Sommer 1819 zu den Schweizer Erziehungsanstalten von Pestalozzi, Fellenberg und Girard. Die insgesamt 11 abgedruckten Dokumente aus dem Nachlaß Horn, neben dem eigentlichen Reisebericht (4. Dokument, S. 92-140) sind dies vor allem Dokumente zur Vorbereitung und Bewilligung der Reise und Briefe u.a. von Fellenberg und Niederer an Horn nach dessen Rückkehr nach Weimar, zeigen die Wirkung Pestalozzis in dem von Großherzog Carl August regierten Kleinstaat Sachsen-Weimar-Eisenach, der durch diesen zu einem Mittelpunkt des deutschen Kultur- und Geisteslebens gemacht worden war. Zugleich wirft der Reisebericht durch den Vergleich von Pestalozzis Erziehungsinstitut in Yverdon (und der Armenschule in Clindy) mit Fellenbergs Institut in Hofwyl (einmal der Erziehungsanstalt für höhere Stände und einmal der sog. Wehrlischule, der nach ihrem Lehrer Johann Jakob Wehrli benannten Armenschule) und der Lancasterschule in Fribourg, einer von dem Franziskaner Pater Gregor Girard gegründeten Erziehungs und Schulanstalt einen bezeichnenden Blick auf den Markt pädagogischer Konzepte und deren konkurrierende Bemühungen um öffentliche Beachtung. Die Transkription der von Tröhler und Horlacher durch Einführung, Textkritik und einen umfangreichen Anmerkungsapparat ausführlich kommentierten handschriftlichen Dokumente aus dem Hauptstaatsarchiv Weimar besorgte Ernst Martin.

Michel Soëtard geht in seinem Beitrag "Fröbel et Pestalozzi. Pédagogie de la Vie ou vie de la pédagogie?" (S. 177-190) dem Verhältnis Fröbels zu Pestalozzi nach und untersucht vor allem den Begriff des Lebens und den Zusammenhang von Leben und Pädagogik bei beiden Denkern, spricht auch die Bedeutung des Spiels an und die von beiden Pädagogen beschriebene Rolle der Mutter als Erzieherin und Lehrerin ihrer Kinder (la mère éducatrice).

Nicht unter den Titel des Sammelbandes ordnen sich die beiden Beiträge von Gerhard Kuhlemann. Im ersten Beitrag "Akzente in der Pestalozzi-Forschung: Leonhard Froese, 1924-1994" (S. 191-213) gibt der Autor ein Lebensbild des 1994 verstorbenen Erziehungswissenschaftlers und PestalozziForschers Leonhard Froese, der vor allem die deutsche PestalozziForschung anregte, schon früh (1963) pietistische Einflüsse auf Pestalozzi nachwies (Pestalozzi und der Pietismus. In: Pädagogische Rundschau 1963, S. 331-354) und rezeptionsgeschichtlich die Wende zur Erforschung des "historischen" Pestalozzi auf dem Marburger Pestalozzi-Symposion 1978 mit einleitete (Das Marburger Pestalozzi-Symposion vom 17.-19. Febr. 1978 ist in einem Doppelheft der Pädagogischen Rundschau dokumentiert: Heft 2/3, 1980, S. 77-214). Der Beitrag von Kuhlemann "Akzente in der Pestalozzi-Forschung: Leonhard Froese (1924-1994)" kann als Volltext aufgerufen werden.

Im zweiten Beitrag zeigt Kuhlemann in einer ausführlichen Besprechung der Volltextdatenbank "Johann Heinrich Pestalozzi. Werke und Briefe auf CD-ROM" (S. 215-237) die Möglichkeiten aber auch Grenzen dieses neuen Forschungsinstruments. Nach einleitenden Bemerkungen zum Stand der Edition von Pestalozzis Werken und Briefen und der Entwicklung der Informationstechnologie stellt der Autor die Konzeption dieser Volltextdatenbank vor und listet deren Informationsangebote auf: Personenregister, Vermittlerverzeichnis, das Verzeichnis der Briefempfänger und das der Subskribenten der CottaAusgabe, das Verzeichnis der geographischen und fiktiven Namen in Pestalozzis Werken, das biographische Quellenverzeichnis, die Worterläuterungen und die in der CD-ROM enthaltenen Abbildungen. An Beispielen geht der Autor auf die Recherche- und Anwendungsmöglichkeiten der CD-ROM ein: Indexsuche, Trunkierung, KWIC-Funktion, Ranking-Funktion, Hypertext-Verbindungen, Suche nach mehreren Begriffen in bestimmtem Textabstand und Clipboard. Der Autor sieht in dieser Volltext-CD-ROM ein einzigartiges Hilfsmittel zur Strukturierung und Verarbeitung der Fülle von Texten und zur Intensivierung der Pestalozzi-Forschung und fragt abschließend, ob es nicht doch möglich sei, neben dem sprachbereinigten auch den Originaltext recherchierbar zu machen und wie sich in Zukunft CD-ROM und Printausgabe zueinander verhalten sollten. Da CD-ROM, Kritische Gesamtausgabe und preiswerte Einzelausgaben unterschiedliche Nutzer und Nutzungserwartungen ansprechen, sind sie nach Meinung des Autors keine gegenseitige Konkurrenz, sondern eher gegenseitige Ergänzung und können gut nebeneinander bestehen.

In einer Besprechung dieses Sammelbands hebt Fritz Osterwalder (In: Zeitschrift für Pädagogik 5/1996, S. 787790) zunächst positiv hervor, daß sich der besprochene Band der Neuen PestalozziStudien den Anliegen der Wirkungs und Kontextforschung öffnen will. Den einzelnen Beiträgen des Sammelbands spricht er dann allerdings generell ab, an die Thesen der neueren Kontext und Wirkungsforschung anzuknüpfen. So übernehme Hinz unkritisch die Perspektive der von ihr vorgestellten Pestalozzianer, ohne deren Bedeutung für die Schulreform oder die Entwicklung der Pädagogik zu diskutieren oder deren Aussagen kontextuell zu hinterfragen. Der von Tröhler und Horlacher edierte Bericht des Weimarer Seminarleiters Karl Friedrich Horn über eine pädagogische Reise in die Schweiz 1819 belege deutlicher als es der Kommentar nahelegt, daß auch hier Pestalozzis Konzepte und seine Methode strikt abgelehnt werden, wenn auch zugleich "Pestalozzis Geist" beschworen wird als das pietistisch gefärbte Gegenkonzept zu jedem rationalen Unterrichtskonzept für die Volksschule. Soëtards Beitrag setze in seiner engen Perspektive sogar voraus, daß die Pestalozzische Pädagogik die eigentliche Begründung der Wissenschaftsdisziplin "Pädagogik" ausmacht, wobei Soëtard von dieser unzutreffenden Voraussetzung her nicht sehen könne, daß Fröbels idealistischphilosophische Konstruktion der Einheit des Lebens ebenso wirkungslos bleiben mußte wie Pestalozzis pietistischtheologische Konstruktion. Da Osterwalder nur die das 19. Jahrhundert betreffenden wirkungsgeschichtlichen Beiträge berücksichtigt, geht er in seiner Besprechung nicht auf die beiden sich dem Titel des Sammelbandes entziehenden Beiträge von Kuhlemann ein.