Bildung durch Liebe? Pestalozzis Suche nach dem Wesen des Menschen.

Michael Göhlich

In: Anthropologisches Denken in der Pädagogik 1750-1850. Hrsg. v. Christoph Wulf. Weinheim: Deutscher Studien Verl. 1996, S. 131-164 (Päd. Anthropologie, Bd. 2).

Der Beitrag von Michael Göhlich ist Teil eines Sammelbands, der den Zusammenhang zwischen Pädagogik und Anthropologie in den Jahren 1750 bis 1850 untersucht und damit einen Beitrag zum Verständnis der Entstehung der modernen Pädagogik, der Anthropologie und des Wechselverhältnisses zwischen beiden Bereichen leisten will. Hierzu werden Werke und Aussagen von Rousseau, Campe, Kant, Goethe, Pestalozzi, Humboldt, Herbart und Schleiermacher untersucht, die im Umfeld der Französischen Revolution den Prozeß des Übergangs von der Standeserziehung zur allgemeinen Menschenbildung förderten und damit maßgeblich an der Entstehung des modernen pädagogischen Denkens beteiligt sind (so Christoph Wulf in der Einleitung, S. 7-14).

Göhlich geht bei Pestalozzi der Frage nach, welche Funktion die Anthropologie für seine Pädagogik und sein Bildungskonzept hat und sieht im pestalozzischen Ansatz moderne Aspekte. Pestalozzi hält die permanente Selbstreflexion des pädagogisch Tätigen lebenslang durch, wobei vor allem "Abendstunde", "Nachforschungen" und "Lenzburger Rede" als Belegtexte verwendet werden. Anthropologie dient danach bei Pestalozzi als Bindeglied zwischen dem eigenen Selbst und dem realen und konkreten pädagogischen Handeln, sie ist jeweils eng an die eigene Person gebunden und die Frage "Was ist der Mensch?" kann bei Pestalozzi selbstreflexiv mit der Frage "Wer bin ich?" übersetzt werden. Im einzelnen grenzt Göhlich Pestalozzis anthropologische Grundlegung von den Positionen Kants und Rousseaus ab, setzt sich mit den Aussagen zum "politischen" Pestalozzi (Barth, Rang, Krause-Vilmar) und mit den psychobiographischen Deutungen Pestalozzis auseinander.

Für Göhlich ist bei Pestalozzi der Kern des menschlichen Wesens und damit zugleich Weg und Ziel der Menschenbildung die Liebe, wobei er die Konzeption der "sehenden" Lieben aus der Neujahrsrede von 1809 meint, da die dort ausgeführte begriffliche Nähe von Liebe, Sittlichkeit und Elementarbildung sich für den Zusammenhang von Anthropologie und Pädagogik besonders anbietet. Pestalozzi gelingt es, Liebe und Sittlichkeit mit intellektueller und physischer Bildung zu verknüpfen und mit seinem Konzept der sehenden Lieben auch Liebe und Selbsterkenntnis zusammenzuführen. Empirisch ist Liebe zunächst Sorge und Fürsorge und metaphysisch Gotteskindschaft. Sehende Liebe dagegen ist reflektierte Liebe und schließt suchende und selbstkritische Aufklärung mit ein. Über den Begriff der Liebe vernetzen sich intellektuelle, physische und sittliche Bildung: ohne Liebe können sich weder die physischen noch die intellektuellen Kräfte des Kindes naturgemäß ausbilden.