"Das Kot der Welt, in welches ich mich vertieft...". Pestalozzi als autobiographischer Denker.

Günther Bittner

In: Zeitschrift für Pädagogik 3/1997, S. 357-373.

Günther Bittner führt Pestalozzi als einen im Kern "autobiographischen" Denker vor, der in der Analyse des eigenen Lebens sich des Allgemein-Menschlichen vergewissern will. Nicht nur die explizit autobiographische Schrift "Schwanengesang", sondern auch der "Stanser Brief", die "Abendstunde" und vor allem die "Nachforschungen" müssen als Texte der Besinnung über das eigene Leben gelesen werden. Am Ende seiner Kindheits- und Jugendjahre mit hochfliegenden Idealen und ihrem "Traumsinn" (Jugend im Traum, S. 361-362), entwickelt Pestalozzi in der "Abendstunde" erstmals einen neuen Reflexionstypus: aus dem Konkreten des eigenen Lebens in einer Art Selbstanalyse das Menschlich-Allgemeine "hervorzugraben". Noch deutlicher wird dieser Reflexionstypus am Ende der langen Resignationsphase (Zwanzig Jahre Melancholie, S. 362-366) in den "Nachforschungen": Pestalozzi gewinnt seine Lebenskraft zurück als er sein Scheitern nicht mehr als ausschließlich ökonomisches mißversteht. In den "Nachforschungen" will Pestalozzi sein Ich, seinem Gewordensein, seinem Scheitern und seiner zukünftigen Lebensperspektive auf die Spur kommen, auch wenn nur die Einleitungs- und Schlußpassagen offen autobiographische Zusammenhänge ansprechen. Mit dem "Stanser Brief" beginnt Pestalozzis eigentlich pädagogische Spätphase und gelingt zugleich die Überwindung der Melancholie (Die pädagogische Spätphase, S. 366-370). Das unbewußte Geschehen drückt Pestalozzi dabei in einer religiösen Sprache aus, "Gott" und "das Unbewußte" fallen bei ihm zumeist zusammen. Der Unfall von Cossonay, bei dem Pestalozzi im Herbst 1804 unter die Hufe eines Pferdegespanns gerät, wird von Bittner als Pestalozzis konkrete Erfahrung von der Wiederkehr seiner verlorenen Kraft herausgestellt, denn die Errettung bei diesem Unfall wird für Pestalozzi geradezu zu einem "Bekehrungserlebnis".

Nach Bittner wird an Pestalozzi exemplarisch deutlich, daß pädagogische Ideen und pädagogische Schöpfungen nicht nur aus dem Kontext geschichtlicher Entwicklungen heraus entstehen, sondern immer auch Ertrag eines individuellen Lebens sind. Indem die neuere Pestalozzi-Rezeption (Oelkers, Osterwalder u.a.) Pestalozzis Originalität bezweifelt, indem sie nachweist, daß sämtliche Gedanken Pestalozzis im ausgehenden 18. Jahrhundert auch anderswo anzutreffen sind, übersehen sie den großen Denker menschlicher Selbsterfahrung und -reflexion, den man in eine Reihe mit Augustinus, Luther und Freud stellen könne. Pestalozzis bleibende pädagogische Bedeutung liegt darin, "daß er in einer neuen, in seiner Sprache gesagt hat: So bin ich, so ist der Mensch" (S. 371). Daher müssen Pestalozzis Texte allesamt zugleich als systematische Aussagen und als autobiographische Reflexionen gelesen werden.