Jenseits der Konfessionen? Zur Christlichkeit des älteren Pestalozzi.

Peter Stadler

In: Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans R. Guggisberg. Hrsg. v. Michael Erbe, Hans Füglister, Katharina Furrer et al. Mannheim: Palatium Verl. 1996, S. 423-440.

Stadler setzt sich nach Wernle (Pestalozzi und die Religion. Tübingen: Mohr 1927. 196 S.) und Hoffmann (Die Religion im Leben und Denken Pestalozzis. Bern: Lang 1944. 71 S.) ein weiteres Mal mit Pestalozzis Religiosität auseinander, weil die nunmehr abgeschlossene Kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe Pestalozzis doch einige Ergänzungen insbesondere zu den Positionen des späteren Pestalozzi nahelegt.

Zuerst gibt Stadler einen chronologisch und biographisch bestimmten Abriß von Pestalozzis Christlichkeit: stark geprägt von seiner auf den Pfarrerberuf ausgerichteten Schulbildung und den pietistischen Einflüssen seiner Umgebung wird Religion Teil seines sprachlichen Instrumentariums und Teil seiner aufklärerischen Religiosität, die sich weitgehend aus den konfessionellen Bindungen löst. Später setzt Pestalozzi große Hoffnungen in einen sich erneuernden Katholizismus eines Wessenberg, da er zwar die intoleranten und reaktionären Seiten der katholischen Konfession kennt, aber das Verhängnis der alten Eidgenossenschaft doch eher in der prostestantischen Ethik und des sich daraus entwickelnden kapitalistischen Geistes und autokratischen Herrschaftssystems sieht. Als Wessenberg kirchenpolitisch ins Abseits gerät und sich danach die geistliche Reaktion mit der politischen verbindet, ist dies in der Tat nicht zum Besten des Volksschulwesens oder der Anliegen Pestalozzis, obwohl er in Burgdorf und Yverdon inmitten der protestantischen Umgebung immer auch um den Religionsunterricht seiner katholischen Schüler bemüht bleibt.

Im zweiten Teil macht Stadler Pestalozzis weiteren Weg deutlich: dieser biegt verschiedentlich biblische Sprachbilder zum eigenen persönlichen Bedarf zurecht und faßt zunehmend seine eigene Botschaft religiös auf. Die Methode gewinnt danach den Charakter einer heiligen Schrift und Jesus Christus wird zum erzieherischen Heilsbringer. Dieses Ineinander von Göttlichem und Irdischem, von Ewigem und Zeitlichem, von Geistigem und Sinnlichen ist aber nicht allein auf Pestalozzi beschränkt, es ist als Denkform durchaus Teil der Religiosität der Goethezeit, der Pestalozzi bei allem Bekenntnis zum niederen Volk und zur Armenerziehung bildungs- und herkunftsmäßig eben doch zugehörte. In seinem Beitrag kommt Stadler zu dem Schluß, daß eine Haltung jenseits der Konfessionen für Pestalozzi kein Problem war, da ihn die dogmatischen Fragen ohnehin nie interessierten. Was Pestalozzi aber von einem selbstgefälligen Protestantismus fernhielt, mußte ihn zwangsläufig auch vom "ultramontanen" Katholizismus des fortschreitenden 19. Jahrhunderts distanzieren. Christentum war für Pestalozzi zuallererst eine lebendige Quelle sittlicher Impulse und die Erziehungsverkündigung wurde bei ihm zur eigentlichen Konfession. In den Leiden und Rückschlägen seines eigenen Lebens beschreibt er sich selbst als eine Art göttlichen Dulders und am Ende seines Lebens hat er der naturgemäßen Erziehung, so wie er sie verstand, gar "die Einmaligkeit einer ihm allein zu verdankenden, göttlich durchwirkten Verheißung" zugesprochen (S. 440).