Klassiker der Heilpädagogik in pestalozzianischer Tradition. Ein Beitrag zum 250. Geburtstag von Johann Heinrich Pestalozzi.

Urs Haeberlin

In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 1/1996, S. 1-14.

Urs Haeberlin sieht in den Schweizer Heilpädagogen Hanselmann und Moor zwei "Klassiker der Heilpädagogik" in pestalozzianischer Tradition, da bei ihnen Pestalozzis ganzheitliche Sichtweise des Menschen mit dem Postulat von Kopf, Herz und Hand, also von Denken, Fühlen und Handeln zur Grundfigur ihres heilpädagogischen Denkens geworden sei. Ausgehend von Pestalozzis Denkfigur der drei Zustände: Naturzustand (unverdorbener tierischer und verdorbener tierischer Zustand), gesellschaftlicher und sittlicher Zustand reflektiert Haeberlin den Zusammenhang zwischen den individuellen Bedürfnissen und den Möglichkeiten ihrer Befriedigung in den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Pestalozzi thematisiert das Dilemma jeder Erziehung zwischen dem individuellen Anspruch des Kindes auf eigene Gefühle und Bedürfnisse und dem gesellschaftlichen Anspruch der Erziehung auf Anpassung, Funktionalität und äußere Ordnung, das immer nur in einer möglichst gerechten, d.h. demokratischen Gesellschaftsform zu einem Ausgleich geführt werden kann. Deshalb sind für Pestalozzis pädagogisches Denken vor allem seine gesellschafts- und sozialkritischen Schriften grundlegend, deren Stellenwert für die Pädagogik allerdings erst spät, d.h. in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts, neu entdeckt wurde.

Hanselmann war 1924 zum Leiter des ersten heilpädagogischen Ausbildungsinstituts in der Schweiz berufen worden und erhielt 1931 die erste europäische Professur für Heilpädagogik an der Universität Zürich. Hanselmann sieht wie Pestalozzi den erzieherischen Grundwiderspruch zwischen der Utopie der Ganzheitlichkeit des Individuums und der Realität ihres Verlustes unter dem Druck von gesellschaftlicher Funktionalität und lohnabhängiger Arbeit. Zu der mit Kopf, Herz und Hand gemeinten Ganzheit von Gefühl, Verstand und Handeln gehört für Hanselmann der harmonische Rhythmus zwischen Aufnehmen (Wahrnehmen, Empfinden), Verarbeiten (Denken, Fühlen) und Ausgeben (Ausdrücken, Handeln). Die Ganzheitlichkeit ist für Hanselmann dadurch anthropologisch begründet, daß zwischen Reiz und Reaktion die Verarbeitung und damit die Planung der Reaktion liegt. Der Mensch ist ein Verarbeitungswesen, und das Kind ist auf Erziehung und Bildung zur Entwicklung seines Verarbeitungsapparates angewiesen. Heilpädagogik ist dabei eine spezielle Pädagogik, die sich mit den Erschwerungen der Erziehung befassen muß: Aufnahme-, Verarbeitungs- und Ausgabeschädigungen. Hanselmann orientiert sich an den gleichen Grundwerten wie Pestalozzi: ideologische Offenheit, Ganzheitlichkeit, Religiosität, politische Freiheit und Gemeinschaft, wobei Religiosität nicht konfessionelles Bekenntnis meint, sondern die Suche und Sehnsucht nach vollkommener Ganzheit.

Moor folgte Hanselmann und Pestalozzi in dem wertorientierten Entwicklungs- und Erziehungsziel der Ganzheitlichkeit, verlagert Moralität und Religiosität aber auf die Sollens-Ebene und entwickelt mit seinem Topos vom "Inneren Halt" das Ziel pädagogisch beeinflußter Entwicklung. Ganzheitlichkeit heißt bei Moor die Gleichwertigkeit von Verstand und Gefühl: mit dem Verstand gestaltet der Mensch sein Leben, und mit dem Gefühl empfängt er den Sinn und den Inhalt für sein verstandesmäßiges Handeln. Ganzheitliche Erziehung meint die Einheit zwischen pädagogischem Zugriff und pädagogischer Zurückhaltung. Hanselmann und Moor waren mit ihrem Bezug auf pestalozzische Denkfiguren lange Zeit die führenden Vertreter der deutschsprachigen Heilpädagogik, bis 1972 Ulrich Bleidick mit seinem Buch "Pädagogik der Behinderten" den Übergang zu einer empirisch orientierten Heilpädagogik markiert: für Bleidick sind Hanselmann und Moor Vertreter einer biologistisch determinierten Anthropologie, die nicht interessiere, was ist, sondern was sein soll und deren auf Pestalozzi zurückgehende anthropologische Grundlegung wissenschaftlich unbrauchbar sei.
Demgegenüber vertritt Haeberlin ein Konzept, das in der Heilpädagogik den Anspruch auf empirische Forschung mit einer Verpflichtung gegenüber Werten in der Praxis erschwerter Erziehung verbindet. Der Aspekt der pädagogischen Zurückhaltung ist dabei ein wichtiges Korrektiv gegenüber einem aufklärerischen Machbarkeitsdenken in der Pädagogik. Heilpädagogik brauche eine wertorientierte Grundlegung, muß sich dabei aber an den Standards empirischer Forschung orientieren und ihre forschungsleitenden Wertentscheidungen offenlegen. Eine so verstandene Heilpädagogik wird immer wieder auf Pestalozzi, Hanselmann und Moor zurückkommen können.

Haeberlins Aufsatz ist weniger ein Beitrag zur Pestalozzi-Forschung als zu dem an Hanselmann und Moor diskutierten Selbstverständnis der Heilpädagogik und der Frage, ob diese eine Wertorientierung brauche oder nicht. Dabei greift Haeberlin auf Pestalozzi als den historischen Referenzautor für Hanselmann, Moor und seine eigene Position zurück. Das Literaturvereichnis bestätigt dies, es enthält zwar die wichtigsten Veröffentlichungen von Hanselmann und Moor, auch Veröffentlichungen von Bleidick und Haeberlin, enthält aber keinen Titel der Pestalozzi-Forschung oder -Rezeption.