Aus tiefem Verständnis für die Frau. Kommentar zu Pestalozzis Werk "Über Gesetzgebung und Kindermord" von 1783.

Maria Moser

In: und Kinder. Dez. 1996, S. 7-21.

Maria Moser sieht in der Tatsache, daß Pestalozzis Werk "Über Gesetzgebung und Kindermord" bis heute so wenig Beachtung findet, den Beleg einer männerdominierten Pestalozzi-Forschung und zugleich einen Beleg für die Vergangenheit einer männerdominierten Gesellschaft. Mit der Aufklärung gerät das noch weitgehend mittelalterlich geprägte Rechtswesen in einen Umbruch, es wird auf breiter Ebene eine Milderung des Strafrechts gefordert mit weitgehender Abschaffung der Todesstrafe, dem Verzicht auf verstümmelnde Leibesstrafen, dem Verzicht auf Strafen bei bloßem Verdacht und der Forderung nach einer strikten Trennung zwischen Vergehen an der Gesellschaft (strafwürdig) und persönlichem Verschulden (nicht strafwürdig). Allein die Bestrafung der Kindsmörderinnen bleibt wenig verändert. Die ledige Mutter gerät in eine hoffnungslose Situation: von der Gesellschaft geächtet, ohne Arbeitsstelle und von hohen Geldstrafen wegen "Unzucht" vor der Ehe bedroht, läßt ihre ökonomische Situation weder das Aufziehen eines Kindes noch eine Heirat mit dem Kindesvater (hohe Heiratsgebühren und Heiratsverbote) zu. In diesen Lebensumständen ist kein Platz für ein unerwünschtes Kind, im Verdecken der Schwangerschaft und dem Töten des Neugeborenen sehen Frauen oft den einzigen Ausweg.

Die Autorin legt zuerst Pestalozzis Motivation zum Abfassen der Schrift offen: Gesetzgebung sollte nicht nur grausam bestrafen, sondern vielmehr zur Verhütung von Verbrechen und zur Verwirklichung des Guten im Menschen beitragen. Pestalozzi stellt sich dabei ganz auf die Seite der Frau, denn die Mutter, die ihr Kind umbringt, tötet nur aus Verzweiflung. Er betrachtet nicht die Frauen, sondern die Männer als Verführer. Pestalozzi bleibt zwar einem traditionellen Frauenbild verhaftet, das Aufziehen der Kinder ist die naturgegebene Verantwortung der Mutter, wird aber zum Verteidiger der partnerlosen Mutter, denn die Mutter, die ihr Kind tötet, tut es gegen ihre Natur, sie ist das Opfer einer unmenschlichen und unnatürlichen Rechtssituation. Pestalozzi sieht das Problem nicht auf der individuellen Ebene: die unehelich Schwangere muß zusammen mit ihrem Kind die Möglichkeit erhalten, ohne Makel und ungestraft in der bürgerlichen Welt integriert zu leben, da jede Gesellschaft die drei Grundbedürfnisse "Essen, Ehre und das andere Geschlecht" erfüllen muß. Das von Pestalozzi formulierte Naturrecht auf Ausleben der Sexualität wirkt modern, die Erwartung auf väterliche und einsichtige Regenten zur Veränderung der Gesetzgebung und der gesellschaftlichen Situation der unehelich Schwangeren dagegen illusionär und politisch rückwärtsgewandt.

Die Autorin fühlt sich von Pestalozzis doppeltem Anliegen beeindruckt: jedes Leben - ehelich oder unehelich gezeugt - ist wertvoll und vom Staat zu schützen und Kindsmord resultiert nicht aus dem Bösen der weiblichen Natur, sondern aus den gesellschaftlich geschaffenen Umständen. In Mosers Aufsatz spürt man die Betroffenheit von Pestalozzis Schrift, deren Aussagen und Argumentationslinien die Autorin vorstellt. Am Schluß des Beitrags wird als ihr zentrales Anliegen sichtbar, zur Verbesserung der Situation der heute schwangeren Frauen beitragen zu wollen. Der staatliche Beistand bei familiären, sozialen und materiellen Problemen von schwangeren Frauen ist aus der Sicht er Autorin in der heutigen Schweiz noch immer unzureichend.