Die Situation des offenen Anfangs der Erziehung, mit Seitenblicken auf Pestalozzi und Makarenko.

Wolfgang Sünkel

In: Im Blick auf Erziehung. Reden und Aufsätze. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1994, S. 97-110. Der Beitrag von Sünkel ist ursprünglich 1989 als Vortrag auf der Emeritierungsfeier des Erziehungswissenschaftlers Leonhard Froese an der Philipps-Universität Marburg/Lahn gehalten worden und Froese gewidmet erstmals als "Essay" in der Zeitschrift für Pädagogik 3/1990, S. 297-307 veröffentlicht.

Wolfgang Sünkel geht es in seinem Beitrag nicht um einen umfassenden Vergleich von Pestalozzi und Makarenko, sondern um die Ähnlichkeit der beiden Erziehern vorgegebenen Problematik eines pädagogischen Neuanfangs, für Pestalozzi 1799 in Stans und für Makarenko 1920 in Poltava. Die strukturelle Ähnlichkeit in beiden Situationen kennzeichnet Sünkel als das Problem des offenen Anfangs in der Erziehung. Da aber der absolute Anfang der Erziehung die Geburt ist, kann es sich hier jeweils nur um einen relativen oder ergänzenden bzw. korrigierenden (Neu-)Anfang handeln. Eine mehr ergänzende Situation ist beispielsweise der Schuleintritt, eine mehr korrektive Situation ergibt sich oft aus den Folgen familiärer Brüche, drohender Verwahrlosung oder Straftaten von Kindern oder Jugendlichen. Sünkel fragt, ob es gemeinsame überindividuelle Strukturen im Problemgehalt solcher Neuanfänge gibt. Die extremste denkbare Situation eines korrektiven Anfangs von Erziehung ist in der pädagogischen Literatur zweimal beschrieben, im Stanser Brief und im Pädagogischen Poem. Aber das Waisenhaus in Stans und die Gorki-Kolonie in Poltava unterscheiden sich epochal, regional und vom Alter der Zöglinge, bei Pestalozzi 6-14jährige, bei Makarenko um 18 Jahre alte Jugendliche. Aber auch Parallelen finden sich: Revolution und Bürgerkrieg als Hintergrund für die Verwahrlosung der Zöglinge und als "Nötigung" zum Erziehungsversuch. Für die Situation des Anfangs fällt dabei weniger ins Gewicht, daß die beiden Erzieher im Lebensalter sehr unterschiedlich sind, unterschiedliche Hilfen und Ausstattung beim Anfang haben und sich beide Erziehungsversuche unterschiedlich lange ausdehnen: viereinhalb Monate in Stans und acht Jahre in der Gorki-Kolonie. Stärker fällt für die Analyse ins Gewicht, daß die beiden Haupterzieher zugleich die Autoren der Berichte über ihre Erziehungsversuche sind. Beide Autoren schreiben keine wissenschaftlich orientierten Verlaufsprotokolle, sondern liefern literarische Darstellungen, fiktionale Texte. Pestalozzi übertreibt im Stanser Brief seine Unbeholfenheit und reflektiert mehr als er berichtet. Makarenko übertreibt im Pädagogischen Poem seine Kunstfertigkeit und trennt gleichzeitiges in ein kapitelweises Nacheinander. Beide haben dabei ihre literarischen Stilisierungen unter pädagogischen Gesichtspunkten gestaltet. Beide müssen sie sich sowohl auf Erzieher- als auch auf Zöglingsseite der Offenheit einer Anfangssituation stellen und beide lösen die Problematik des offenen Anfangs durch allseitige Besorgung und primär auf einer vor- bzw. unpädagogischen Ebene, sogar durch Maßnahmen körperlicher Züchtigung. Während Makarenko reale Prozeßstrukturen in seinem Bericht beschreiben kann, sind es bei Pestalozzi fiktive Erörterungen von Prozeßstrukturen, die beschreiben, wie sich alles bei längerer Dauer des Versuchs hätte ergeben können.

Eine Theorie der Situation des offenen Anfangs der Erziehung kann Sünkel zwar nicht vorlegen, aber er sieht als Ergebnis, daß in Situationen des offenen Anfangs die Zusammenhänge situativer und prozessualer Strukturen deutlicher hervortreten als in allen anderen Formen pädagogischer Situationen. Der essayistische Charakter des Beitrags, der seine ursprüngliche Vortragsfassung behalten hat, läßt Sünkel auf Belege und Zitate für seine Aussagen vezichten und setzt beim Leser zumindest die Kenntnis des Stanser Briefs und des Pädagogischen Poems voraus.