J. H. Pestalozzi - L. Natorp - W. v. Türk. Ein Beitrag zur Pestalozzi-Rezeption in Preußen.

Wolfgang Rocksch

In: Pädagogik und Schulalltag 1/1996, S. 119-132.

In einem dreiteiligen Beitrag gibt Wolfgang Rocksch zuerst eine geraffte Lebensskizze Pestalozzis und einen Abriß der Pestalozzi-Rezeption in Deutschland und speziell in Preußen von den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts bis zum Ende der Reformphase 1815 und endgültig in den Jahren 1819/20. Der Einfluß von Nicolovius und Süvern, aber auch von Stein, Fichte und Humboldt auf die Bildungsreform wird kurz angesprochen und auch die Unterrichts- und Erziehungsanstalten von Plamann und Zeller in den Abriß einbezogen. In diesem Überblick werden nur die bekannten und tradierten Linien der Pestalozzi-Rezeption sichtbar und keine Auseinandersetzung mit den neueren Rezeptionspositionen (u.a. Hinz, Oelkers, Osterwalder, Stübig) geleistet.

Im zweiten Teil des Beitrags wird die Position und das Einwirken von Natorp und im dritten Teil der Anteil Türks auf die Reform des Unterrichts und des Schulwesens in Preußen herausgearbeitet. Natorp war Schulrat der kurmärkischen Regierung in Potsdam und Mitglied der Berliner Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts und sah im Ausbau der Lehrerbildung den entscheidenden Hebel zur Hebung der Volksbildung. Türk, schon 1804 als Besucher bei Pestalozzi in Münchenbuchsee und von 1808-1811 Lehrer und Erzieher in Yverdon, wurde 1815 Regierungs- und Schulrat der neumärkischen Regierung in Frankfurt/Oder und folgte 1817 Natorp in Potsdam und Berlin nach. In dieser Position führte Türk die Reformvorhaben Natorps weiter und gab vor allem der Lehrerbildung entscheidende Impulse. Sehr bald mußte er aber die Grenzen seiner Wirkungsmöglichkeiten erkennen, denn die sich durchsetzende Restauration wollte auch bei der Bildungsteilhabe die ständischen Privilegien absichern. Volksbildung sollte nun nicht mehr die allgemeine Bildung und Emanzipation der Menschen anstreben, sondern nur noch das Notwendige und Nützliche für ein Leben in wirtschaftlicher Abhängigkeit und politischer Unmündigkeit vermitteln.

Bei Natorp und Türk wird exemplarisch deutlich, daß es bei der preußischen Pestalozzi-Rezeption nicht allein um den Einsatz und die Anwendung der "Methode" geht, sondern um eine Aufnahme der von Pestalozzi ausgehenden Impulse zur Anhebung der Volksbildung im Rahmen einer politischen Reform- und Modernisierungsbemühung. Das Scheitern der Pestalozzischen Methode und der zurückgehende Einfluß der Pestalozzianer auf die Entwicklung in Preußen ist weniger ein Beleg für Pestalozzis Bedeutungs- oder Wirkungslosigkeit, sondern stärker noch Folge einer Restauration, die hinter die anfänglichen Reformziele zurückgehend die ständischen und feudalen Strukturen sowohl auf politischer Ebene als auch im Bildungsbereich wiederherzustellen suchte.