Rede auf Pestalozzi

Wilhelm Flitner

In: Flitner, Wilhelm: Gesammelte Schriften, Band 5, Hrsg. Erlinghagen, Karl et al., Paderborn 1985, S. 153 - 164
SW: Rede

Diese Rede wurde zum hundertsten Todestag von Pestalozzi geschrieben. Er meint, daß man gerade an Pestalozzis Werk spürt, wie stark das Geistige mit dem Persönlichen verwachsen ist, aus dem es hervorgeht. Er beschreibt ihn als sehr liebevollen Menschen, als Menschenfreund. Der Eindruck schwanke: eine liebenswerte Persönlichkeit , „aber wir wundern uns nicht, wenn ihn die Männer der Welt für ein Kind, die Unkundigen und die Feinde vielleicht sogar für einen Narren halten." Er sagt, daß die Legende einerseits recht hat und andererseits nicht. Sie beachtet nicht, daß Pestalozzi auch andere Kräfte hatte.. Er war zwar auch ein Sonderling, aber er wurde Mitglied der Zürcher Patrioten und zeigte dort Mut. Er konnte auch sehr zornig werden. Er versuchte als Landwirt zu leben. Insgesamt war es ein Leben voller Unglück Aber er hat in dem unglücklichen Leben zu sich selber hingefunden. (Er sieht die Grenzen seiner Natur.) Er söhnt sich mit dem eigenen Schicksal aus. Seine Methode ist zwar mangelhaft durchgearbeitet und viele seiner Versuche haben kein Ergebnis. Aber er hinterließ die Pestalozzische Bewegung, die nach Flitners Meinung ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Es kann nur in „der selbständigen Persönlichkeit ... der Zauber gelegen haben, der seine Versuche, Pläne und Gedanken so mobil machen konnte." Nur wenn jemand wie er sein Leben an seine Ideen wagt, horcht die Welt auf. Es ist noch heute Anlaß vorhanden, aufzuhorchen. Pestalozzi ist noch heute aktuell. Die Volksnöte, die er geschildert hat, sind noch heute vorhanden. Heute zeigt sich eine fortschreitende Zerstörung der Familie. (Das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben folgt ganz anderen Gesetzen als Pestalozzischer Menschenliebe.) „Wir werden zugeben, daß es gar nichts Gegensätzlicheres geben kann als die Gesetze dieser Welt des Erfolgs, der Wirtschaft, des Staates, der Polizei und Justiz und jenes Gesetz der Liebe. Aber trotzdem ergeht an uns die Aufforderung, das Gesetz der Liebe nicht beiseite zu schieben, sondern in den Kampf dieser beiden Gegner sollen wir uns hineinmischen..." Pestalozzis Botschaft verlangt das Ernstnehmen des sozialpädagogischen Gedankens, auch in der Vorbeugung. Pestalozzi richtet an die Lehrer eine verwandte Mahnung: Erziehung nicht nur für das Fortkommen, sondern eine „Erziehung zum höheren, zum wiedergewonnenen Kindersinn." Pestalozzi machte zwei Entdeckungen. Die erste ist die folgende: „Wenn nach Pestalozzi die höchste Menschlichkeit darin beruht, daß wir einander als Menschen ertragen und einander versorgen in brüderlichem Geist, dann ist diese höchste Menschlichkeit jedermann zu erreichen von Natur möglich."(S. 163). Die zweite Entdeckung: „Wenn doch jedermann bei guter Regierung, Leitung, Erziehung, Arbeitsordnung, Sitte in jene höchste Menschlichkeit, in die Würde der sittlichen und beseelten Gemeinschaft hineingeführt werden kann, so ist in der Jugend, besonders im kleinen Kind, der ganze innere Vorrat aufzusuchen, aus dem die höchsten Kräfte der Menschheit erweckt werden können."(S. 164).

(FR)